damit verbundenen Innovationen und neuen Technologien.
Auch müsse der nicht immer in Mark und Pfennig kalkulierbare in- tangible Nutzen berücksichtigt wer- den. Gesundheitspolitische Ziele könnten bei Anwendung neuer Ver- fahren in der Regel mit größerer Si- cherheit oder geringeren Nebenwir- kungen erbracht werden, oder bisher nicht erreichbare Ziele könnten mit Hilfe neuer Verfahren erfolgreich an- gegangen werden – mithin auch wich- tige politisch erwägenswerte Optio- nen, die den Grenznutzen des Fort- schrittes umfassen.
In jedem Fall müsse es Anliegen der Politik und der Leistungserbrin- ger sein, eine Zwei-Klassen-Medizin zu vermeiden und Ausweichreaktio- nen über „graue Märkte“ zu unterbin- den. Keinesfalls dürften eindeutig medizinisch notwendige Leistungen wegen des Ressourcenmangels ver- weigert oder ab einer bestimmten Al- tersgrenze ausgeschlossen werden (Negativbeispiel: England).
Eine drohende Zwei-Klassen- medizin sei der stärkste Verstoß ge- gen das Gerechtigkeits- und Gleich- heitsprinzip. Dies ließe sich auch nicht mit noch so hohem bürokrati- schem Aufwand, einer immer größer werdenden Regelungsdichte und zentral verordneten Vorgaben (Stan- dards, Richtwerte, Budgets) vermei- den. Vielmehr seien ebenso medizi- nisch wie ökonomisch und ethisch fundierte Richtwerte notwendig – unter Beachtung einer objektiven Analyse des Status quo. Ein gesund- heitspolitisches Umdenken sei bei al- len Beteiligten notwendig – sowohl bei den Kostenträgern, den Lei- stungserbringern als auch den Versi- cherten und vor allem bei der Sozial- gerichtsbarkeit. Die Krankenkassen sollten sich darauf beschränken, aus- schließlich effiziente und notwendige Leistungen zu gewähren. Die Lei- stungserbringer müßten neben der kurativen Medizin auch präventive und aufklärerische Maßnahmen in den Vordergrund rücken. Die Sozial- gerichte sollten das Leistungsrecht restriktiver als bisher auslegen. Die Politiker müßten sich von der Illu- sion freimachen, eine Rundum-Ver- sicherung sei weiterhin finanzier-
bar. Dr. Harald Clade
A-82
P O L I T I K AKTUELL
(14) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 3, 17. Januar 1997
„Gerade in Zeiten knapper Mit- tel muß sich die ärztliche Verantwor- tung gegenüber Benachteiligten in der Gesellschaft bewähren“, appel- lierte Dr. med. Ellis Huber, Präsident der Ärztekammer Berlin, an die Teil- nehmer des 2. Kongresses „Armut und Gesundheit“, den die Kammer Ende letzten Jahres in Berlin ausrich- tete. Die dritte Stufe der Gesundheits- reform sei ein Schritt hin zur Privati- sierung der Gesundheitsleistungen und führe letztlich in die Zwei-Klas- sen-Medizin. Die gesundheitliche Dienstleistung, so Huber, solle schein- bar als profitabler Wirtschaftsfaktor ausgebaut werden. Deshalb sei eine Reanimation des gemeinschaftlichen Denkens im Gesundheitswesen drin- gend erforderlich. Diesem Ziel diene auch der Kongreß. Dort standen die gesundheitliche Situation Obdachlo- ser sowie die steigende Kinderarmut mit ihren negativen Auswirkungen auf die Gesundheit im Vordergrund.
Armut und Krankheit
— ein Teufelskreis
Nach aktuellen Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Woh- nungslosenhilfe waren in Deutsch- land 1996 knapp 930 000 Menschen obdachlos. Ein wachsender Teil von ihnen lebe ständig auf der Straße. Käl- te, Nässe, Gewalt und vielfach auch Alkoholabusus verschlechterten den Gesundheitszustand der Betroffe- nen nachhaltig. Einer Untersuchung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zufolge leiden die Obdach- losen vor allem an Herz- und Kreis- lauferkrankungen, Hautkrankheiten, Krankheiten der Atmungsorgane, In- fektionen sowie Schürf-, Schnitt- und Verbrennungswunden. Hinzu kämen vielfach schwere psychische Proble- me. Scham und Schwellenängste führ- ten häufig dazu, daß Obdachlose kei- ne Arztpraxis aufsuchten, so derMainzer Arzt Dr. med. Gerhard Tra- bert. Deshalb seien niederschwellige Angebote der medizinischen Versor- gung Obdachloser dringend nötig. In der gegenwärtigen gesundheitspoliti- schen Situation sei es jedoch fraglich, ob die Versorgung von sozialen Rand- gruppen weiterhin gewährleistet wer- den könne (dazu DÄ, Heft 11/1995).
Mehr Junge betroffen
Wie der Bielefelder Soziologe Dr.Andreas Klocke ausführte, ist ein neuer Aspekt der Armutssituation in Deutschland, daß immer mehr junge Menschen davon betroffen sind. Jeder fünfte bis siebte Jugendliche lebe mittlerweile in Armut. Ursachen hier- für lägen in der Massenarbeitslosig- keit, der Zunahme von alleinerzie- henden Elternteilen sowie der finan- ziell unzureichenden Situation kin- derreicher Familien. Das wirke sich sowohl auf die psychische und emo- tionale Befindlichkeit der Kinder als auch auf ihr Gesundheitsverhalten aus. Wie eine Untersuchung des Wis- senschaftszentrums Berlin ergab, ist das Gesundheitsverhalten von Kin- dern deutlich schichtabhängig. Bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien ist demzufolge eine regel- mäßige Ernährung nicht gesichert, und sie unterscheiden sich von Gleichaltrigen durch einen wesentlich schlechteren Impfstatus. Außerdem konsumierten sie wesentlich häufiger Zigaretten, Alkohol und Medikamen- te. Die betroffenen Kinder litten zu- dem häufiger an sozialen und psycho- somatischen Störungen. Nach Ansicht der Kongreßteilnehmer können nur langfristige politische Lösungen hier Abhilfe schaffen. Auf lange Sicht könnten so auch die Ausgaben im Ge- sundheitswesen gesenkt werden. Ein Sozialstaat müsse sich daran messen lassen, wie er Tendenzen sozialer Ent- solidarisierung entgegenwirke. HK