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Archiv "Bericht zur gesundheits-, sozial und berufspolitischen Lage" (28.05.1982)

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Bericht

zur gesundheits-, sozial und berufspolitischen Lage

Karsten Vilmar*)

Referat bei der Arbeitstagung des Plenums des 85. Deutschen Ärztetages

den DM, also mehr als ein Drittel.

1960 dagegen war die Verschul- dung der öffentlichen Haushalte relativ nur halb so groß, sie mach- te mit 52,2 Milliarden DM rund ein Sechstel des Bruttosozialproduk- tes in Höhe von 303 Milliarden DM aus. 1950 betrug das Bruttosozial- produkt nominal 97,2 Milliarden DM, eine Verschuldung konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest- gestellt werden.

Die Gesundheits- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutsch- land und infolgedessen auch die Berufspolitik der Ärzteschaft wur- den im Jahre 1981 wiederum durch Entwicklungen in anderen Bereichen stark beeinflußt. Ge- sundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik können folglich nicht isoliert betrachtet werden, wenn die Ärztekammern als Selbstverwaltungsorgane der Ärz- teschaft ihre in den Ländergeset- zen geregelten Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllen wol- len. Zu diesen Aufgaben gehört es auch, „im Einklang mit den Inter- essen der Allgemeinheit die beruf- lichen Belange der Gesamtheit der Kammerangehörigen zu wahren".

Haupteinflußfaktoren sind die an- haltende wirtschaftliche Rezes- sion mit zur Zeit 1,7 Millionen Ar- beitslosen, die dadurch angestie- genen Soziallasten, verbunden mit Beitragsausfällen für Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversiche- rung und die zunehmende Schul- denlast der öffentlichen Hände, insbesondere des Bundes. Die Bundesrepublik Deutschland mußte 1981 wiederum ein Lei- stungsbilanzdefizit hinnehmen.

Daß dieses „nur" 17 Milliarden DM betrug, wurde — mit 1980 vergli- chen — schon fast als Erfolg gefei- ert. Die Neuverschuldung des Bundes betrug im Jahre 1981 40,8 Milliarden DM, für 1982 wird offi- ziell von der Bundesregierung ei- ne weitere Neuverschuldung in Höhe von gut 27 Milliarden DM eingeplant. Doch auch dieser Plan

*) Dr. med. Karsten Vilmar, Unfallchirurg in Bremen, hielt dieses Referat in seiner Ei- genschaft als Präsident der Bundesärzte- kammer und des Deutschen Ärztetages.

kann nicht eingehalten werden, wie inzwischen von den zuständi- gen Ministerien bemerkt wurde.

Pro Kalendertag entstehen damit zirka 75 Millionen DM neue Schul- den. Jeder Bundesbürger mußte bereits am Jahresende 1981 für fast 9 000 DM Schulden öffentli- cher Hände, also des Staates, ge- radestehen, da die Gesamtschul- denlast ja bereits zu diesem Zeit- punkt 545 Milliarden DM aus- machte.

Besonders bedrohlich ist bei der zunehmenden Verschuldung, daß die gewaltigen Geldmengen nicht investiert werden, um die Produk- tivität unserer Wirtschaft zu erhö- hen; sie fließen vielmehr zu einem außerordentlich hohen Anteil dem Konsum zu, werden also ver- braucht. Damit handelt es sich aber nicht mehr um im Wirt- schaftsleben übliche „seriöse Schulden". Angereizt durch eine die Leistungsfähigkeit der Volks- wirtschaft weit übersteigende, an- geblich soziale „Umverteilungsge- setzgebung" wird so in geradezu gigantischem Ausmaß Sparkapital

„verfrühstückt". Kein Organismus kann aber auf die Dauer von der Substanz leben. Das muß zu Aus- zehrung und Zusammenbruch führen, wenn nicht rechtzeitig wirksame Therapie einsetzt, die in der Regel entschlossene Operatio- nen mit tiefen Einschnitten erfor- dert.

Wie weit fortgeschritten der Aus- zehrungsprozeß schon ist, wird aus folgenden Vergleichen deut- lich: Bei einem Bruttosozialpro- dukt im Jahre 1981 von nominal 1,552 Milliarden DM, betrug die Gesamtschuldenlast 545 Milliar-

Schulden in so gigantischer Höhe wie heute werden naturgemäß im- mer belastender. Lösungsversu- che immer hektischer und kurzat- miger. So gleichen auch die Maß- nahmen der Bundesregierung in manchem dem Verhalten privater Schuldner. Mit ständig neuen Fi- nanzmanipulationen werden stets nur die drängendsten Gläubiger befriedigt, andere dagegen mit fa- denscheinigen Ausflüchten vertrö- stet. Die Erkenntnis der Ursachen geht bei dem hastigen Stopfen im- mer neuer Löcher ebenso verloren wie die Übersicht über das Ge- samtausmaß der Schuldenlast.

Sachverständige Argumente der Ärzteschaft werden nicht angemessen berücksichtigt Der Zusammenhang zwischen den Versuchen zur Sanierung des Bundeshaushaltes 1982 und neu- en Kostendämpfungsgesetzen bei der gesetzlichen Krankenversiche- rung ist anders kaum erklärbar, ebensowenig wie die Ankündi- gung weiterer gesetzlicher Rege- lungen zur Sanierung der Bundes- finanzen durch Steuererhöhun- gen, die man den Bürgern jedoch wohl nur dann zumuten möchte, wenn man gleichzeitig beispiels- weise die Ausgaben im Gesund- heitswesen durch starre Beitrags- satzfixierungen oder sogar -sen- kungen weiter drosseln kann. So wurde bei der Beratung der jetzt gerade in Kraft getretenen neuen Kostendämpfungsgesetze schon ein weiteres Gesetz für 1984 zur Veränderung der Strukturen der Krankenversicherung angekün- digt.

Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 21 vom 28. Mai 1982 47

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Die Information:

Bericht und Meinung

Vilmar: Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik

ln dem zunächst vorgelegten Re- ferentenentwurf für ein Kranken- versicherungs-Kostendämpfungs- Ergänzungsgesetz (KVEG) wurde abertrotzdes Beschlusses, Struk- turfragen erst 1984 zu regeln, ver- sucht, mit reglementierenden, diri- gistischen Eingriffen die "Selbst- verwaltung zur stärken", die man

"mit ihrer Verantwortung nicht al- lein lassen könne", um schon heu- te Strukturen nachhaltig zu verän- dern. Ohne die erforderliche Zeit zu sorgfältigen Beratungen wur- den KVEG und KKG in kürzester Zeit durch die parlamentarischen Instanzen getrieben. Auffällig ist auch, daß eine Reihe von Bestim- mungen völlig unsystematisch je- weils in dasjenige Gesetz verpackt wurde, bei dem man sich leichtere oder schnellere Abstimmungser- folge versprach.

ln ebenso schwierigen wie zähen Verhandlungen ist es Kassenärztli- cher Bundesvereinigung und Bun- desärztekammer mit Hilfe des klei- neren Koalitionspartners und der Opposition gelungen, aus dem ur- sprünglichen Referentenentwurf für das Krankenversicherungs-Ko-

stendämpfungs-Ergänzungsge- setz (KVEG) systemverändernde Elemente weitgehend zu elimi- nieren.

e

Auch wenn beim KVEG, das zum 1. Januar 1982 in Kraft getre- ten ist, und im Krankenhaus-Ko- stendämpfungsgesetz, das im we- sentlichen erst zum 1. Juli 1982 in Kraft treten wird, Forderungen nach Selbstbeteiligung - die man jetzt allerdings "Ausgrenzung"

nennt -oder nach einer Quartals- bindung für Krankenscheine we- nigstens in Ansätzen erfüllt wur- den, sind die meisten sachverstän- digen Argumente der Ärzteschaft wieder nicht angemessen berück- sichtigt worden.

