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Archiv "Der suizidale alte Mensch" (07.12.1989)

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(1)

oder Jugendlichen sehr ernst genom- men werden, Vorhaltungen, Ermah- nungen und Vorwürfe sollten ver- mieden werden. Familiengespräche sind zur Stabilisierung des unmittel- baren sozialen Umfeldes notwendig, gelegentlich auch zum Abbau etwai- ger Eltern-Kind-Konflikte. Grup- pentherapien wurden vor einigen Jahren favorisiert, um den Jugendli- chen das Gefühl der Isolation zu nehmen und um soziale Kontakte anzubahnen. Dennoch sollte die Empfehlung für solche Gruppenthe- rapien, die natürlich nur von erfah- renen Arzten geleitet werden dür- fen, nur nach reiflicher Überlegung ausgesprochen werden. Zu groß ist die Gefahr des Modell-Lernens und der Konfliktvermehrung.

Grundlage der therapeutischen Maßnahmen sollte immer eine kin- der- und jugendpsychiatrische Dia- gnostik sein, die mehrdimensional ausgerichtet ist und den psychischen Befund, den körperlich-neurologi- schen Status, den Entwicklungs- stand, das intellektuelle Niveau so- wie die soziale Situation umfaßt.

Muß das suizidale Risiko als hoch eingeschätzt werden, so ist eine Kli- nikeinweisung unumgänglich Auch, wenn bei unter 18jährigen im allge- meinen die Zustimmung der Eltern am wichtigsten ist, sollte doch auch mit den jugendlichen Patienten ein Einvernehmen erzielt werden. Nur selten wird wohl ein vormundschaft- licher Beschluß nach § 1626 Abs. 2 BGB notwendig sein.

Wenn auf eine stationäre Be- handlung verzichtet wird, müssen weitere ambulante Termine fest ver- abredet werden. Die Grundlage der weiteren Behandlung ist, daß eine tragfähige therapeutische Beziehung entsteht. Nach Möglichkeit sollte mit dem Patienten ein Pakt, ein „non- suicid-Vertrag", geschlossen werden.

Erscheint der Patient nicht zu einem vereinbarten Termin, muß gehandelt werden. Der Einsatz von Psycho- pharmaka sollte wohlüberlegt und nur mit klarer Indikation geschehen.

Zu bedenken ist, daß bis zum Wir- kungseintritt potenter Antidepressi- va nicht nur Tage, sondern manch- mal Wochen vergehen können, daß aber auch die Verfügbarkeit dieser Medikamente eine Versuchung zu

einer erneuten suizidalen Handlung bieten kann.

8. Forschungsdefizit

Es besteht ein großes For- schungsdefizit im Bereich des sui- zidalen Verhaltens Kinder und Jugendlicher. Die Forschungsansät- ze müssen jedoch umfassend und auf die Besonderheiten dieser Alters- gruppe abgestimmt sein. Von verein- fachenden Feldstudien ist keine rele- vante neue Information zu erwarten.

Auch in diesem Zusammenhang stellt die in der Bundesrepublik Deutschland unzureichende kinder- und jugendpsychiatrische Versor- gung ein großes Problem dar. Da- durch werden viele kinder- und ju- gendpsychiatrische Erkrankungen

Bernhard Brön

W

ährend bei jungen Men- schen Suizidversuche über- wiegen, kommt es im höhe- ren und hohen Lebensalter häufiger zu vollendeten Suiziden. Die absolu- te Zahl der Suizide liegt zwischen 40 und 60 Jahren am höchsten (Abbil- dung 1). Mit zunehmendem Lebens- alter läßt sich, bezogen auf die jewei- lige Altersgruppe, ein deutlicher An- stieg der Suizidhäufigkeit, vor allem bei Männern, erkennen (Abbildung 2). Sie weist auf die große Bedeu- tung der mit dieser Lebensphase ver- bundenen Konflikte und Belastun- gen sowie den Schweregrad depressi- ver Erkrankungen hin.

