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Archiv "Adoleszenz – seelische Gesundheit und psychische Krankheit" (21.06.2013)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 25

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21. Juni 2013 423

M E D I Z I N

EDITORIAL

Adoleszenz – seelische Gesundheit und psychische Krankheit

Helmut Remschmidt

Editorial zu den Beiträgen:

„Hirnentwicklung in der Adoleszenz – Neurowissen-

schaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase“

von Konrad et al.

und

„Erwachsenwerden ist schwer – Psychische Störungen in der Adoleszenz“ von Herpertz-Dahlmann et al.

auf den folgenden Seiten

von ab, feste Altersmarken anzugeben; vielmehr geht man dazu über, die obere Grenze nach sozialen Kri- terien zu definieren (4).

Veränderungen in der Adoleszenz

Nahezu alle Organe und körperlichen Funktionen unterliegen im Verlauf der Adoleszenz erheblichen Wandlungen. Dies bezieht sich auf Körpergröße, Ge- wicht, Wachstumsgeschwindigkeit, die Veränderun- gen der körperlichen Proportionen, funktionelle und morphologische Veränderungen der Organsysteme, die vermehrte Ausschüttung nahezu aller Hormone und als Folge dieser Prozesse auf die äußeren Merk- male der sexuellen Reifung.

Die psychologischen Veränderungen erstrecken sich insbesondere auf die Entstehung neuer kogniti- ver Strukturen (Fähigkeit zum abstrakten Denken), die Entwicklung der Introspektionsfähigkeit, die Entstehung moralischer Werthaltungen und Normen sowie die Bewältigung der alterstypischen Entwick- lungsaufgaben, auf die im Beitrag von Herpertz- Dahlmann et al. (2) Bezug genommen wird.

Krisen und psychische Störungen

Es ist naheliegend, dass junge Menschen, die sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der pro Zeit- einheit so umfangreiche Veränderungen stattfinden, auch anfällig für psychische Störungen sind (5, 6).

Dies gilt aber allenfalls für 15–20 % der Adoles- zenten, während die übrigen, wenn auch nicht ohne gewisse Beeinträchtigungen, ihren Weg in das Er- wachsenenalter konsequent fortsetzen. Im Hinblick auf die Manifestation psychischer Störungen ist die Hirnentwicklung von zentraler Bedeutung. Diese wird in dem Artikel von Konrad et al. (1) ausführlich dargestellt. Die wichtigste Erkenntnis ist die, dass sich die verschiedenen Strukturen des Gehirns ge- stuft und in unterschiedlichen Reifungsgeschwindig- keiten entwickeln. Dadurch entsteht eine verhaltens- relevante Diskrepanz: Die früher reifenden und stär- ker ausgeprägten subkortikalen Strukturen – insbe- sondere das limbische System und das Belohnungs- system – steuern emotionale Reaktionen, die infolge der Reifungsdissoziation in der Adoleszenz noch ei- ner unzureichenden Kontrolle durch den später rei- fenden präfrontalen Kortex unterliegen.

Diese von Casey et al. (7) formulierte Ungleichge- wichtshypothese ist geeignet, verschiedene adoles-

A

ls Adoleszenz wird die Lebensphase bezeich- net, die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter markiert. In dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts widmen sich zwei Beiträge den psychischen Störungen in der Adoleszenz, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungsper- spektive (1, 2).

Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, die durch die biologischen und physiologischen Verän- derungen gekennzeichnet ist. Diese Phase geht ein- her mit der körperlichen und sexuellen Reifung.

Biologisch gesehen umfasst die Adoleszenz die Gesamtheit der somatischen und psychischen Verän- derungen, die sich am augenfälligsten in der körper- lichen Entwicklung und der sexuellen Reifung zei- gen.

Psychologisch betrachtet schließt sie die Gesamt- heit der individuellen Vorgänge ein, die mit dem Er- leben, der Auseinandersetzung und der Bewältigung der somatischen Veränderungen sowie den sozialen Reaktionen auf diese verbunden sind.

Aus soziologischer Sicht lässt sich Adoleszenz als Zwischenstadium definieren, in dem die Jugendli- chen mit der Pubertät die biologische Geschlechts- reife erreicht haben, ohne jedoch in den Besitz der allgemeinen Rechte und Pflichten gekommen zu sein, die eine verantwortliche Teilnahme an wesent- lichen Grundprozessen der Gesellschaft ermöglichen und erzwingen (3).

In zeitlicher Hinsicht umfasst Adoleszenz die Al- tersphase vom 12. beziehungsweise 13. bis zum 20.

respektive 24. Lebensjahr.

Aus rechtlicher Perspektive bedeutet Adoleszenz eine Zunahme von Teilmündigkeiten, das heißt Straf- mündigkeit mit 14 Jahren, Ehemündigkeit auf An- trag mit 16 Jahren, Volljährigkeit mit 18 Jahren, En- de der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht mit 21 Jahren.

