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Archiv "Seelische Gesundheit von Kindern" (17.11.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DAS EDITORIAL

Seelische Gesundheit von Kindern

Helmut Remschmidt

1. Seelische Gesundheit

und psychosoziale Entwicklung

Seelische Gesundheit im Kindesalter und psychosoziale Entwicklung sind eng miteinander verknüpft. Gefährdungen der psychosozialen Entwicklung sind häufig zugleich Gefährdungen der seelischen und meist auch der körperlichen Gesundheit. In der Bundesrepublik machen Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr rund 25 Prozent der Bevölkerung aus. Nach den Ergebnissen verschiedener epidemiologischer Studien müssen 7 bis 15 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen als psychisch auffällig oder krank angesehen werden. Absolut behandlungs- bedürftig sind rund fünf Prozent. Diese „Be- handlungsquote" ist jedoch nirgendwo erreicht.

Selbst in relativ gut versorgten Regionen der Bundesrepublik variiert die Behandlungsquote zwischen zwei und vier Prozent. Insofern kann von einer angemessenen kinder- und jugendpsy- chiatrischen Versorgung nicht die Rede sein.

Was die Häufigkeit behandelter Störungen betrifft, so stehen mit rund 17 Prozent spezielle Symptome und Syndrome (zum Beispiel Stam- meln und Stottern, Anorexia nervosa, Tics, Schlafstörungen, Enuresis, Enkopresis usw.) an der Spitze, gefolgt von emotionalen Störungen des Kindes- und Jugendalters (rund 16 Prozent), von Störungen des Sozialverhaltens (rund 13 Prozent), von Psychosen (rund 7 Prozent), Neu- rosen (rund 6 Prozent), dem hyperkinetischen Syndrom (etwa 3 Prozent) und einer Reihe sel- tenerer Störungen.

2. Ursachen von Störungen der seelischen Gesundheit

In den letzten Jahren hat sich im Hinblick auf diese Frage eine dynamische Betrachtungs- weise durchgesetzt, die davon ausgeht, daß das Wechselspiel verschiedener Faktoren für die Entstehung psychischer Störungen und Erkran- kungen in Betracht gezogen werden muß. Unter ihnen spielen gravierende Lebensereignisse, aber ebenso Risikofaktoren (viele Lebensereig- nisse sind solche, aber auch Vorschädigungen gehören dazu) und protektive Faktoren eine wichtige Rolle. So können anhaltende Streitig- keiten der Eltern, Trennung und Scheidung, Kindesmißhandlung, körperliche Erkrankung oder Verletzungen des Selbstwertgefühls die seelische Gesundheit von Kindern gefährden.

Weitere Risikofaktoren sind: geringer Bildungs- grad der Eltern, perinatale Komplikationen, Entwicklungsverzögerungen, genetische An- omalien des Kindes oder psychopathologische Auffälligkeiten der Eltern.

Jedoch führen nicht alle aufgezählten Ein- flüsse zu negativen Auswirkungen, weil sich Kinder auch mit Gefährdungen aktiv auseinan- dersetzen können. Sie entwickeln hierzu soge- nannte Coping- oder Bewältigungsmechanis- men. Diesem Aspekt ist in den letzten Jahren unter dem Stichwort „protektive Faktoren"

vermehrte Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. Unter protektiven Faktoren versteht man günstige Einflüsse, die die Manifestation ei- ner Erkrankung verzögern, abmildern oder ver- Dt. Ärztebl. 85, Heft 46, 17. November 1988 (49) A-3249

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hindern können. Protektive Faktoren können sich in bestimmten Eigenschaften des Kindes äu- ßern oder auch durch die Umgebung „bereitge- stellt" werden. Soweit sie das Kind betreffen, haben sich als bedeutsam erwiesen: Status des Erstgeborenen, hohe Aktivität als Säugling, po- sitives Sozialverhalten, Fähigkeit zur Selbsthilfe, gute Kommunikation mit Gleichaltrigen, früh- zeitig ausgeprägte Interessen sowie Selbstkon- trolle und positives Selbstkonzept. Als wichtige protektive Faktoren seitens der Umgebung sind von Bedeutung: emotionale Zuwendung, eine frühzeitig sich positiv entwickelnde Eltern-Kind- Beziehung, Vorhandensein einer weiteren Be- ziehungsperson außer der Mutter, Vorhanden- sein annähernd gleichaltriger Kinder, geregelter Haushalt, Zusammenhalt der Familie sowie Hil- fe und Rat bei Bedarf.