..,.. So wird beispielsweise künftig durch das KVEG im Paragraphen 182 f der Reichsversicherungsord- nung der Bundesminister für Ar- beit und Sozialordnung ermäch- tigt sein, im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Wirt-

schaft und dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- heit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen, welche Arzneimittel oder Arzneimittelgruppen, Ver- band- und Heilmittel, die ihrer Zweckbestimmung nach üblicher- weise bei geringfügigen Gesund- heitsstörungen verordnet werden, nicht zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden dürfen. Wenn damit tatsächlich sichergestellt werden könnte, daß der Ausschluß der betreffenden "Bagatellarznei- mittel" abschließend geregelt wä- re, könnte das noch in Ordnung sein.

Aber das ist wohl doch nicht der Fall, denn im gleichen Paragra- phen wird nämlich bestimmt, daß

"bei besonderen medizinischen Voraussetzungen" die Kosten sehr wohl von der Krankenkasse übernommen werden können.

Wenn also künftig der Arzt die Ver- ordnung eines "Bagatellarzneimit- tels" zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ablehnt, ist damit schon eine Reihe von Kon- flikten zwischen Patient und Arzt programmiert.

"Schlag" gegen

die kassenärztliche Versorgung schädigt Säuglingsbetreuung ..,.. Völlig unbegreiflich bleibt auch die Bestimmung, nach der Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten nicht mehr zur kassenärztlichen Versorgung ge- hören sollen, wenn sie bei einem Aufenthalt in einem Krankenhaus oder einer Entbindungsanstalt durchgeführt werden, es sei denn, daß diese von einem Belegarzt er- bracht werden. Durch den Gesetz- geber selbst wird so den Bemü- hungen um bessere Prävention und rechtzeitige Früherkennung von Behinderungen gerade im Kindesalter einschließlich der da- zu gehörenden beispielhaften Do- kumentation ohne jede sachliche Begründung aus rein ideologi- scher Motivation schwerer Scha-

den zugefügt. Kostendämpfungs- effekte sind damit nicht erreichbar - langfristig ist sogar ein Kosten- anstieg die wahrscheinliche Folge hier unterlassener Prävention. So wird unter Aufhebung der frühe- ren Rechtsprechung des Bundes- sozialgerichtes, selbst um den Preis einer Verschlechterung der Versorgung, hartnäckig die lnsti- tutionalisierung von ärztlicher Lei- stung sogar mit kleinsten Schrit- ten weiterverfolgt

..,.. Im Krankenhauskostendämp- fungsgesetz ist die sachverständi- ge Mitwirkung der ärztlichen Selbstverwaltung bei der Erarbei- tung von Bedarfs- und Investi- tionsplänen wiederum unzurei- chend geregelt. So sollen Empfeh- lungen über Maßstäbe und Grund- sätze für die Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit der Kran- kenhäuser, insbesondere für den Personalbedarf und die Sachko- sten, künftig zwischen der Deut- schen Krankenhausgesellschaft und den Spitzenverbänden der Träger der gesetzlichen Kranken- versicherung gemeinsam erarbei- tet werden. Administrative Spitzen sollen über medizinische und ärzt- liche Notwendigkeiten entschei-

den. Dies kann von der Ärzteschaft

nicht widerspruchslos hingenom- men werden, denn sowohl ambu- lant wie stationär wollen kranke Menschen doch primär ärztlich behandelt und nicht wirtschaftlich verwaltet werden .

..,.. Die seit 1972 mit lnkrafttreten des ersten Krankenhausfinanzie- rungsgesetzes für das Kranken- hauswesen eingeleitete staatliche Bedarfsplanung, die 1977 durch das Krankenversicherungs-Wei- terentwicklungsgesetz auf die kas- senärztliche Versorgung erweitert wurde, wird durch das neue Kran- kenhaus-Kostendämpfungsgesetz nochmals ausgedehnt. Künftig ha- ben die Kassenärztlichen Vereini- gungen "im Benehmen" mit der für die Krankenhausbedarfspla- nung zuständigen Landesbehörde und der Krankenhausgesellschaft

"darauf hinzuwirken, daß bei der Anschaffung, Nutzung und Mitbe- 48 Heft 21 vom 28. Mai 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe AlB

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nutzung medizinisch-technischer Großgeräte durch an der kassen- ärztlichen Versorgung teilneh- mende Ärzte die regionalen Ver- sorgungsbedürfnisse, insbeson- dere die Leistungserfordernisse benachbarter Krankenhäuser so- wie die Erfordernisse der kassen- ärztlichen Versorgung berück- sichtigt werden und einen wirt- schaftlichen Einsatz der Geräte si- chern. Der an der kassenärztli- chen Versorgung teilnehmende Arzt hat eine beabsichtigte An- schaffung, Nutzung oder Mitbe- nutzung medizinisch-technischer Großgeräte der Kassenärztlichen Vereinigung anzuzeigen".

Natürlich muß sich jeder darum bemühen, seine Investitionen wirt- schaftlich zu nutzen. Ob das aber durch Investitionslenkung für nicht näher definierte „Großgerä- te" auch bei niedergelassenen Ärzten möglich ist, muß ange- sichts der Ergebnisse staatlicher Krankenhausplanung des letzten Jahrzehntes doch glatt verneint werden.

• Auch das Beispiel anderer Län- der zeigt jedem objektiv Urteilen- den, daß immer detailliertere staatliche Planwirtschaft, die sich an einem durch politischen Be- schluß festgelegten „Bedarf" und nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, nicht zu grö- ßerer Effizienz geführt hat, son- dern häufig nur eine jeden Sätti- gungsgrad übersteigende „büro- kratisch-administrative Überver- sorgung" und Mißwirtschaft be- wirkt.

• Die Chance, die Finanzierung unseres Krankenhauswesens vom Grundsatz her neu zu überdenken, wurde vor lauter vordergründigem.

Kostendämpfungsstreben nicht genutzt. Der Streit um Kompeten- zen zwischen Bund und Ländern verhinderte die Klärung von Grundsatzfragen, wie zum Bei- spiel der Zweckmäßigkeit von Du- al- und Mischfinanzierungssyste- men. Diese Finanzierungsarten führen unabhängig von dem Kom- petenzengerangel zwischen Bund

und Ländern dahin, daß der Staat sich nicht auf Richtlinienkompe- tenzen beschränkt, sondern sich mit relativ geringen Geldbeträgen gleichsam das Recht zur Bestim- mung aller Details erkauft.