Es ist zu erwarten, daß die jähr- liche Suizidrate alter Menschen bis

nicht erkannt und dem Stand der Wissenschaft entsprechend behan- delt. Als Nahziel ist anzustreben, daß jedenfalls in Regionen mit einer ausreichenden kinder- und jugend- psychiatrischen Versorgung Kinder und Jugendliche nach einem Suizid- versuch regelmäßig einem Kinder- und Jugendpsychiater vorgestellt werden.

Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordem über die Verfasser.

Anschrift für die Verfasser

Prof. Dr. med. Gerhardt Nissen Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Würzburg Füchsleinstraße 15 8700 Würzburg

zum Jahre 2000 um die Hälfte an- steigt, wenn die Bevölkerungspro- gnosen über die Zunahme der Alten- population zutreffen (1).

1. Der Alterssuizid und die Rolle

des alten Menschen in der Gesellschaft

Alten Menschen ist zu allen Zei- ten und in allen Kulturen eine unter- schiedliche Rolle und Funktion zu-

Abteilung für Psychiatrie (Vorsteher:

Prof. Dr. med. Eckart Rüther) der Georg- August-Universität Göttingen

Der suizidale alte Mensch

Die hohe Zahl von Suiziden im höheren und hohen Lebensalter läßt nach ihren kausalen und motivationalen Zusammenhängen sowie nach therapeutischen Konsequenzen fragen. Als häufigste Motive erweisen sich Partnerkonflikte, soziale Isolierung und Einsamkeit, körperliche Krankheiten sowie Konflikte mit Angehörigen. Endogene Depressionen werden oft nicht rechtzeitig erkannt und nicht konsequent behandelt.

Eine angemessene Therapie siiizidaler alter Menschen kann nur mög-

lich sein, wenn ihre gesamte Lebenssituation berücksichtigt wird.

(2)

gemessen worden. Auffallend ist, daß sich oft konträre Tendenzen nebeneinander beobachten lassen, einerseits Achtung und Verehrung, andererseits Distanzierung und Aus- stoßung (6). Auch in unserer Gesell- schaft lassen sich beide Tendenzen erkennen.

Sterbefälle durch Suizid und Selbstbeschädigung im Jahr 1986 in der Bundesrepublik Deutschland

Die Bedeutung der suizidhem- menden Wirkung sozialer Normen läßt bei alten Menschen deutlich nach. Die Öffentlichkeit nimmt Sui- zidhandlungen alter Menschen, vor allem bei Männern, seltener und mit geringerem Interesse zur Kenntnis als bei jüngeren Menschen. Sozio- kulturelle Einflüsse wirken sich sui- zidfördernd aus (2).

Sterbefälle in absoluten

Zahlen 1300 1200 1100 1000 900 800 700- 600 500 400 300 200 tOO

,

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• --Männer

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Es nimmt in der heutigen Zeit eine eher tolerante oder bejahende Einstellung zum selbstbestimmten Tod zu (3). Diese Entwicklung ge- winnt unter ökonomischen Aspekten angesichtsder von der Umwelt "allzu oft leider nur ungern getragenen Ver- antwortung" (2) für den leidenden und pflegebedürftigen alten Men- schen besonders bedenkliche und be- sorgniserregende Dimensionen.

1- 5

5- 10- 15- 20- 25- 30- 35- 40- 45- 50- 55- 60- 65- 70- 75- 80- 85- 90+ 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 ·so 85 90

2. Eigene

Untersuchungen

Wir untersuchten die suizidale Symptomatik bei 155 über 60jährigen Patienten, die wegen einer endoge-

Abbildung l

nen (ED), neurotischen (ND), reak- tiven (RD) oder anderweitig nicht klassifizierbaren Depression (NKD) psychiatrisch behandelt wurden (Ta- belle).

Jeder vierte Patient hatte einmal oder mehrfach Suizidhandlungen nach dem 60. Lebensjahr unternom- men. Auffallend häufig waren vor al- lem Männer schon relativ kurz nach der Suizidhandlung in psychiatrische Behandlung gekommen. Die Kon- stellation der Suizidversuche ließ oft eine Rettung möglich erscheinen.