Protektive Faktoren wirken sich häufig in Interaktionsprozessen aus, ihr Vorhandensein wird oft aber erst zeitlich später sichtbar, wenn eine entsprechende Belastungssituation auftritt.

So zeigen Kinder, die auf eine Krankenhausbe- handlung vorbereitet werden, weniger Angstre- aktionen. Andererseits sind zum Beispiel Säug- linge vor schädigenden Einwirkungen bestimm- ter Ereignisse dadurch geschützt, daß sie noch nicht die kognitiven und emotionalen Voraus- setzungen haben, um ein schädigendes Ereignis als bedrohlich zu empfinden.

3. Präventionsmaßnahmen, Therapie sowie kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung

Um seelische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen erst gar nicht entstehen zu las- sen, sollte die Prävention intensiviert werden.

Etwas vereinfacht lassen sich Präventionsmaß- nahmen auf allen Altersstufen unter zwei Ge- sichtspunkten sehen:

■ Reduktion von Risikofaktoren (beim Kind, in der Familie und in der Umgebung) und

■ Förderung von Bewältigungsstrategien (beim Kind, seinen Eltern und seiner weiteren Umgebung).

Bei der Verhinderung oder Milderung psy- chischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen spielt insbesondere die Prävention im Vorschul- und Schulalter eine wesentliche Rolle.

Eine der effizientesten Präventionsmaßnah- men wäre es, genügend Fach- und Betreuungs- kräfte für seelisch Kranke oder gefährdete Kin-

der bereitzustellen. Doch spezialisiertes und gut ausgebildetes Personal ist noch knapp.

Für die Bundesrepublik bestehen beispiels- weise erhebliche Defizite, was die Zahl der Kin- der- und Jugendpsychiater betrifft. Der derzeiti- gen Zahl von etwa 300 tätigen Gebietsärzten steht ein Bedarf von mindestens 600 bis 700 ge- genüber. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie verfügt derzeit über 450 Mitglieder, von denen bei weitem nicht alle Ge- bietsärzte sind. Es besteht ein eklatanter Man- gel an niedergelassenen Kinder- und Jugend- psychiatern. Ende 1987 gab es nur 110 niederge- lassene Kinder- und Jugendpsychiater, von de- nen jedoch 65 zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen waren.

Der Bedarf an frei praktizierenden Kinder- und Jugendpsychiatern liegt dagegen minde- stens bei 300. Für das Defizit ist die geringe Zahl der Weiterbildungsstellen sowie die Gebühren- ordnung verantwortlich, die trotz der Aufwer- tung der zuwendungsintensiven Leistungen spe- ziell die zeitaufwendigen Leistungen des nieder- gelassenen Kinder- und Jugendpsychiaters im- mer noch nicht genügend honoriert.

Die wichtigsten Defizite im Hinblick auf ei- ne angemessene Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sind folgende:

■ Zu geringe Zahl gut ausgebildeter Kin- der- und Jugendpsychiater, vor allem in der Pra- xis. Diese Situation ließe sich durch eine Erwei- terung der Weiterbildungsstellen verbessern;

■ regional sehr ungleiche Verteilung der Beratungs- und Behandlungszentren für psy- chisch kranke und behinderte Kinder und Jugendliche;

■ unzureichendes Angebot ambulanter und teilstationärer Behandlungsmöglichkeiten;

■ unzureichendes psychotherapeutisches Angebot, welches besonders im Hinblick auf be- währte und wissenschaftlich untersuchte Be- handlungsmethoden erweitert werden müßte.

Hier ist auch besonders darauf zu achten, daß unerprobte Außenseitermethoden nicht geför- dert werden;

■ eklatantes Defizit in der kinder- und ju- gendpsychiatrischen Forschung. Denn nur durch Forschung und Neuentwicklung wird es möglich sein, angemessen zu untersuchen und effektiv zu behandeln.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt Klinik und Poliklinik

für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität

Hans-Sachs-Straße 6 3550 Marburg A-3250 (50) Dt. Ärztebl. 85, Heft 46, 17. November 1988

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