Auch dieses Gesetz kuriert daher lediglich an Symptomen. Die An- reize für betriebswirtschaftlich vernünftige, sparsame Verhaltens- weisen sind auch künftig unzurei- chend. Der Entstehung unnötiger Kosten wird zu wenig wirksam vor- gebeugt, weil auch weiterhin nach dem Selbstkostendeckungsgrund- satz Kosten erstattet werden, an- statt Leistungen zu bezahlen. Es muß auch im Krankenhaus er- reicht werden, daß nicht einfach Kosten gedeckt, sondern wirt- schaftlich erbrachte Leistungen je nach Leistungsspektrum und Ver- sorgungsstufe angemessen vergü- tet werden. Dazu ist mehr Trans- parenz nötig.

Forderungen der Ärzteschaft zur Novellierung der

Bundespflegesatzverordnung

• Da zur Zeit die Beratungen zur Novellierung der Bundespflege- satzverordnung in eine entschei- dende Phase treten, sei aus Grün- den der Aktualität nochmals die Forderung der Ärzteschaft wieder- holt, künftig die Pflegesätze zu dif- ferenzieren in Kosten für

— Unterbringung und Verpflegung,

— ärztliche Leistung,

— pflegerische Leistung,

— Sachleistungen,

— Vorhaltung.

Erst wenn man Art und Umfang der erbrachten Leistungen kennt, kann man beurteilen, ob ein Kran- kenhaus wirtschaftlich arbeitet.

Mit Wirtschaftlichkeitsprüfungen, die sich wie bisher an nicht aussa- gekräftigen und unzulänglichen Parametern orientieren und dar- aus abgeleiteten heckenschnittar- tigen Sparmaßnahmen und Stel- lenplankürzungen sind die Proble- me nicht zu bewältigen. Es muß

vielmehr befürchtet werden, daß sie wieder nur kostentreibende Fehlentscheidungen bewirken.

Doch auch hier muß es das Ziel sein, Einsatzbereitschaft und Lei- stung zu belohnen und nicht zu bestrafen.

Für unser gesamtes Gesundheits- wesen ist im übrigen die aus- schließliche Orientierung an der jeweils im Jahreswirtschaftsbe- richt aufgezeigten Entwicklung von Bruttosozialprodukt oder Grundlohnsumme nicht sachge- recht. Das entspricht auch nicht dem gesetzlichen Auftrag, denn im § 405 a der Reichsversiche- rungsordnung ist ausdrücklich festgestellt:

„Die an der gesundheitlichen Ver- sorgung der Bevölkerung Beteilig- ten entwickeln mit dem Ziel einer den Stand der medizinischen Wis- senschaft berücksichtigenden be- darfsgerechten Versorgung und ei- ner ausgewogenen Verteilung der Belastungen gemeinsam

1. medizinische und wirtschaftliche Orientierungsdaten

und

2. Vorschläge zur Rationalisierung, Erhöhung der Effektivität und Effi- zienz im Gesundheitswesen

und stimmen diese miteinander ab (Konzertierte Aktion im Gesund- heitswesen).

Eine starre Anbindung an aus- schließlich ökonomische Daten ist also nicht nur nicht zweckmäßig, sondern sogar gesetzeswidrig. Auf Drängen der Ärzteschaft und der Krankenkassen sollen deshalb künftig in die Überlegungen der Konzertierten Aktion endlich me- dizinische Orientierungsdaten mit einbezogen werden, die der Ge- setzgeber ja sogar an erster Stelle nannte.

• Um nicht mißverstanden zu werden, sei ausdrücklich betont:

Die Forderung nach Berücksichti- gung medizinischer Orientie- rungsdaten zur Sicherung einer bedarfsgerechten, dem Stand der medizinischen Wissenschaft ent- Ausgabe A/B DEUTSCHES ARZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 21 vom 28. Mai 1982 51

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Die Information:

Bericht und Meinung

Vilmar: Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik

sprechenden Versorgung der Be- völkerung darf nicht als Forde- rung nach Einkommensvermeh- rung für Ärzte ausgelegt werden.

Das sei mit besonderem Nach- druck auch denen gesagt, die glaubten, meine Ausführungen auf dem Deutschen Ärztetag in Trier zu diesem Thema verfäl- schen zu können, um damit ihr politisches Geschäft zu machen.

Es geht hier nicht um „Geschäft", es müssen vielmehr alle Anstren- gungen darauf gerichtet werden, unser freiheitliches System der so- zialen Sicherung auch in Zukunft finanzierbar zu erhalten. Das gilt sowohl für die gesetzliche als auch für die private Krankenversi- cherung.

• Zu einem freiheitlichen System gehört Pluralismus und die Frei- heit für mündige Bürger, soziale Sicherung auch im Krankheitsfalle im Rahmen der Möglichkeiten nach individuellen Bedürfnissen zu gestalten. Eine mit der Begrün- dung angeblicher Chancengleich- heit etablierte Zwangseinheitsver- sicherung würde diesen Erforder- nissen nicht gerecht. Eine starre Fixierung der Ausgaben muß zwangsläufig zu Leistungsminde- rungen und zur Zuteilung von Ge- sundheitsleistungen führen. Indi- viduelle Bedürfnisse der Kranken können dann nicht mehr hinrei- chend berücksichtigt werden. Das Mittelmaß würde allgemein ver- bindliche Meßlatte, und dem ein- zelnen blieben kaum mehr Gestal- tungsmöglichkeiten als in einem Termitenstaat.

Bei der Beurteilung der Kosten- entwicklung im Gesundheitswe- sen müssen viele Faktoren beach- tet werden, die überhaupt nichts mit den Einkommen der Ärzte oder anderer im Gesundheitswe- sen Tätiger zu tun haben. So müs- sen die demographischen Ver- schiebungen mit einem zuneh- menden Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung und die bei älteren Menschen festzustellende Multimorbidität ebenso berück- sichtigt werden wie die Fortschrit- te in der operativen oder medika-

mentösen Therapie. Durch Lang- zeitbehandlung kann vielen Men- schen ein früher verlorener Ab- schnitt ihres Lebens oft jahre- oder jahrzehntelang erhalten wer- den. Zu erwähnen sind weiter die Fortschritte bei operativem Gefäß- und Gelenkersatz, bei Hämodialy- se und Organtransplantationen ebenso wie erweiterte Möglichkei- ten in der Onkologie oder in der Prävention, der Therapie und der Rehabilitation von Herz- und Kreislauferkrankungen.

Dies alles hat zu einem starken Anwachsen der Zahl dauerbe- handlungsbedürftiger Patienten geführt. Wer daraus aber auf ein

„Versagen der Medizin" schließen will, offenbart damit entweder völ- lige Unkenntnis aller Zusammen- hänge oder setzt sich dem Ver- dacht aus, er wolle aus Kosten- gründen kranke Menschen plan- wirtschaftlichen Ausleseprozes- sen aussetzen. Ein derartiger Akt der Inhumanität wäre jedoch mit ethischen Grundnormen des Arz- tes nicht vereinbar.

Reformeuphorie hat das System

über Gebühr belastet

• Es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß es Ärz- ten und Krankenkassen in gemein- samer Selbstverwaltung gelungen ist, die sprunghaften Fortschritte der Medizin, das außerordentlich breite Leistungsspektrum mit vie- len noch vor wenigen Jahren und Jahrzehnten unbekannten diagno- stischen und therapeutischen Me- thoden jeweils unverzüglich für die Patienten nutzbar zu machen.