SterbeiAlle durch Suizid und Selbstbeschadlgung Im Jahr 1986 pro 100.000 Menschen der jeweiligen Altersgruppe ln der Bundesrepublik Deutschland

Sterbefälle pro 100.000

100

90 80 70 60 50 40 30 20 10

1- 5

Abbildung 2

- G e samt

• - - • Männer

•······• Frauen

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5- 10- 15- 20- 25- 30- 35- 40- 45- 50- 55- 60- 65- 70- 75- 80- 85- 90+

10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 Altersgruppen

A-3796 (48) Dt. Ärztebl. 86, Heft 49, 7. Dezember 1989

Al1ersgruppen

Keineswegs war immer von einem mißglückten Suizid, also einem dezi-

diert~n Todeswunsch, auszugehen.

Uber die Hälfte der endogen und fast ein Drittel der neurotisch- reaktiv depressiven Patienten spra- chen bei der Untersuchung offen über Suizidgedanken (Abbildung 3). In der Gruppe der endogenen De- pressionen ergab sich jetzt eine signi- fikante Erhöhung (p < 0.01).

Harte Methoden, zu denen vor allem Schnitt-, Stich- und Schuß- verletzungen, Erhängungsversuche, Sturz aus der Höhe usw. zählten, wa- ren bei endogenen Depressionen am häufigsten nachzuweisen (Abbildung 4). Auch bei neurotisch-reaktiven Depressionen zeigte sich im Alter im Vergleich zu früheren Jahren ein Ansteigen harter gegenüber weichen Methoden (vor allem Intoxikationen und leichte Schnittverletzungen).

Die Suizidintentionen ließen un- terschiedliche Zusammenhänge er- kennen (Abbildung 5). Die Intention

"Appell und Hilfe" stand bei neuro- tisch-reaktiven Depressionen an der Spitze, während bei endogenen De- pressionen der "Todeswunsch" über- wog. Die gesamte Analyse der Sui- zidhandlungen zeigte, daß sich bei endogenen Depressionen beide In- tentionen häufig überschneiden, also auch appellative Momente zu erken- nen sind, die oft nicht ausreichend wahrgenommen werden. t>

(3)

Tabelle: Klassifikation der Depressionen nach ICD 9 Klassifikations-

Nr.

Patienten- zahl

155 100,0 endogene Depression (ED)

neurotische Depression (ND) reaktive Depression (RD) anderweitig nicht klassifizier- bare Depression (NKD)

97 62,6 5,2 30,3

3 1,9

296.1/296.3 300.4 309.0/309.1

311

8 47

Abbildung 4

Durchführung des Suizidversuchs

ED = endogene Depression ( n = 97 )

ND + RD = neurotische u. reaktive Depression ( n = 55 ) Abbildung 3

Vor allem bei neurotisch-reaktiv depressiven Patienten ließ sich ein breites Spektrum von Motiven und Anlässen nachweisen, die zu den Suizidversuchen geführt oder auslö- send gewirkt hatten (Abbildung 6). In der Reihenfolge der Häufigkeit erga- ben sich: 1. Partnerkonflikte, 2. so- ziale Isolierung und Einsamkeit, 3.

körperliche Krankheiten, 4. Konflik- te mit Angehörigen, insbesondere Kindern. Hinzu kamen Konflikte im sexuellen Bereich und soziale Mobi- lität. Berufliche Probleme spielten im Unterschied zu früheren Jahren jetzt keine relevante Rolle.

Bisher kompensierte chronische Partnerkonflikte wurden oft erst im Alter manifest. Der alte Mensch er- schien überfordert, alleine, also ohne konkrete Unterstützung und thera- peutische Hilfe, die altersbedingten Belastungen und Konflikte zu bewäl- tigen. Mehrfach ließ sich beobach- ten, daß sich im Laufe von mehreren Jahren ein Circulus vitiosus aggressi- ven und autoaggressiven Verhaltens mit oft abrupten Suizidhandlungen entwickelt hatte.

