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Archiv "Psychosomatik in Ost und West" (23.12.1991)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT KONGRESSBERICHT

Psychosomatik in Ost und West

34. Arbeitstagung des Deutschen Kollegiums für psycho- somatische Medizin und 1. gemeinsame Arbeitstagung des Deutschen Kollegiums für psychosomatische Medizin und des Deutschen Arbeitskreises für psychosomatische

Medizin, Dresden, März 1991

D

ie Arbeitstagung der Psycho- somatiker-Organisationen aus West und Ost stand unter der Lei- tung von Hermann F. Böttcher (Dres- den) und Hannsknut Röder (Chem- nitz). H. F. Böttcher gedachte ein- gangs der sechzig Jahre zuvor in Dresden mit vielen Themen aus der Psychosomatik durchgeführten Ta- gung der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, an der auch Sigmund Freud wenige Ta- ge vor seinem 75. Geburtstag teil- nahm, und würdigte dann den kolle- gialen und offenen Umgang der ver- anstaltenden Organisationen im Vorfeld dieses gemeinsamen Vorha- bens, das bereits vor der Vereinigung beider deutscher Staaten konzipiert wurde.

Im Einleitungsvortrag der ersten Plenarveranstaltung beschäftigte sich Michael Wirsching (Freiburg) mit „Psychosomatik und Psychothe- rapie im Umbruch". Er ging von der These aus, daß Psychotherapie nicht nur in Zeiten persönlichen und allge- meinen Umbruchs besonders ge- sucht wird, sondern dabei auch selbst janusköpfig in Bewegung kommen kann: als Ausdruck von oder Beitrag zu neuem Denken oder als Versuch, den Verfall aufzuhalten, und damit als Hindernis auf dem Wege zu grundlegender Umgestaltung. Ein solcher Umbruch war die Abkehr von der Metaphysik mit der „Ent- deckung des Unbewußten" durch Sigmund Freud um die Jahrhundert- wende. Der nächste Umbruch in den 50er Jahren des Wiederaufbaus mit einem Desinteresse an Nachdenk- lichkeit zugunsten schnellen, effekti- ven Handelns („Unfähigkeit zum Trauern" — Mitscherlich) förderte den amerikanischen Behaviorismus mit einer signalisierten Überlegen-

heit bei der Symptombekämpfung.

In Zusammenhang mit der Protest- bewegung der späten 60er Jahre überspülte beim dritten Umbruch ein Psychoboom die „bieder gewor- dene Psychotherapie".

Heute seien die Verhältnisse ru- higer, aber nicht klarer geworden:

Psychosoziale Intervention in (fast) allen Lebensbereichen, Lebenspha- sen und Lebenskrisen. In einer so stark im Umbruch befindlichen Ge- sellschaft „wird der Erhalt der Iden- tität im Chaos eine lebenslange Auf- gabe für jeden Menschen". Für eine grundlegende Lösung untaugliche, nur kurzfristige Erleichterung ver- schaffende Strategien förderten die Häufung neurotischer und psychoso- matischer Störungen — gefordert sei- en zunehmend Psychotherapie und Psychosomatik. So differenziert wie die naturwissenschaftliche Medizin seit langem sei, werde nun auch die psychologische Medizin — beide je- doch basierend auf einem (wenn auch unterschiedlichen) grundlegen- den Paradigma. Und beide müßten darüber hinaus verbunden werden, weil der Mensch nicht teilbar ist. Ak- zeptanz und Vielfalt der Patienten, ihrer Konflikte, ihrer verschiedenen Störungen, sozialen und ökonomi- schen Rahmenbedingungen — aber auch der Therapeuten sei gefragt, nicht jedoch harmonisierende

„Gleichschaltungssucht". Mit diesem Umbruch sei der Abschied von der Suche nach der „einen" wahren Theorie verbunden. Praktisch heiße das, schon in der Grundversorgung müsse der Arzt in der Lage sein, den seelischen Anteil körperlicher Krankheit zu berücksichtigen und daraus diagnostische und therapeuti- sche Entscheidungen abzuleiten.

Psychosoziale Kompetenz sollte ne-

ben der naturwissenschaftlichen Ausbildung obligatorischer Bestand- teil jeder Facharztqualifikation sein.