Der damit verbundenen Kosten- und Leistungsexpansion steht ei- ne mindestens ebenso große Nut- zenexpansion gegenüber. Das Sy- stem unserer sozialen Sicherheit hat sich also bewährt, und Schwierigkeiten sind keineswegs systemimmanent.

Erst die Überlastung des Systems infolge permanenter Erweiterung des Krankheitsbegriffes durch Ge-

setzgeber und Rechtsprechung sowie die Überwälzung von Aufga- ben des Staates auf die Kranken- versicherung stellte die Selbstver- waltung vor Probleme. Probleme, die zusätzlich dadurch vergrößert worden sind, daß die einzelnen Zweige der sozialen Sicherung im- mer mehr als ein einziger großer Rührtopf — gewissermaßen als

„Gesamtversicherung" — betrach- tet werden, in dem je nach Erfor- dernis gewaltige Finanzmassen hin- und hergeschoben werden können.

Eine Reihe gesetzlicher Bestim- mungen aus den Zeiten der Re- formeuphorie, zu denen allein grö- ßere Geldausgaben schon als Fortschritt und Reform bezeichnet wurden, hat sich als nutzlos, über- flüssig oder sogar schädlich er- wiesen. Die mit nahezu täglich er- gänzten Mängellisten neu ent- deckter Not- und Mißstände be- triebene Bedarfserweckung trug zusammen mit dem Bestreben mancher Reformperfektionisten nach substilster gesetzlicher Re- gelung zu ganz erheblichen Ko- stensteigerungen bei. In rascher

Folge wurden ständig neue Rand- gruppen entdeckt, denen man durch eine Flut neuer gesetzlicher Bestimmungen soziale Fürsorge angedeihen lassen und sogenann- te Chancengleichheit eröffnen wollte. Die allmähliche Umwand-

lung nahezu der gesamten Gesell- schaft in eine „Randgruppenge- sellschaft" muß aber wegen Über- forderung des Systems schließlich dazu führen, daß gerade denen nicht mehr wirksam geholfen wer- den kann, die Solidarität und Hilfe am dringendsten benötigen.

Ein typisches Beispiel dafür ist das Schwerbehindertengesetz, das zu einer geradezu explosionsartigen Vermehrung der Anerkennungen von Behinderten geführt hat. Der größte Teil von ihnen kann zu de- ren eigenem Glück und zum Glück der Gesellschaft arbeits- und ein- satzfähig wie jeder andere seiner

Beschäftigung nachgehen. Ande- rerseits wird dadurch die Zahl der für tatsächlich Behinderte vorbe- 52 Heft 21 vom 28. Mai 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A/B

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haltenen Arbeitsplätze drastisch reduziert. In der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit wirklich Behin- derten kann deshalb häufig nicht mehr wirksam geholfen werden.

Ihnen entstehen vielmehr durch vielleicht wohlgemeinte, in den Folgerungen aber nicht ausrei- chend durchdachte gesetzliche Maßnahmen zusätzliche Nachtei- le. Hier sollte der Gesetzgeber un- verzüglich tätig werden.

• Es muß endlich eingesehen werden, daß mit ständig neuen Umverteilungsmechanismen, mit Steuererhöhungen und staatlich finanzierten und reglementierten Beschäftigungsprogrammen so- wie der permanenten Prüfung der Belastungsfähigkeit der Wirt- schaft die vor uns liegenden schwierigen Probleme nicht be- wältigt werden können. Die Bela- stungsfähigkeit der Leistungswilli- gen und der Wirtschaft ist längst erreicht oder schon überschritten.

Man ist angesichts der weitver- breiteten Alimentations- und An- spruchsmentalität sogar versucht zu fragen, wer sich nun endlich um die „Randgruppe der Lei- stungsbereiten und Arbeitswilli- gen" kümmern will.

• Eine Wende zum Besseren er- fordert ein Umdenken. Sie ist nicht mit immer neuen gesetzlichen Re- glementierungen zu erreichen. Es muß überlegt werden, ob die Soli- dargemeinschaft tatsächlich künf- tig für jede noch so kleine Ge- sundheits- und Befindensstörung eintreten kann und muß oder ob nicht im Interesse der wirklich Hilfsbedürftigen die Grenzen neu gezogen werden müssen, damit wir nicht in kurzer Zeit unser Ge- samtsystem der sozialen Siche- rung hoffnungslos überfordern und damit dauerhaft zerstören.

• Die überzogene Anspruchs- mentalität und Erwartungshaltung gegenüber dem Staat oder der So- lidargemeinschaft muß aufgege- ben werden. Jeder einzelne muß wieder mehr Bewußtsein dafür entwicklen, daß in erster Linie er selbst für die Gestaltung seines

Lebens sowie die Sicherung sei- ner und seiner Familie Existenz und Gesundheit verantwortlich ist und nur da, wo seine Kräfte über- fordert sind, nach dem Subsidiari- tätsprinzip Solidargemeinschaften oder der Staat helfen können und sollen. Zu mündigen Bürgern ge- hört Eigeninitiative und Eigenver- antwortung.

In der Bevölkerung wächst das Unbehagen über die immer teure- re, allumfassende Fürsorge und die Bereitschaft, sich den verän- derten Verhältnissen anzupassen und nicht ständig auf Kosten der nächsten und übernächsten Gene- ration zu leben. Das Verhalten mündiger Bürger wird sich aber erst ändern, wenn sie auch davon überzeugt sind, daß sich Leistung und Einsatzbereitschaft lohnen und sie nicht durch immer neue Umverteilungsmechanismen um den Gegenwert ihrer Arbeit ge- bracht werden.

Immer noch mehr

staatlicher Dirigismus und allumfassende Fürsorge?

Leider sind bei vielen Planungs- ideologen derartige Einsichten noch nicht festzustellen. Auch die kürzlich auf dem Bundesparteitag der SPD vorgelegten und teilweise verabschiedeten Überlegungen zur künftigen Gestaltung unserer Sozial- und Gesundheitspolitik lassen von einem Umdenken we- nig spüren. Neben den sattsam be- kannten „Alten Hüten", wie der Forderung nach Ambulatorien, der Erweiterung bestehender Kli- niken zu Polikliniken, der Beseiti- gung des „Behandlungsmono- pols" niedergelassener Ärzte und

„starrer Abgrenzungen" zwischen der ambulanten und stationären Versorgung, der Abschaffung des Liquidationsrechtes und der For- derung nach Finanzausgleich und Einheitskrankenversicherung, wurden dort wiederum Vorstellun- gen zur Einbeziehung der Selb- ständigen und Beamteten in die gesetzliche Krankenversicherung, zur Aufhebung der Versicherungs-

pflichtgrenze, zur grundlegenden Umgestaltung des Rentenrechtes mit ,Volksrente" und allgemeiner Versicherungspflicht entwickelt.

Zweifellos wird vieles davon im Papierkorb landen, für manches wird aber im Recycling-Verfahren die Wiederverwendung versucht werden. Denn es wird auch in Zu- kunft Menschen geben, die nicht bereit oder in der Lage sind, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die mehr staatlichem Dirigismus und allumfassender Fürsorge vertrauen als eigener Leistung und persönlicher Frei- heit.