Soziale Isolierung und Einsam- keit nach zunehmenden Verluster- lebnissen wirkte sich vor allem dann suizidfördernd aus, wenn trotz oft quantitativ ausreichender Kontakte keine qualitativ befriedigenden Be- ziehungen mehr bestanden. Als be- sonders wichtig erwies sich, wieweit

der alte Mensch aufgrund belasten- der Umstände zum Disengagement gezwungen worden war (5), ober ob der soziale Rückzug freiwillig erfolg- te und die wesentlichen Inhalte und Ziele des bisherigen Lebens beste- hen blieben.

Körperliche Erkrankungen und Leistungseinschränkungen wurden suizidwirksam, insbesondere bei gleichzeitigen ehelichen und familiä- ren Konflikten und der Situation der Einsamkeit, wenn sie subjektiv über- bewertet und auf der Basis einer depressiv-hypochondrischen Grund- stimmung als unheilbar und irrever- sibel erlebt wurden, so daß nur noch chronisches Leiden erwartet wurde.

Bei Konflikten mit Angehörigen, vor allem mit Kindern, handelte es sich meistens um Kränkungen, die

dazu führten, daß sich der alte Mensch unverstanden und zurückge- wiesen fühlte. Die junge Generation nahm wenig Rücksicht auf die oft gravierenden lebensgeschichtlichen Belastungen und altersbedingten Einschränkungen des Reaktions- und Verhaltensrepertoires alter Menschen, aber auch auf die oft unterschiedlichen Lebensstile und Wertorientierungen.

Gegenüber den neurotisch-reak- tiv depressiven Patienten waren spe- zielle Motive und Anlässe der Sui- zidversuche in der Gruppe der endo- genen Depressionen erheblich selte- ner in Erscheinung getreten. Im Vordergrund standen körperliche Krankheiten und soziale Isolierung und Einsamkeit. Über die Hälfte der endogen depressiven Patienten mit

(4)

Intention des Suizidversuchs 90 -

80 - 70

-60 - 50 - 40 - 30 - 20 -

10 -

ND+ RD

n=15 n=14

Hilfe Ruhe Tod

( Es sind a le Intentionen aufgeführt, so daß sich über 100% liegende Gesamtsummen ergeben.)

- 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9

n =15 n = 1 4

1 Partnerkonflikte

2 Konflikte mit Angehörigen

3 Konflikte mit anderen Personen oder Institutionen 4 Probleme im Beruf

5 finanzielle Probleme 6 körperliche Krankheiten 7 soziale Isolierung, Einsamkeit 8 Tod von Angehörigen oder Freunden 9 andere

Motive und Anlässe des Suizidversuchs 70

60 50 40 30 20 10

Abbildung 6 Abbildung 5

Suizidgedanken oder nach Suizidver- suchen zeigten keine speziellen psy- chischen Konflikte oder somatischen Belastungen, die zu der suizidalen Symptomatik geführt hatten.

Im Vordergrund stand eine aus- geprägte depressive Symptomatik, die vor allem durch ängstliche Unru- he, psychomotorische Agitiertheit, quälendes Grübeln, tiefes depressi- ves Verstimmtsein mit Lust- und Interesselosigkeit, Vitalstörungen, körperliche Beschwerden im Sinne eines larvierten depressiven Syn- droms, Schuld- und Insuffizienzge- fühle und depressive Wahnideen ge- kennzeichnet war.

Bei den nach einem Suizidver- such stationär behandelten Patien- ten fiel auf, daß die depressive Phase oft nicht rechtzeitig erkannt worden war, auch wenn schon in früheren Jahren eine Depression bestanden hatte. Eine psychiatrische Behand- lung erfolgte manchmal erst nach längeren anderweitigen Therapie- versuchen. Auffallend war die In-

konsequenz der durchgeführten Be- handlungen. Antidepressiva wurden zu früh abgesetzt oder umgestellt.

Die Patienten nahmen teilweise auch selbst Änderungen der Dosis vor. Eine Rezidivprophylaxe mit Lith- ium und/oder Carbamazepin war in keinem Fall konsequent durchge- führt worden. Obwohl es sich um schwere und oft lang hingezogene depressive Phasen handelte, wurde die Suizidgefahr nicht rechtzeitig wahrgenommen oder in den thera- peutischen Gesprächen nicht direkt thematisiert.