Daneben bedürfe es aber ärztlicher und psychologischer „Vollzeitpsy- chotherapeuten" für chronifizierte Fälle und wissenschaftliche Weiter- entwicklung, des Facharztes für psychotherapeutische und psychoso- matische Medizin und des klinischen Fachpsychologen.

Zwei weitere Vorträge fügten sich quasi als Koreferate aus ost- deutscher Sicht an. Hannsknut Rö- der analysierte in seinen sehr kriti- schen Ausführungen unter dem The- ma „Verharren oder Verändern"

den Beitrag der ostdeutschen Psy- chosomatik zur Annäherung der psy- chosomatischen Medizin in Deutsch- land. Während in Westdeutschland die Psychosomatik stark im Hoch- schulbereich etabliert ist, fehlen ent- sprechende Lehrstühle in den neuen Bundesländern (was allseits als Man- gel erlebt wird) — Psychosomatik wurde und wird in der klinischen Praxis betrieben. Nur durch gemein- same Anstrengungen bei gleichwerti- ger BetraChtung beider Bereiche sei das Ziel des Paradigmenwechsels hin zu psycho-sozio-ökologischer Medi- zin zu erreichen. Ein einheitlicher deutscher Facharzt für Psychothera- pie — dessen Voraussetzungen in ei- ner „konzertierten Aktion" aller Psy- chotherapie-Fachverbände geklärt werden sollten — würde auch das

„leidige Gutachterverfahren zur Bedeutungslosigkeit" verdammen, denn „welcher Facharzt einer ande- ren ärztlichen Disziplin muß schon für sein verantwortungsbewußtes Handeln eine spezielle Erlaubnis einholen".

Der Referent beklagte, daß die politische Dimension des Tagungs- Dt. Ärztebl. 88, Heft 51/52, 23. Dezember 1991 (65) A-4597

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themas in kaum einem Referat zum.

Tragen komme. Emotionale Bewälti- gung der Trennung, aber auch der Vereinigung dürften nicht nur das Problem der Ostdeutschen bleiben — Vereinigung sei noch längst nicht Einheit. Die massive Identitätskrise vieler Menschen in den neuen Bun- desländern berge die Gefahr in sich, Vorbildinstanzen zu wechseln wie

„ein defektes Teil". Denkbar sei auch bei Westdeutschen Enttäu- schung über die beginnende „Ab- klatschgesellschaft" in den neuen Bundesländern, statt „Energie für Änderungen des Systems der alten Bundesrepublik in den Bürgern dort zu entfachen".

Aus Patientensicht

Während bei Röder mehr die Sicht des Therapeuten dominierte, behandelte Margit Venner (Jena) in ihrem Vortrag „Erkrankungen im so- zialen Kontext der aktuellen gesell- schaftlichen Veränderungen" den Umbruch — emotional stark enga- giert — eher aus der Sicht der Patien- ten. Bürger aus der ehemaligen DDR seien einfach „mit dem Über- leben beschäftigt". Vielen gelinge dies nicht, was die Steigerung der Suizidrate (besonders unter den Al- teren) belege — noch mehr werden krank. Der befürchtete Verlust an Ehre und die Furcht vor sozialer Dis- kriminierung hätten auch Ärzte aus ihrem unmittelbaren Kollegenkreis zum Suizid getrieben. So fordere die

„unblutige Revolution" jetzt nach- träglich ihre Opfer. Psychosomatisch Kranke, die die Klinik aufsuchen, seien gegenwärtig besonders schwer krank. Trotz der erfolgreichen fried- lichen Revolution in der ehemaligen DDR stehe der Frieden für die Men- schen noch aus.

Dazwischen berichtete Uwe Koch (Freiburg) über den Weg in die Fachbehandlung für den psychoso- matisch Kranken. Er kritisierte den fehlenden Einfluß der Fachleute auf Strukturmodelle und die Ansiedlung der meisten Betten für psychosoma- tisch Kranke vorwiegend im Rehabi- litations- statt im Akutbereich (was zu unverantwortlich langer Verzöge- rung der Behandlungsaufnahme bei-

trage) ebenso wie das System der Rehabilitation insgesamt (besonders das Fehlen der präventiven Orientie- rung und der ambulanten Nachsor- ge, die Defizite in der psychosozialen Rehabilitation). Hier würden Chan- cen der Veränderung in Zusammen- hang mit der möglichen Übernahme rehabilitativer Systeme der ehemali- gen DDR nicht genutzt.