Wegen der klaren Absage des klei- neren Koalitionspartners haben derartige Vorstellungen minde- stens in der jetzigen Regierungs- koalition jedoch keinerlei Chan- cen, in Regierungspolitik umge- setzt zu werden oder gar im Parla- ment Mehrheiten zu finden. So er- freulich diese Feststellung ist, so sehr ergibt sich daraus die Frage, welchen Handlungsspielraum eine Regierung überhaupt noch hat, wenn die Vorstellungen der sie tragenden Parteien derart diame- tral entgegengesetzt sind. Auch nach der Regierungsumbildung Ende April 1982 und dem Wechsel in den gerade für die Ärzteschaft bedeutsamen Ministerien für Ar- beit und Sozialordnung sowie für Jugend, Familie und Gesundheit erscheint es fraglich, ob damit al- lein mehr Handlungsspielraum eröffnet werden kann. Denn bis- lang scheinen trotz wiederholter Koalitionsgespräche die Grund- richtungen eher weiter auseinan- derzulaufen, während die Proble- me die gleichen bleiben und die Kassen sich täglich schneller lee- ren.

Damit ist auch das Schicksal von gesetzlichen Neuregelungen, die bis 1984 erfolgen sollen und die Ärzteschaft betreffen würden, noch ungewiß. Das gilt für die auf- grund des Bundesverfassungsge- richtsbeschlusses notwendige Neuordnung der Altersversorgung von Mann und Frau ebenso wie für den Beschluß des Bundeskabi- Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 21 vom 28. Mai 1982 57

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Die Information:

Bericht und Meinung

Vilmar: Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik

netts vom Sommer 1981, Struktur- fragen in der gesetzlichen Kran- kenversicherung bis 1984 zu re- geln. Es ist zu prüfen, ob sich die bisher bekanntgewordenen Vor- stellungen (zum Beispiel zur Ein- führung von prästationärer Dia- gnostik und poststationärer The- rapie, teilstationärer Behandlung durch Krankenhäuser, Beteiligung von Polikliniken an der kassen- ärztlichen Versorgung zu gleichen Bedingungen wie freipraktizieren- de Kassenärzte, auf Einführung von Positivlisten und Einbezie- hung der Ersatzkassen in die Reichsversicherungsordnung und schließlich die Beseitigung des gegliederten Krankenversiche- rungssystems) über den Wechsel von Ministern und Staatssekretä- ren hinaus erhalten haben, ob- wohl sie schon wegen anderer Vorstellungen des kleineren Koali- tionspartners nicht konsensfähig werden können. Oder werden sich jetzt endlich Vorstellungen durch- setzen, die auf die Erhaltung des gegliederten Systems und eine wirkliche Stärkung der Selbstver- waltung auch im stationären Be- reich, auf mehr Gestaltungsmög- lichkeit und eine Abkehr von allzu dirigistischer staatlicher Planung hinauslaufen, und können mehr Leistungsanreiz und eine Stär- kung des Wettbewerbs durchge- setzt werden? Eine ursprünglich geplante grundlegende Reform der Alterssicherung dürfte wegen der damit verbundenen Finanzie- rungsprobleme schon jetzt ge- scheitert sein, doch gilt es auch auf diesem, wegen unserer Ver- sorgungswerke wichtigen Gebiet unvermindert wachsam zu blei- ben.

• Es ist zu wünschen, daß in den für die nächsten Wochen vorgese- henen Gesprächen mit den neuen Ministern Klarheit in diesen für die Ärzteschaft existentiell bedeutsa- men Fragen gewonnen werden kann.

e

Dabei muß auch geprüft wer- den, ob die noch Ende März vom damaligen Bundesarbeitsminister Dr. Ehrenberg erläuterten Vorstel-

Iungen zur Novaliierung der amtli- chen Gebührenordnung für Ärzte unverändert weiterverfolgt werden oder ob sich bezüglich des Inhalts und der zeitlichen Abläufe Ände- rungen ergeben.

Gebührenordnung -

im Arbeitsministerium noch einmal durchdenken!

..,.. ln dem Gespräch am 30. März 1982 waren im Arbeitsministerium zwar einige von der Ärzteschaft in den allgemeinen Bestimmungen als undurchführbar bezeichnete Punkte fallengelassen worden wie zum Beispiel die Unterschrifts- pflicht für den Arzt auf jeder Rech- nung oder der für einen Anpas- sungsmechanismus vorgesehene Beirat nach Art der Konzertierten Aktion. ln den Kernpunkten haben sich bislang aber kaum Verände- rungen erkennen lassen.

..,.. Eine Abdingung soll, wie auch in den früheren Entwürfen, nur für die Höhe der einzelnen Gebühren- ordnungspositionen möglich sein, während alle anderen Bestimmun- gen nach den Vorstellungen des Arbeitsministeriums offenbar un- ter Verletzung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit - verbindlich bleiben sollen.

..,.. Weiterhin ist geplant, zwischen zwei Kategorien von Leistungen zu unterscheiden, die ursprüng- lich als "ärztliche" und "techni-

sche" Leistungen gekennzeichne-

ten Positionen sollen jetzt zwar freundlicher klingende Bezeich- nungen erhalten wie "überwie- gend persönliche Leistungen mit geringen Praxiskostenanteilen"

und "überwiegend nicht-persönli- che Leistungen mit hohen Praxis- kostenanteilen"; in der Sache än- dert das aber kaum etwas. Es ge- hört also schon ein Übermaß an Gutgläubigkeit oder blinde Ver- trauensseligkeit dazu, um hier nicht von Etikettenschwindel zu sprechen.

..,.. Für die "überwiegend persönli- chen Leistungen" soll ein Multipli-

kator bis zum 3,5-fachen, für die anderen ein solcher bis zum 2,5- fachen vorgesehen werden, der je- doch nur bei Überschreiten einer Begründungsschwelle von 2,3 be- ziehungsweise 1 ,8 erreicht werden kann.

..,.. Insgesamt rechnet das Arbeits- ministerium mit einer Minderung des Liquidationsvolumens von rund 10 bis 11 Prozent im Ver- gleich zu dem von 1981, und man darf davon ausgehen, daß diese Schätzung der Liquidationsmin- derung bewußt gering angesetzt ist. Es verletzt damit den von ihm selbst immer wieder unterstriche- nen Grundsatz der Kostenneutra- lität

..,.. Doch auch in anderen Punkten ist man nicht zimperlich, so zum Beispiel, wenn man in der amtli- chen Begründung die gemeinsa- men Bemühungen der Bundesärz- tekammer und des Verbandes der Privaten Krankenversicherung zur Erhaltung des Systems der priva- ten Versicherungen in geradezu infamer Weise umdeutet und als Begründung für die Einführung ei- nes Schwellenwertes nimmt, den die Bundesärztekammer immer als Etappe zur Einheits-Gebühren- ordnung bezeichnet hat.