3. Ausblick

Die Behandlung suizidaler alter Menschen ist oft dadurch er- schwert, daß die jüngere Generation die eigene Einstellung zu Alter und Leiden, Tod und Sterben nicht aus- reichend reflektiert. Es sind oft we- nig bewußte Ängste und Phantasien über Alter und Tod, unverarbeitete

Konflikte mit den eigenen Eltern und frühen Bezugspersonen sowie ethische und religiöse Werte und Überzeugungen, die über die Gestal- tung der Beziehung zu alten Men- schen entscheiden. Nur wer Gefühle der Trauer und des Schmerzes zulas- sen kann, sich darauf einstellt, mit neuen Verlusten und Enttäuschun- gen konfrontiert zu werden, wird die Fähigkeit zu einer kontinuierlichen Präsenz entwickeln können, ohne aus Angst und Resignation den Kon- takt zu suizidalen alten Menschen abzubrechen (7).

(I)

Die Wirklichkeit im Alter ist für viele alte Menschen nicht Würde, Weisheit, Anerkennung und Dank- barkeit, sondern eher Leid, Krank- heit, Einsamkeit, das Gefühl des Überflüssigseins, Spannungen mit der Familie und der nachfolgenden Generation, die Erfahrung, auf ein totes Gleis abgestellt zu sein. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, unnütz und wertlos zu sein, initiiert und konsolidiert körperliche A-3798 (52) Dt. Ärztebi. 86, Heft 49, 7. Dezember 1989

(5)

und seelische Beschwerden und stellt oft die entscheidende Basis sui- zidaler Entwicklungen im Alter dar.

Auf diesem Hintergrund ist die Be- urteilung von Alterssuiziden als „Bi- lanzsuiziden" kritisch zu hinterfra- gen. Nicht nur der objektive Schwere- grad des Leidenszustandes, der al- tersbedingten Belastungen und spe- ziellen Konfliktsituationen kann den sogenannten „Bilanzsuizid" begrün- den. In gleicher Weise ist das Maß konkreter Hilfen und menschlicher Zuwendung zu berücksichtigen, das die Umwelt zu investieren bereit ist.

In den Gesprächen über die speziellen Konflikte und Belastun- gen, die zur Suizidhandlung geführt haben, muß der suizidale alte Mensch die Erfahrung machen kön- ne, daß seiner Entscheidung zum Suizid Verständnis entgegenge- bracht wird und er vom Therapeuten gehalten und getragen wird. Häufig blockieren Schuldgefühle ein offenes Gespräch. In der Regel werden auch frühere Konflikte, insbesondere bis- herige Krisen und deren mangelnde Bewältigung deutlich. Nur wenn die gesamte Lebenssituation des alten Menschen berücksichtigt wird, kann in angemessener Weise auf die kau- salen und motivationalen Zusam- menhänge des suizidalen Verhaltens eingegangen werden. Zu beachten ist nicht nur der Schweregrad der Belastungen und Konflikte, sondern auch die Tiefe der Depression, ins- besondere der Beginn einer endoge- nen Depression, die eine entspre- chende antidepressive Therapie, oft in stationärem Rahmen, notwendig macht.

Nach Verlusterlebnissen werden die einzelnen Phasen des Trauerprozesses im Alter oft nicht mehr angemessen durchlaufen. Ge- fühle des Schmerzes und der Trauer und bewußte Schuldgefühle werden nur selten offen zum Ausdruck ge- bracht. Neben einer häufigen Ideali- sierung des Verstorbenen erweisen sich die Somatisierung der Be- schwerden, zunehmende Selbstisola- tion und die Tendenz zu aggressivem Verhalten gegenüber noch lebenden Personen als besonders charakteri- stisch (10).

