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Archiv "Sind Depressionen Rhythmuskrankheiten?" (30.04.1981)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

ÜBERSICHTSAUFSATZ

Sind Depressionen

Rhythmuskrankheiten?

Chronobiologie — eine neue Arbeitsrichtung in der Psychiatrie

Urban Goetze

Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Münster, Abteilung für Klinische Psychiatrie

(Direktor: Professor Dr. med. Rainer Tölle)

Die Beobachtung abgewan- delter 24-Stunden-Rhythmen körpereigener Funktionen bei endogen Depressiven geben zu der Vermutung Anlaß, daß bei ihnen die zeitliche Organi- sation der biologischen Ab- läufe gestört ist. Die Wirkung antidepressiver Therapien er- streckt sich auf Veränderun- gen gestörter biologischer Rhythmen. Systematische Un- tersuchungen lassen bisher erkennen, daß klinische Ande- ru ngen mit abgeänderten Ver- läufen körperlicher Funktio- nen einhergehen.

Schon seit langem sind die endoge- nen manisch-depressiven Krankhei- ten, heute auch Affektpsychosen ge- nannt, als „periodische" Erkrankun- gen bekannt: depressive und mani- sche Phasen können abwechseln, mit oder ohne ein gesundes Inter- vall. Ein weiteres Kennzeichen ist in den weitaus meisten Fällen die voll- ständige Remission einer jeden sol- chen Phase.

Im Verlauf finden sich zum Teil aus- schließlich manische Phasen. Weit- aus am häufigsten tritt die Verlaufs- form Depression mit anschließen- dem gesunden Intervall auf. Bis auf wenige Ausnahmen ist die Dauer ei- nes Zyklus (= Phase mit freiem Inter- vall) erheblichen Schwankungen un- terworfen, deren Gesetzmäßigkeiten sich bisher nicht feststellen ließen.

Man kann daher nicht von einer Pe- riodik im strengen Sinne sprechen.

Rhythmische Erscheinungen finden sich aber auch in Form von Schwan- kungen des Befindens von Tag zu Tag oder innerhalb eines Tages.

Letztere sind nicht etwa Verstärkun- gen der Schwankungen, wie sie die- ser Kranke im gesunden Zustand und auch der Gesunde kennen („Morgen- mensch", „Abendmensch"). In ein- zelnen Fällen kann die Tages- schwankung so ausgeprägt sein, daß sich der Patient vorübergehend (meist am Abend) ganz beschwerde- frei fühlt.

Liegt in diesen

rhythmischen Erscheinungen ein Schlüssel zur Krankheit?

Unter dieser Fragestellung sind be- sonders die endogenen Depressio- nen (Melancholien) untersucht worden.

Von der relativ jungen Wissenschaft der Chronobiologie, die sich mit der Bedeutung der zeitlichen Dimension für die Abläufe der Lebensprozesse beschäftigt, wissen wir, daß bei allen Lebensformen, vom Einzeller bis zum Menschen und für nahezu alle meßbaren biochemischen, physiolo- gischen und psychologischen Para- meter ein Variationsspektrum von 24 Stunden besteht. Von diesen zirka- dianen Rhythmen (abgeleitet von circa und dies: etwa 24 Stunden) wurden bisher bei Gesunden Kör- pertemperatur und Kortisolaus- schüttung am genauesten unter- sucht.

Diese Tagesperiodik ist endogenen Ursprungs, denn sie bleibt auch nach Ausschluß aller mit dem Tag- Nacht-Wechsel verbundenen Zeitge- ber bestehen, wie Versuche unter künstlich konstant gehaltenen Um- gebungsbedingungen gezeigt ha- ben. Dabei fand man allerdings eine veränderte Periodenlänge von zirka 25 Stunden (Wever, 1979). Die exter- ne Synchronisation der Periode auf den 24-Stunden-Tag wird beim Men-

schen vorwiegend durch soziale De- terminanten und erst in zweiter Linie durch den Hell-Dunkel-Wechsel ge- währleistet (Wever, 1979). Von gro- ßer biologischer Bedeutung ist die zeitliche Beziehung der einzelnen Rhythmen (Temperatur, Hormone usw.) zueinander (interne Synchro- nisation). Diese Kopplung ist bei ei- nem Organismus Voraussetzung für das Zusammenspiel der Lebenspro- zesse.