..,.. Aus Gründen der Aktualität sei auch an dieser Stelle nochmals wiederholt, daß die 1965 als Über- gangsgebührenordnung erlasse- ne amtliche Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) weder dem heutigen Stand der Entwicklung der Medi- zin entspricht noch den seitdem in allen Bereichen der Bundesrepu- blik Deutschland eingetretenen Preissteigerungen angemessen ist. Eine Novaliierung ist überfäl- lig. Die Ärzteschaft wird es aber nicht widerspruchslos hinneh- men, wenn die Novaliierung die Gleichschaltung der privaten Krankenversicherung mit der ge- setzlichen Krankenversicherung einleiten und eine nachhaltige Verschlechterung der Situation der Ärzte gegenüber dem jetzigen Zustand bewirken sollte. Es ist auch in keiner Weise sachgerecht, 58 Heft 21 vom 28. Mai 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe NB

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wenn ärztliche Leistungen, bei de- nen moderne Technik als Hilfsmit- tel dient, zu rein technischen Lei- stungen abqualifiziert werden. Die Arbeit eines Schriftstellers zum Beispiel bleibt doch auch dann geistige Leistung, wenn er für die Niederschrift seiner Gedanken ei- ne Schreibmaschine oder einen Kugelschreiber als technische Hilfsmittel benutzt.

~ Ebenso unerträglich und in den Auswirkungen für Patienten eher nachteilig ist die Einführung von Schwellenwerten, weil sie praktisch die Bedeutung von Richtwerten erlangen und es nicht auszuschließen ist, daß sich je-

weils darüber und darunter neue

"Mittelwerte" bilden werden.

• Der Wechsel in der Spitze des Arbeitsministeriums sollte genutzt werden, um die Dinge dort noch einmal gründlich zu überlegen. Dabei ist es nützlich, sich auf die gesetzliche Ermächtigungsgrund-

lage im Paragraphen 11 der Bun-

desärzteordnung zu besinnen. Da- nach wird die Bundesregierung ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates eine Gebührenord- nung mit "Mindest- und Höchst- sätzen für die ärztlichen Leistun- gen festzusetzen. Dabei ist den be- rechtigten Interessen der Ärzte und der zur Zahlung der Entgelte Verpflichteten Rechnung zu tra-

gen". Eine solche Amtliche Ge-

bührenordnung ist also kein In- strument zur Einkommensrege- lung für Ärzte oder für Kosten- dämpfung im Gesundheitswesen.

• Dabei sei betont, daß der Ärzte- schaft nicht an Kostensteigerun- gen gelegen sein kann, die letzt- lich die Existenz der privaten Krankenversicherung in Frage stellen können. Die Ermächtigung für die Bundesregierung, Entgelte für ärztliche Tätigkeit in einer Ge- bührenordnung zu regeln, darf seitens des Arbeitsministeriums

aber nicht mit Tarifverhandlungen

verwechselt oder als Gebühren- diktat aufgefaßt werden, was allen Grundsätzen der Vertragsfreiheit widerspräche. Die Ärzteschaft je-

denfalls wird sich mit ebenso gro- ßem Nachdruck für die Aufrechter- haltung der Vertragsfreiheit ein- setzen wie für die Erhaltung der Tarifautonomie. Sie erwartet aber auch von anderen Beteiligten, sich ebenfalls künftig für die Wahrung freiheitlicher Prinzipien einzu- setzen.

Dringlich: Novellierungen der Approbationsordnung und der Kapazitätsverordnung Vom Bundesministerium für Ju- gend, Familie und Gesundheit ist nach den bisherigen Zeitplanun- gen in Kürze mit einem Entwurf für eine neue Approbationsordnung zu rechnen, der auf dem Boden des im August 1982 verschickten Positionspapiers entwickelt wor-

den ist. Die Forderungen der Ärz-

teschaft nach Einführung von mündlich-praktischen Prüfungen während des Studiums und einer ausschließlich mündlichen Prü- fung zum Abschluß dürften darin berücksichtigt werden. Dennoch wird es wohl nicht möglich sein, auf die umstrittenen Multiple- choice-Prüfungen völlig zu ver- zichten. ln einem kurz nach dem Ärztetag geplanten Gespräch mit Frau Bundesminster Fuchs wer- den wir- wie ich hoffe- auch den Standpunkt der neuen Spitze des Ministeriums zur Novellierung der Approbationsordnung kennenler- nen. Die Problematik ist im übri- gen Gegenstand des Referates

"Stand der Novaliierung der Ap-

probationsordnung" auf diesem Ärztetag.

Ebenso wichtig wie die Novellie- rung der Approbationsordnung ist für die Qualität der Ausbildung aber eine Neufassung der Kapazi- tätsverordnung. Denn wesentliche Mängel in der Ausbildung beruh- ren auf der immer noch viel zu hohen Studentenzahl und dem daraus resultierenden Mißverhält- nis insbesondere zu praktischen Ausbildungsmöglichkeiten im kli- nischen Teil. Die Ausbildungska- pazität für das Medizinstudium kann sich nicht nach dem letzten

freien Hörsaalplatz in der Vorklinik bemessen, sondern muß das ge- samte Studium zugrunde legen.

Wenn jetzt das Bundesverfas- sungsgericht entschieden hat, daß die Zulassung zum vorklinischen Teil nicht deswegen abgelehnt werden darf, weil ein Studienplatz im klinischen Teil wahrscheinlich nicht zur Verfügung gestellt wer- den kann, muß dies als realitäts- fern bezeichnet werden. Damit kann nur ein zweiter, "innerer Nu- merus clausus" und eine nachhal- tige Staatsverdrossenheit der auf diese Weise an der Nase herumge- führten jungen Menschen bewirkt werden. Die langfristig daraus re- sultierenden Schäden dürften noch weit schwerer wiegen als die für nutzlose Ausbildungsabschnit- te verschleuderten öffentlichen Gelder.

~ Vielleicht kann ein Minister- wechsel Anlaß sein, auch über das außerordentlich hohe Maß an Ver- antwortung gegenüber jungen Menschen und der Gesamtgesell- schaft von neuem und vermehrt nachzudenken und entsprechen- de Konsequenzen zu ziehen.

Auch in Zeiten des Geldmangels und nach dem Wechsel in Mini- sterämtern darf nicht übersehen werden, daß in einer Vielzahl von

"Forschungsprogrammen" und

"Modellversuchen" Aktivitäten

entwickelt werden, die zumindest teilweise als wissenschaftlich frag- würdig bezeichnet werden müs- sen. Einige scheinen sogar eher darauf hinauszulaufen oder sogar zu beabsichtigen, das Vertrauens- verhältnis zwischen Patient und Arzt als Fundament wirksamen ärztlichen Handeins zu erschüt- tern. Offensichtlich wird dabei ver- kannt, daß der Patient nicht medi- zinisch "bearbeitet" und "abge- fertigt", sondern ärztlich behan- delt und versorgt werden will.

Im übrigen fragt sich, welche der mit großem Aufwand aus Steuer- mitteln eingeführten Veränderun- gen der Versorgungsstrukturen mit Einführung von "flächendek- Ausgabe AlB DEUTSCHES ARZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 21 vom 28. Mai 1982 61

(8)

Die Information:

Bericht und Meinung

Vilmar: Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik

kenden sektorisiert soziosoma- tisch-psychosozial integrierten multizentrischen ambulant-statio- nären Vollversorgungsexperimen- ten" nach Wegfall der öffentlichen

Fördermittel später zu Lasten der gesetzlichen Krankenversiche- rung foftgeführt werden können.