Regelmäßige Arztbesuche sind für viele alte Menschen besonders

wichtige menschliche Kontakte. Es ist verständlich, daß sich viele Ärzte, die stellvertretend für die Gesell- schaft Hilfe und Unterstützung an- bieten müssen, überfordert fühlen, alten Menschen ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen und ange- messen auf die unter den körper- lichen Beschwerden verborgenen seelischen Konflikte einzugehen. Be- steht jedoch eine vertrauensvolle Be- ziehung zum Arzt, ist es erstaunlich, wie sehr alte Menschen dann oft noch in der Lage sind, Gefühle der Trauer und des Schmerzes zu äußern und noch ein Stück „Trauerarbeit"

zu leisten, die sich befreiend auf die Gestaltung der noch verbleibenden Lebenszeit auswirkt.

Das Altern mit der zuneh- menden Einengung der Möglich- keiten freier Entscheidung und akti- ven Handelns und der Einschrän- kung durch körperliche Krankheiten wird nicht selten als narzißtische Kränkung und Infragestellung der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz erlebt (9). Alle therapeutischen Be-

Literatur

1. Achte, K.: Suizidalität im höheren Lebens- alter. In: Kielholz, P., C. Adams (Hrsg.):

Der alte Mensch als Patient. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1986, S. 118-124 2. Anger, H.: Sozialpsychologische Aspekte

des Suizids im Alter. akt. geront. 7 (1977) 75-80

3. Bron, B.: Ethische und juristische Aspekte des Suizidproblems. Fortschr. Neurol.

Psychiat. 54 (1986) 232-239

4. Bron, B.: Die „Wahrheit am Krankenbett"

und ihre Bewältigung durch den unheilbar Kranken und Sterbenden. Fortschr. Neurol.

Psychiat. 55 (1987) 189-200

5. Bungard, W.: Isolation, Einsamkeit und Selbstmordgedanken im Alter. akt. geront. 7 (1977) 81-89

6. Hagenbuchner, K.: Der Selbstmord des al- ten Menschen. Materia Medica Nordmark 58 (1967) 1-46

7. Radebold, H., G. Schlesinger: Zur Alters- suizidalität. Literaturergebnisse und psy- chotherapeutische Behandlungsansätze. In:

Reimer, C. (Hrsg.): Suizid. Springer Verlag, Berlin 1982, S. 153-176

8. Schadewaldt, H.: Historische Betrachtun- gen zum Alterssuizid. akt. geront. 7 (1977) 59-66

9. Seidel, K.: Die eigenständige innere Dyna- mik des Alterssuizids. In: Petrilowitsch, N., H. Flegel (Hrsg.): Sozialpsychiatrie. Karger Verlag, Basel 1969, S. 42-62

10. Stern, K.; Wiliams, G. M.; Prados, M.: Grief reactions in later life. Am. J. Psychiat. 108 (1951/52) 289-294

mühungen sind deshalb auf die Stär- kung des Selbstwertgefühls und die Schaffung tragfähiger Kontakte aus- zurichten. Suizidales Verhalten alter Menschen in Situationen schweren Leidens und tiefer Einsamkeit, ihre Reaktion auf akute Krisen und Ver- lusterlebnisse ist abhängig von der ihnen gewährten menschlichen Zu- wendung und therapeutischen Hilfe.

Angesichts der zunehmen- den Forderung nach „Freiheit zum Suizid" (3) kann nur an den ärzt- lichen Auftrag erinnert werden, Krankheiten zu heilen, Leidenszu- stände zu mildern und chronisch Kranke und Sterbende zu begleiten (4). Diese Forderung gilt auch für suizidale alte Menschen. Sie läßt sich nur erfüllen, wenn auch die Gesell- schaft bereit ist, ihr Verhalten selbst- kritisch zu reflektieren und zu korri- gieren und durch emotionale Teil- nahme und aktives Engagement al- ten Menschen eine lebenswerte und lebenswürdige Gestaltung der noch verbleibenden Lebenszeit zu ermög- lichen (8).

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. theol.

Bernhard Bron

Abteilung für Psychiatrie der Universität Göttingen Von-Siebold-Straße 5 3400 Göttingen

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