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u den vordringlichen Aufgaben des neuen Bundestages, der am 22. Sep- tember gewählt wird, gehört die Reform des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dazu gibt es zahlreiche Vorschläge, von de- nen die meisten allerdings sehr allge- mein gehalten sind. Zusammen mit sie- ben Experten aus verschiedenen Berei- chen des Gesundheitswesens*hat Prof.Dr. med. Fritz Beske vom Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-For- schung, Kiel, wesentliche Reform- optionen diskutiert und – nach gemein- samer Absprache – in alleiniger Verant- wortung das „Berliner Konzept“**her- ausgegeben. Dieses enthält direkt um- setzbare Vorschläge für eine GKV- Strukturreform und quantifiziert diese, falls möglich. Grundtenor des Kon- zepts: Die Gesetzliche Krankenversi- cherung muss evolutionär, im Kern soli- darisch finanziert und selbst verwaltet, weiterentwickelt werden.
Um die Finanzierungsprobleme der Gesetzlichen Krankenversicherung in den Griff zu bekommen, fordert das Konzept unter anderem:
> Herausnahme versicherungsfrem- der Leistungen aus dem GKV-Lei- stungskatalog (Einsparungen: rund drei Milliarden Euro jährlich);
> Senkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel von 16 Prozent auf sieben Prozent (Einsparungen: rund zwei Mil- liarden Euro jährlich);
> Anhebung der Alkohol- und Ta- baksteuern um 70 Prozent (Zusatzein- nahmen: rund acht Milliarden Euro jährlich);
> Erweiterung der Beitragsbemes- sung auf alle Einkunftsarten bis zur Bei- tragsbemessungsgrenze (Einkommens- ermittlung mittels Steuerbescheid, Zu- satzeinnahmen: nicht quantifizierbar);
> Anhebung der Versicherungs- pflichtgrenze von 75 Prozent auf 80 Pro- zent der Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (nur bei gleichzeitiger Erweiterung der Beitragsbemessung, Zusatzeinnahmen:
nicht quantifizierbar);
> höhere Zuzahlun- gen der Versicherten, wobei Überforderun- gen durch Härtefallre- gelungen ausgeschlos- sen werden sollen (Zu- satzeinnahmen: nicht quantifizierbar) und
> Einschränkungen bei der beitragsfreien Mitversicherung von nicht erziehenden und nicht erwerbstätigen Ehepartnern (Zusatz- einnahmen: nicht quan- tifizierbar).
„Wenn wir nicht bald handeln, ist in den nächsten Jahren mit ei- ner Verdoppelung der Krankenkassenbeiträ- ge zu rechnen“, unter- strich Beske die Dring-
lichkeit einer GKV-Reform. Allein mit der Umsetzung der quantifizierbaren Vorschläge zur GKV-Finanzierung in Höhe von mehr als 13 Milliarden Euro jährlich könne der Beitragssatz um bis zu 1,5 Beitragssatzpunkte gesenkt wer- den. Das Potenzial in den nicht quantifi- zierbaren Vorschlägen würde der GKV weitere finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, betonte Beske.
Der Kieler Gesundheitsexperte ist überzeugt, dass sich neben dem zuneh- menden Durchschnittsalter der Bevölke- rung besonders der medizinische Fort- schritt zum „Sprengsatz für die Finan- zierung des Gesundheitswesens“ ent- wickeln wird. Innovationen bei Arznei- mitteln und Medizinprodukten seien weltweit der entscheidende Faktor für Ausgabensteigerungen im Gesundheits- wesen, weshalb eine staatliche Preisregu- lierung für diesen Sektor unumgänglich werde. Die Bewertung von Innovationen will das „Berliner Konzept“ einem neu zu gründenden Institut übertragen, das beim Koordinierungsausschuss oder beim Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen angesiedelt werden soll.
Beske erwartet nicht, dass die in der
„Berliner Runde“ erarbeiteten Re- formvorschläge für das Gesundheitswe- sen in absehbarer Zeit umgesetzt wer- den: „Noch geht es uns zu gut. Erst wenn es uns noch schlechter geht, wird
man handeln.“ Die Erkenntnis, dass das Gesundheitswesen reformiert werden muss, sei zwar vorhanden, die Angst, den Bürgern die Wahrheit zu sagen, sei jedoch stärker. Mit jeder Beitragssatz- steigerung wachse jedoch die Wahr- scheinlichkeit, dass einer der politi- schen Entscheidungsträger die ein oder andere Idee der „Berliner Runde“ auf- greife und umsetze. Jens Flintrop P O L I T I K
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A2388 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 3713. September 2002
Gesetzliche Krankenversicherung
Reform dringender denn je
Experten warnen vor einer Verdoppelung der Kranken- kassenbeiträge und stellen das „Berliner Konzept“ vor, das unmittelbar umsetzbare Vorschläge für eine Weiterent- wicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung enthält.
* Prof. Dr. Michael Habs, Dr. Rainer Hess, Prof. Dr. Norbert Klusen, Rainer Luhmann, Dr. Ulrich Oesingmann, Gerhard Schulte, Dr. Dr. Jürgen Weitkamp
** Fritz Beske: Berliner Konzept einer Strukturreform der Gesetzlichen Krankenversicherung, Kiel 2002
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Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Stand: 2000
Art der Leistung Ausgaben gerundet
Ambulante und stationäre Kuren (§ 23) 0,9 Mrd. Euro
Mütterkuren (§ 24 + § 41) 0,4 Mrd. Euro
Empfängnisverhütung sowie
Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation
außer bei medizinischer Indikation (§ 24 a + b) 0,2 Mrd. Euro Künstliche Befruchtung (§ 27 a) –
Hauswirtschaftliche Versorgung (§ 37) 0,3 Mrd. Euro Soziotherapie (§ 37 a) <0,0 Mrd. Euro
Haushaltshilfe (§ 38) 0,3 Mrd. Euro
Krankengeld bei Erkrankung des Kindes (§ 45) 0,1 Mrd. Euro
Sterbegeld (§ 58) 0,8 Mrd. Euro
Förderung von Einrichtungen zur Verbraucher-
und Patientenberatung (§ 65 b) <0,0 Mrd. Euro Unterstützung der Versicherten bei
Behandlungsfehlern (§ 66) <0,0 Mrd. Euro
Zusammen 3,0 Mrd. Euro
Quelle: BMG