Es muß daher schon heute gefragt werden, wer dann den Fortfall ei- nes so nachdrücklich gepriesenen breitgefächerten Angebots verant- worten will, weil dies die finanziel- len Möglichkeiten der Kranken- kassen übersteigt. Oder soll auf diese Weise etwa vorsätzlich ein weiterer Kostentreibsatz installiert werden, um das heutige System zu zerstören und danach ganz anders geartete Vorstellungen durchzu- setzen?

Die Ärzteschaft ist selbstverständ- lich neuen Erkenntnissen gegen- über immer aufgeschlossen, vor allem wenn damit eine Verbesse- rung der Versorgung der Patien- ten verbunden ist oder es sogar gelingen sollte Krankheiten von vornherein weitgehend zu verhin- dern. Diese Aufgeschlossenheit ist vielfach bewiesen. Ohne die stän- dige Umsetzung neuer Erkennt- nisse in die tägliche Praxis hätte unser Gesundheitswesen nämlich nicht den auch im internationalen Vergleich sehr guten Stand. Wenn trotz aller Leistung Kritik am ge- samten System öder an einzelnen Ärzten vorgebracht wird, so ba- siert diese vielfach darauf, daß die Erwartungshaltung zu hoch ge- schraubt wurde. Bei allem Fort- schritt ist es auch heute nicht möglich, in jedem Fall die Gesund- heit wiederherzustellen oder zu er- halten, wenn die eigentlichen Ur- sachen der betreffenden Krank- heit noch nicht hinreichend aufge- klärt werden konnten oder wenn das Ausmaß der Schädigung aus eigenem oder fremdem Verschul- den zu groß ist. Man darf auch nicht vergessen oder verdrängen:

Wie weit der Fortschritt auch füh- ren mag — unser menschliches Le- ben ist endlich!

Als Ärzte dürfen wir die Kritik der Öffentlichkeit nicht einfach als un-

begründet zurückweisen. Wir müssen uns vielmehr um noch bessere Information auch mit Hilfe der meinungsbildenden Medien bemühen. Es kommt darauf an, in verständlicher Sprache teilweise außerordentlich schwierige Zu- sammehänge zu erklären. Es gilt dabei nicht nur die Kranken, son- dern vor allem die Mehrheit der Gesunden davon zu überzeugen, daß den zweifellos beachtlichen Kosten entsprechende Leistungen und großer volkswirtschaftlicher Nutzen gegenüberstehen.

Dem Tötungstreiben der „Sterbegesellschaft"

ein Ende bereiten!

Mit guten Gründen kann auch der seit einiger Zeit modischen Kritik an der Apparate- und Maschinen- medizin, die teilweise mit dem Vorwurf der Inhumanität verbun- den wurde, begegnet werden, ebenso wie der völlig unsinnigen Forderung nach Entwissenschaft- lichung der Ausbildung. Die für viele Menschen außerordentlich segensreichen Fortschritte der Medizin resultieren ja gerade dar- aus, daß in großem Maße wissen- schaftlich begründete Diagnostik und Therapie möglich wurde. Mo- derne Medizin ist ohne Benutzung differenzierter Technik und kom- plizierter Apparate nicht denkbar, ebensowenig wie ohne hochwirk- same Arzneimittel. Chemie und Physik bleiben aber dennoch im- mer nur Mittel zum Zweck, sie dür- fen nicht Selbstzweck werden und können ärztliches Handeln nie- mals ersetzen.

Obwohl Fortschritt immer aus dem Überschreiten bisher als un- abänderlich angesehener Grenzen resultiert, muß nicht nur wegen der Kostenentwicklung, sondern auch aus ethischen Gründen über- legt werden, ob auch künftig alles gemacht werden darf, was zur Weiterentwicklung der Forschung interessant, wissenschaftlich oder technisch möglich ist. Das gilt in besonderem Maße für die Intensiv- medizin. Für die Ärzte ergab sich

hier zum Beispiel die früher unbe- kannte Problematik des dissoziier- ten Hirntodes. Die kürzlich vom Wissenschaftlichen teirat und vom Vorstand der Bundesärzte- kammer veröffentlichten Kriterien zur Feststellung des Hirntodes sol- len dazu beitragen, den Ärzten im Einzefall Entscheidungshilfe zu geben. Sie sollen der Öffentlich- keit klarzumachen helfen, daß in- tensivmedizinische Gerätschaften nicht eingesetzt werden, um ledig- lich das Sterben zu verlängern. Sie sollen aber auch die bei manchen Menschen bestehende Angst und Sorge überwinden helfen, daß et- wa ärztliche Bemühungen einge- stellt werden könnten, obwohl noch Aussicht auf Heilung und Wiederherstellung der Gesundheit bestünde.

Zu den ursprünglichsten Auf- gaben des Arztes gehört es heute und in Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit, Leben zu erhalten, Leiden zu lindern und dem Kran- ken nicht zu schaden. Mit diesem Auftrag ist es unvereinbar, not- wendige Behandlungsmaßnah- men zu unterlassen oder sogar Le- ben aktiv zu beenden, wie dies in den vergangenen Monaten angeb- lich im Interesse humanen Ster- bens lautstark gefordert wurde.

Die Ärzteschaft wird sich an Tö- tungsaktivitäten nicht beteiligen.

Sie sind inhuman und zerstören jegliche Vertrauensbasis zwischen Patient und Arzt. Wir werden uns als Ärzte also auch künftig unserer Verpflichtung bewußt sein, Leben in jeder Phase, sei es am Anfang oder am Ende, zu schützen und zu erhalten.

Hier auf dem Ärztetag ist ein offe- ner Brief der Deutschen Gesell- schaft für humanes Sterben (DGHS) eingegangen, aus dem ich einiges zitieren möchte. Dem Brief lag bei eine Kopie eines Briefes der gleichen Gesellschaft, der an die „Vorstandsvorsitzenden aller gesetzlichen und privaten Kran- kenkassen der Bundesrepublik Deutschland" gerichtet ist. In dem ersten, an mich gerichteten, Schreiben heißt es:

62 Heft 21 vom 28. Mai 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A/B

(9)

„Die Deutsche Gesellschaft für hu- manes Sterben kritisiert . . ., daß der Ärztetag einmal wieder über die die Öffentlichkeit bewegenden Proble- me der Humanisierung und Demo- kratisierung unserer Krankenhäuser schweigt. Die deutsche Ärzteschaft befindet sich nicht auf einer ,seeli- gen Insel', um die wichtigsten Sor- gen und Nöte der Patienten ... zu ignorieren. Das ärztliche Schweige- recht, das Sie so stark als ,Recht des Patienten' propagieren, kann auch als Recht des Arztes angesehen wer- den, der Öffentlichkeit Informatio- nen über jene Zustände vorzuenthal- ten, wie sie über Sterbende tagtäg- lich der DGHS berichtet werden.”

Und weiter: „Die DGHS fordert den 85. Deutschen Ärztetag auf, die Pro- bleme der Rechte der Patienten ins- besondere das Recht auf Sterbehilfe zu erörtern und eine rechtsverbindli- che Regelung der passiven Sterbe- hilfe . .. zu begrüßen. Wenn die Bundesärztekammer es mit ihren ,Richtlinien zur Sterbehilfe' vom März 1979 ernst meint, dann sollte sie auch dafür eintreten, daß die Richtlinien geltendes Recht werden.

