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Archiv "Lebensreform: Zeit des Aufbruchs" (25.01.2002)

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V A R I A

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 99½½Heft 4½½25. Januar 2002 AA213

„Ich glaube, dass die Vegeta- rier mit ihrer Vorschrift, we- niger und einfacher zu essen, mehr genützt haben als alle neueren Moralsysteme zu- sammengenommen.“ Das Pa- thos dieser gewagten Aussage stammt nicht von einem Ver- treter der Alternativbewe- gung vor zwei Jahrzehnten, sondern von Friedrich Nietz- sche, dem geistigen Dreh- und Angelpunkt um 1900.

Nietzsche in dieser Weise für den Vegetarismus zu ver- einnahmen ist nicht üblich, aber durch den Besuch der Darmstädter Ausstellung zur

„Lebensreform“ relativiert sich manches. Im Reformhaus einkaufen und anschließend wandern gehen, im Bodybuil- ding-Studio schwitzen und dann am FKK-Strand liegen:

alles in vergleichbarer Weise schon einmal da gewesen. Be- reits einige der Ururgroßel- tern sind entsprechend aktiv und dabei Teil von Reform- bewegungen, die in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhun- derts aufkommen, in der Zeit um 1900 gipfeln und sich ver- schiedenen Bereichen einer umfassenden Erneuerung des Lebens widmen.

Ausgangspunkt ist die als träge, steif und einengend empfundene Gesellschaft der Kaiserzeit, die die Frauen in ein Korsett sperrt und von den Männern gravitätische Korpulenz erwartet. Man hat genug von den Folgen der In- dustrialisierung mit ihren wu- chernden Städten. Man möch- te weg von normiertem Sex,

der der Arterhaltung zu die- nen hat, und sucht gleichzei- tig nach geistiger Sinnstiftung, die man in den Kirchen nicht mehr zu finden meint.

Es ist die Zeit des großen Aufbruchs. Eine Erneue- rungsbewegung erfasst die

Menschen um 1900, ganz so, wie sie der Maler Ludwig von Hofmann in einem Bild fest- hält: Ein nackter Jüngling mit zwei jungen Frauen in kör- perbetonten Kleidern schrei- tet dem offenen Meer entge- gen, wo Sonnenlicht und hef- tiger Wind Körper und Geist beleben. Jugendlichkeit ist angesagt, und als „Jugend- stil“ bezeichnet man folge- richtig auch eine Kunstrich-

tung dieser Zeit, die die Woh- nungen entrümpeln und statt- dessen mit Möbeln ausstatten will, die sich an Material und Funktion ausrichten und de- ren Schlichtheit sich häufig an Formen der Natur orientiert.

Die Ausstellung in Darm- stadt, einem Ort, der neben München als das deutsche Ju- gendstilzentrum gilt, hat nicht nur zum Jugendstil hohe Qualität zu bieten. Spannend ist die Schau dabei nicht der populären Namen, wie Ernst Ludwig Kirchner oder Ferdi- nand Hodler wegen. Es sind stattdessen die Werke weni- ger bekannter Künstler, die die ganze Spannbreite der Kunst der Lebensreform auf- blättern. Minnes zauberhaft in sich versunkene Skulptur eines grazilen, knienden Jünglingsaktes kommt einer geschlechterübergreifenden Androgynie recht nahe.

Metzners monumentale Skulp- tur der „Erde“ hingegen wird von einem vor Kraft schier explodierenden, aus seiner kauernden Haltung erwa- chenden Männerakt symboli- siert und steht damit gleich- zeitig, neben der Androgynie, für eines der neuen Ideale von „Mann“. Fortan muss der sich in freier Natur stählen, um der Frau, die sich ihres Körpers nun ebenfalls be- wusst wird und ihr Gewicht beispielsweise durch die neu-

en Ausdruckstänze reduziert, etwas Anziehendes bieten zu können.

Immer mehr Frauen erge- ben sich um 1900 zudem nicht mehr in ihr Schicksal, son- dern engagieren sich in der neuen Frauenrechtsbewe- gung für politische und gesell- schaftliche Mitbestimmung.

Und, auch dies schon, gegen das Abtreibungsverbot, das bereits damals vielfach als männliches Machtgebaren empfunden wird.

Die groß angelegte Aus- stellung ordnet die Exponate aus allen Bereichen sechs übergreifenden Themen zu.

Neben „Körper“, „Natur“,

„Leben“, „Lebenspraxis“ und

„Seele“ findet sich auch der Oberbegriff „Geist“. Dort stößt man beispielsweise auf recht esoterische Zeichnun- gen und Schriften eines Ru- dolf Steiner, der die Anthro- posophie begründete.

Einer der Reize der Aus- stellung besteht eben, neben manchem ästhetischen Ge- nuss, genau darin: Zeit- genössische Verhaltenswei- sen und Vorstellungen wer- den auf ihre historischen Ur- sprünge zurückgeführt und so hinterfragbar. Will man Genaueres erfahren, sei man guten Gewissens auf die zwei gleichsam enzyklopädi- schen und deshalb schwerge- wichtigen Katalogbände ver-

wiesen. Bernd Apke

Lebensreform

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Feuilleton

Die Reformbewegungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommen, gipfeln in einer „allumfassenden Erneuerung des Lebens“.

Die Ausstellung „Die Lebensreform – Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst in der Moderne“ ist bis 24. Februar im Institut Mathildenhöhe Darmstadt (Ol- brichweg 13) zu sehen. Informationen: Telefon: 0 61 51/13 27 78, Internet: www.

dielebensreform.de

Oben: Fidus, Gnadennacht (1912), Öl auf Karton, Archiv der deutschen Ju- gendbewegung, Witzenhausen

Paula Modersohn-Becker: Mutter und Kind (1907), Öl auf Leinwand, Museum am Ostwall Dortmund

Fotos: Institut Mathildenhöhe

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