Die zeitlichen Grenzen sind bezüglich aller ge- nannten Kriterien sowohl nach unten als nach oben unscharf. Während sich die untere Grenze mit dem Einzug der Menarche beziehungsweise der ersten Ejakulation sowie durch die körperlichen Verände- rungen noch einigermaßen präzise bestimmen lässt, ist die obere Grenze äußerst variabel und unterliegt weitaus stärkeren gesellschaftlichen Einflüssen. An- gesicht der erheblichen Variabilität der oberen Gren- ze der Adoleszenzphase kommt man immer mehr da-

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg:

Prof. Dr. med. Dr. phil.

Remschmidt

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zenztypische Reaktions- und Verhaltensweisen zu er- klären, wie etwa

das ausgeprägte Risikoverhalten im Bezug auf Alkohol- und Drogenkonsum, im Straßenver- kehr sowie bei Sexualkontakten

die Zunahme emotionaler Störungen und affek- tiver Erkrankungen

das leichte Hineingeraten in tätliche Auseinan- dersetzungen.

Zur Umstrukturierung des Gehirns leisten auch die in ihrer Konzentration ansteigenden gonadalen Steroidhormone einen wesentlichen Beitrag.

Alle diese Veränderungen, die stets auch in Wech- selwirkung mit Umweltfaktoren betrachtet werden müssen, tragen dazu bei, dass sich in der Adoleszenz vermehrt bestimmte Störungsmuster etablieren: Bei Mädchen eher introversive Störungen und Essstörun- gen, bei Jungen eher extroversive Störungen wie Störungen des Sozialverhaltens, zuweilen auch Kri- minalität. Die wichtigsten dieser Störungen werden im Beitrag von Herpertz-Dahlmann et al. (2) be- schrieben.

Rechtliche Implikationen

Aufgrund des beschriebenen und in vielen Studien be- stätigten erhöhten Risikoverhaltens bei Heranwach- senden (18- bis 21-Jährige) kommt es auch häufig zu Straftaten, wobei die Täter vor Gericht entweder nach allgemeinem Strafrecht oder gemäß § 105 JGG nach Jugendstrafrecht behandelt werden können. Die neue- ren Erkenntnisse zur Hirnentwicklung zeigen, dass man nicht davon ausgehen kann, dass ein junger Mensch mit dem 21. Lebensjahr den Entwicklungs- stand eines erwachsenen Menschen bereits erreicht hat. Vielmehr ist aufgrund der unterschiedlichen Rei- fungsgeschwindigkeiten verschiedener Hirnregionen (7) anzunehmen, dass die früher ausgereiften subkor- tikalen Areale bei Heranwachsenen noch nicht hinrei- chend der Kontrolle der stammesgeschichtlich jünge- ren kortikalen Areale unterliegen. Diese beherbergen unter anderem die exekutiven Funktionen, die für Pla- nung, Vorausschau und Abwägung von Entschei- dungsprozessen verantwortlich sind.

Daraus leitet sich die Forderung ab, heranwach- sende Straftäter generell nach Jugendstrafrecht und nicht nach allgemeinem Strafrecht zu behandeln.

Demgemäß wäre das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. 12. 1988 (8) zu revidieren, wonach Heran- wachsende nur dann nach Jugendstrafrecht zu beur- teilen sind, wenn „noch in größerem Umfang Ent- wicklungskräfte wirksam sind“. Sie sind bei Heran- wachsenden immer noch wirksam.

2. Herpertz-Dahlmann B, Bühren K, Remschmidt H: Growing up is hard—mental disorders in adolescence. Dtsch Arztebl Int 2013;

110(25): 432–40.

3. Neidhardt F: Bezugspunkte einer soziologischen Theorie der Ju- gend. In: Neidhardt F, Bergeus T, Brocher D, et al. (eds): Jugend im Spektrum der Wissenschaften. Beiträge zur Theorie des Ju- gendalters. München: Juventa 1970.

4. Remschmidt H: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart: Thieme 1992.

5. Fegert JM, Streck-Fischer A, Freyberger HJ:

Adoleszentenpsychiatrie. Stuttgart: Schattauer 2009.

6. Remschmidt H: Psychiatrie der Adoleszenz. Stuttgart: Thieme 1992.

7. Casey BJ, Jones RM, Hare TA: The adolescence brain. Annals of the New York Academy of Sciences 2008; 1124: 11–26.

8. Bundesgerichtshof (BGH): Urteil vom 6.12.1988, 1 stR 620/88, BGHSt 36,38.

Anschrift für die Verfasser

Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität, Marburg

Schützenstraße 49 35039 Marburg

remschm@med.uni-marburg.de

Englischer Titel:

Mental health and psychological illness in adolescence

Zitierweise

Remschmidt H: Mental health and psychological illness in adolescence.

Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 423–4. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0423

@

The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt-international.de Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

LITERATUR

1. Konrad K, Firk C, Uhlhaas PJ: Brain development during adoles cence: neuroscientific insights into this developmental period. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 425–31.

Referenzen

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