Rhythmusstörungen im Sinne einer Desynchronisation treten häufiger bei älteren Menschen auf und auch bei Personen mit einem gegenüber der Norm erhöhten Neurotizismus- Score (Wever, 1979). Auch bei endo- gen Depressiven wurden abgewan- delte 24-Stunden-Rhythmen beob- achtet. So ergaben Untersuchungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, daß das Schlafprofil (Abfolge und Anteile der einzelnen Schlafstadien) bei ihnen gegenüber dem von Gesunden we- sentlich verändert ist. Insbesondere zeigen endogen Depressive einen starken Anstieg von REM-Schlaf"), der auch zu einem früheren Zeit- punkt als gewöhnlich in der Schlaf- periode auftaucht. Anscheinend be- steht in der Depression hinsicht- lich des Schlaf-Wach-Rhythmus ei- ne Phasenbeschleunigung (Wehr, 1978). Im Gegensatz hierzu fand sich im Aktivitäts-Ruhe-Rhythmus eine

*) Rapid-eye-movement-Schlaf

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 18

vom 30. April 1981

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Endogene Depressionen

Phasenverlangsamung mit einem starken Anstieg der Aktivität in den Abendstunden. Die Kortisolproduk- tion von Depressiven zeigt in den Nachmittags- und Nachtstunden deutliche Sekretionsschübe. Zu die- ser Zeit ist die Produktion beim Ge- sunden äußerst niedrig. Auch im Mittel eines Tages findet sich ein erhöhter Kortisolspiegel im Plasma (Matussek, 1978). Auf der Ebene der Neurotransmitter konnte festgestellt werden, daß die Ausscheidung von 3-Methoxy-4-hyd roxyphenylg lycol (Metabolit des Noradrenalins) bei bi- polar depressiven Patienten drei Stunden früher als bei Gesunden ihr Maximum erreicht (Wehr, 1978). Die Untersuchung eines Patienten mit einem 48-Stunden-Zyklus einer en- dogenen Depression (abwechselnd depressive und symptomfreie Tage) ergab eine Erniedrigung der Spei- chelsekretion und Aktivität an Tagen depressiven Befindens gegenüber gesunden Tagen, die Körpertempe- ratur war im Mittel an Tagen depres- siven Befindens deutlich erhöht (Emrich et al. 1979).

Diese Auswahl von chronobiologi- schen Befunden gibt zu der Vermu- tung Anlaß, daß bei der endogenen Depression die zeitliche Organisa- tion der biologischen Abläufe ge- stört ist. Ärztlich wichtig ist nun eine therapeutische Dimension der Chro- nobiologie endogener Depression:

Für die Behandlung der Depression ist bisher gesichert, daß ein einfa- cher Eingriff in den Ablauf der 24- Stunden-Rhythmen und hier beson- ders in den Wach-Schlaf-Rhythmus die Depressionssymptomatik beein- flußt. Schlafentzug von einer Nacht, einer halben Nacht oder der Entzug des REM-Schlafes bewirkt eine si- gnifikante Verbesserung des Be- schwerdebildes (Rudolf et al. 1977).

Auch mit der Vorverlegung der Schlafperiode in den Nachmittag konnten therapeutische Erfolge er- zielt werden. Auch bei anderen anti- depressiven Therapien scheinen chronobiologische Veränderungen bestimmend zu sein: Für trizyklische antidepressive Medikamente konnte im Tierversuch gezeigt werden, daß die Resynchronisation abgewandel- ter Rhythmen beschleunigt wird. Li-

thium-Salze, welche zur Prophylaxe der endogenen Depression und auch zur Behandlung der Manie ver- wandt werden, verlängern die zirka- dianen Rhythmen (Wehr, 1978).