Begleitend fanden jeweils acht Symposien zu verschiedenen Aspek- ten der Psychosomatik, eines zur deutschen Beteiligung an der Golf- krise statt. Erwähnt, weil bisher auch in Therapeutenkreisen ungenügend beachtet, sei das von Manfred Zielke (Bad Dürkheim) geleitete und von ihm und seinen Mitarbeitern gestal- tete Thema „Grenzverletzungen: Se- xueller Mißbrauch und Vergewalti- gung in ihrer Bedeutung für die sta- tionäre Psychotherapie".

In erwartet brillanter Weise stellte Thure v. Uexkuell (Freiburg)

„Theorien-Entwicklung unter dem Aspekt des Paradigma-Wechsels in den Naturwissenschaften und deren Konsequenz für die psychosomati- sche Medizin" dar und vertrat die Auffassung, daß es nur zwei grund- sätzliche Paradigmen gebe: das des Indizienbeweises (aus wahrnehmba- ren Zeichen auf die nicht wahrnehm- bare Realität zu schließen, „Jäger- wissen") und das der „neuen Wissen- schaften" (Naturwissenschaften — Galilei, Newton). Auch zur Zeit gel- te kein neues Paradigma, sondern es werde lediglich das ältere der Worte und Zeichen wiederentdeckt. Damit sei die „Biosemiotik" die Wissen- schaft der Zukunft.

In dem abschließenden Vortrag

„Die Wiedervereinigung der Schuld"

(dessen Kern schon vor etwa einem Jahr entstanden ist) analysierte S.

Becker (Frankfurt/Main) die unter- schiedliche Bewältigung (bezie- hungsweise Nichtbewältigung) der NS-Vergangenheit in (alter) Bun- desrepublik und DDR im Span- nungsfeld zwischen Antisemitismus und Antikommunismus und die sich durch die Vereinigung ergebenden neuen Aspekte.

Dr. med. Gerhard di Pol Seeburgstraße 7-9 0-7010 Leipzig

Chronische funktionelle gastrointestinale

Symptome

bei Überlebenden des Holocaust

Die Autoren untersuchten bei 623 konsekutiven Patienten osteuro- päischer Abstammung die Häufig- keit funktioneller abdomineller Be- schwerden unter Berücksichtigung von Verfolgungsmaßnahmen. Nach folgenden Symptomen wurde ge- fahndet: Bauchschmerzen, Stuhlun- regelmäßigkeiten, Diarrhoe, Obsti- pation, Völlegefühl, Sodbrennen, Flatulenz, Inappetenz, Übelkeit, Er- brechen, Schleim im Stuhl, Tenes- men und Aerophagie. Diese Sympto- me mußten mindestens seit fünf Jah- ren bestehen, eine organische Ursa- che war ausgeschlossen worden. 337 Überlebende des Holocaust, von de- nen 95 mindestens sechs Monate in einem Konzentrations- oder Ver- nichtungslager, 65 in einem Ghetto oder im Untergrund gelebt hatten, und 79 Personen aus Arbeitslagern, die nicht direkt von Deutschen über- wacht worden waren, wurden mit 384 Personen mit identischem demo- graphischem Hintergrund vergli- chen, die keinen Naziverfolgungen ausgesetzt waren. Prävalenz, Lei- densdauer und Häufigkeit des Auf- tretens der meisten Symptome waren signifikant häufiger in der Gruppe, die den Holocaust überlebt hatte.

Die Studie unterstreicht die klini- sche Beobachtung, daß schweres und anhaltendes Leiden zur Entwicklung chronischer funktioneller Beschwer- den des Verdauungstrakts beitragen kann.

Stermer, E., H. Bar, N. Levy: Chronic Functional Gastrointestinal Symptoms in Holocaust Survivors. Am. J. of Gastroent- erol. 86: 417-422, 1991

Gastroenterology Service, Bnei-Zion Me- dical Center, Faculty of Medicine, Techni- on, Haifa, Israel.

A-4598 (66) Dt. Ärztebl. 88, Heft 51/52, 23. Dezember 1991

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