Diese Befunde und Beobachtungen haben das Interesse an chronobiolo- gischen Untersuchungen bei endo- gen Depressiven intensiviert. Syste- matische Untersuchungen der zirka- dianen Rhythmik (und gegebenen- falls auch kürzere oder längere Rhythmen) bei Depressiven werden in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem im Max-Planck-Insti- tut für Psychiatrie in München und in der Klinik für Psychiatrie der Uni- versität Münster durchgeführt. Die Fragestellungen betreffen einerseits die Pathogenese endogener Depres- sion in Abhängigkeit von chronobio- logischen Vorgängen, andererseits deren Bedeutung für die Wirkungs- mechanismen antidepressiver The- rapien. Unter diesem therapeuti- schen Gesichtspunkt untersuchen wir endogen Depressive im thera- peutisch unbeeinflußten Zustand, unter antidepressiver Medikation, bei Schlafentzugs-Behandlung, im symptomfreien Intervall und unter Lithium-Prophylaxe. Ein Untersu- chungsgang umfaßt fünf aufeinan- derfolgende 24-Stunden-Rhythmen.

In Abständen von vier Stunden wer- den Kerntemperatur, Herzfrequenz, freies Kortisol im Harn, allgemeine Befindlichkeit und Depressionssym- ptomatik gemessen. Die bisherigen Ergebnisse unserer noch nicht ab- geschlossenen Untersuchung las- sen erkennen, daß Veränderungen der Symptomatik mit Veränderun- gen des zirkadianen Verlaufes der genannten vegetativen Parameter einhergehen. Beim Umschlag vom gesunden Zustand in die Depression kommt es zu einer erheblichen Ver- größerung der Schwingungsbreite (Amplitude) von Kerntemperatur und Herzfrequenz; nach Schlafent- zug hingegen wird die Schwingung- breite deutlich kleiner. Diese Befun- de sind unerwartet und überra- schend; denn die Schwingungsbrei- te der genannten Funktionen ist bei (therapeutisch unbeeinflußten) De- pressiven kleiner als bei Gesunden (und im gesunden Intervall). Wenn

man von der These ausgeht, daß die antidepressiven Maßnahmen zu- gleich mit der Reduzierung der psy- chopathologischen Symptomatik auch die begleitenden vegetativen Funktionsänderungen „normalisie- ren" sollten, erscheinen die genann- ten Effekte paradox. Diese These, die auf Grund kybernetischer Über- legungen entwickelt worden war, ist demnach nicht aufrechtzuerhalten.

Die sinusförmige Kurve der zirkadia- nen Schwankung von psychophy- siologischen Funktionen wie Kern- temperatur und Herzfrequenz zei- gen Tiefpunkte (Minima), die zu- meist zwischen 1 Uhr und 5 Uhr nachts liegen. Die Abstände dieser Minima dienen als Maß der Dauer eines zirkadianen Zyklus. Sie betra- gen beim Gesunden annähernd 24 Stunden. Bei depressiven Patienten überprüften wir die Stabilität der Mi- nima-Zeitpunkte und ihrer Abstän- de. Dabei fanden wir eine unge- wöhnlich hohe Streuung der Werte, welche als eine Frequenzinstabilität oder -modulation anzusehen ist.

Diese Untersuchungsergebnisse ge- ben Grund zu der Annahme, daß dem Wirkungsmechanismus antide- pressiver Behandlungen möglicher- weise chronobiologische Verände- rungen zugrunde liegen. Es ist zu erwarten, daß sich aus weiteren Un- tersuchungen neue Erkenntnisse für eine gezielte Behandlung und Pro- phylaxe endogener Depressionen gewinnen lassen.

Literatur

Emrich, H. M.; Lund, R.; von Zerssen, D.: Vege- tative Funktionen und körperliche Aktivität in der endogenen Depression, Arch. Psychiat.

Nervenkr. 227 (1979) 227-240 — Matussek, N.:

Neuro-endo-krinologische Untersuchungen bei depressiven Syndromen, Nervenarzt 49 (1978) 569-575 — Rudolf, G. A. E.; Schilgen, W.;

Tölle, R.: Antidepressive Behandlung mittels Schlafentzug, Nervenarzt 48 (1977) 1-11 — Wehr, Th. A.; Goodwin, F. K.: Biological Rhythms and Affective Illness, Biomedia 28 (1978) 2, 1-7 — Wever, R. A.: The Circadian System of Man, Springer New York/Heidel- berg/Berlin (1979)

Anschrift des Verfassers:

Dipl.-Psych. Urban Goetze Psychiatrische und Nervenklinik der Universität Münster

Roxeler Straße 131,4400 Münster 890 Heft 18 vom 30. April 1981

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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