... Die DGHS (würde) eine Initiative der deutschen Ärzteschaft zur Lega- lisierung der passiven Sterbehilfe begrüßen. . .. sie wendet sich gegen berufspolitische Strukturen inner- halb der Ärzteschaft, die es dem ein- zelnen Arzt versagen, seinem Gewis- sen zu folgen und sich human ge- genüber dem Patienten zu ver- halten."

In dem Schreiben an die Vor- standsvorsitzenden aller Kranken- kassen heißt es unter anderem, nachdem eingangs vom techni- schen Fortschritt die Rede war:

„Dieser medizin-technische Fort- schritt erhöhte aber auch die Macht der Mediziner über den Patienten".

Und weiter: „Berichte ... bestätigen immer wieder die Vermutung, daß die Grenze von Lebensrettung und Sterbensquälerei, obwohl mitunter nur schwer feststellbar, allzuoft ge- wollt mißachtet wird. Die DGHS hat daher Maßnahmen überlegt, die den Patienten vor den folgenden Moti- ven der in Krankenanstalten tätigen Fachleute schützen sollen:

— Gewinnstreben,

— Profilierung durch gewagte Ope- rationen,

— Auslastung teurer Maschinen und

— hohe Belegquote der Kranken- hausbetten.

Die DGHS unterstellt dabei dem Krankenhauspersonal keineswegs, sich überhaupt oder vorwiegend von diesen Motiven leiten zu lassen, sieht aber hier gewisse ,menschli- che Versuchungen', gegen die es für den Patienten keine hinreichende Sicherheit gibt." Es heißt weiter im Brief dieser Gesellschaft: „Die Deut- sche Gesellschaft für humanes Ster- ben wird alle ihre Mitglieder, die in der DGHS-Bank für Patientenverfü- gungen deponiert haben, auffor- dern, Duplikate dieser Verfügungen ihren Krankenkassen zu schik- ken ... Eine Kopie der jeweiligen Patientenverfügung ermöglicht, ih- nen (Vilmar: also den Krankenkas- sen) zu erkennen, ob Honorar- und Kostenforderungen von Ärzten bzw.

Krankenhäusern berechtigt sind oder nicht. Diese Maßnahme . könnte sich allein schon darin am effektvollsten erweisen, daß künftig sinnlose Behandlungen unterblei- ben, da der Geldgeber für solche Maßnahmen in die Lage versetzt wird, urteilen zu können, wo er bis- her nur annehmen mußte." Und dann: „Die Haltung ärztlicher Stan- despolitiker ist in dieser Hinsicht nicht immer identisch mit der des einzelnen Arztes."

Das sind nur die gröbsten Ab- schnitte aus diesen beiden Schrei- ben. Ich kann das alles nur als infam zurückweisen. Sollen denn etwa künftig Krankenkassen und Versicherungen über ärztliche Be- handlungsmaßnahmen entschei- den? Sollen etwa Exekutionen von Menschen ein Mittel zur Kosten- dämpfung werden? Soll vielleicht das Angleichen der Mortalität an Bruttosozialprodukt oder Grund- lohnsumme das Resultat sein?

Sollen wir wieder Entwicklungen Tür und Tor öffnen, die dazu füh- ren, daß irgend jemand das Recht bekommt, über lebensunwertes Leben zu entscheiden und Men- schen abzuspritzen, wenn es nicht mehr gefällt? Das sind Dinge, die nach dem Kriege mit Recht zur Verurteilung der wenigen in der NS-Zeit daran beteiligten Ärzte ge- führt haben und die in dem Buch

„Medizin ohne Menschlichkeit", dokumentiert sind. Man lese das doch einmal nach!

Selbstverständlich wollen wir auch in der Intensivmedizin keine Medizinalartistik betreiben und die Apparate brummen lassen, nur weil sie da sind. Es muß in jedem Einzelfall nach individuellen Ge- sichtspunkten entschieden wer- den. Dazu dienen auch die vom Wissenschaftlichen Beirat sehr sorgfältig erarbeiteten Richtlinien.

Es muß aber ganz klar gesagt wer- den, daß der Patient kein Delin- quent ist, der Arzt kein Totschlä- ger und kein Henker. Solche For- derungen wie die der „Deutschen Gesellschaft für humanes Ster- ben" stehen auch im Widerspruch zu den Deklarationen des Weltärz- tebundes von Tokio aus dem Jahr 1975 und aus Lissabon von 1981, wo die Ärzteschaft der Welt die Mitwirkung bei Folter und Grau- samkeiten, wie beim Abhacken von Gliedmaßen, oder beim Voll- zug der Todesstrafe ablehnt.

Ich fordere an dieser Stelle öffent- lich auf, diesem Treiben der DGHS mit der Aufforderung zum Töten endlich ein Ende zu bereiten!

Fortbildung so notwendig wie organisatorische Vorkehr gegen Katastrophen

• Die Verpflichtung des Arztes, Leben zu schützen und zu erhal- ten, gilt auch bei Katastrophen oder bei einem Massenanfall von Verletzten. In der Fortbildung wid- met die Bundesärztekammer des- halb dem lange vernachlässigten Gebiet der Katastrophenmedizin besondere Aufmerksamkeit. Zur Fortbildung in Katastrophenmedi- zin gehören auch Kenntnisse in der gegebenenfalls notwendigen Sichtung, der Triage. Denn wenn die Zahl der Hilfsfähigen geringer ist als die der Hilfsbedürftigen, gilt es denjenigen zielstrebig zu hel- fen, die Hilfe am dringendsten be- nötigen. Dem Problem der Sich- tung und der Entscheidung, wem zuerst geholfen werden muß, steht ein Arzt auch dann gegenüber, wenn er allein mehrere Verletzte, zum Beispiel bei einem Verkehrs- unfall, versorgen muß. Schon aus diesem Grunde ist der Vorwurf Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 21 vom 28. Mai 1982 65

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Die Information:

Bericht und Meinung

Vilmar: Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik

„Sichtung" diene der Kriegsmedi- zin, sie sei sogar einer „Selektion"

vergleichbar, ebenso bösartig wie unbegründet.

Natürlich sind organisatorische Vorbereitungen — möglichst auf der Grundlage bundesgesetzli- cher Regelungen — für alle auch nur ungefähr abschätzbaren Si- tuationen ebenso nötig. Es müs- sen Vorkehrungen getroffen wer- den, um unter Katastrophenfällen möglichst vielen Verletzten und Hilfsbedürftigen mit vielleicht un- zulänglichen Mitteln ein Überle- ben zu ermöglichen und gesund- heitliche Schäden, soweit es ir- gend geht, abzuwehren und zu mindern. Wenn dazu in der Öffent- lichkeit verschiedentlich der Vor- wurf erhoben wurde, dies diene der Vorbereitung von kriegeri- schen Auseinandersetzungen bis hin zum Atomkrieg, so ist das nur als absurd zu bezeichnen. Der Vorwurf pervertiert die Realitäten, er läßt jede Kenntnis der Zusam- menhänge vermissen und ist ge- nauso unsinnig, als wolle man be- haupten, daß Straßen- und Auto- mobilbau der Vorbereitung von Verkehrsunfällen und Massenka- rambolagen oder Löschübungen der Feuerwehr der Vorbereitung von Großbränden dienen.

• Massenunfälle und Katastro- phen hat es leider seit Menschen- gedenken immer wieder gegeben.

Sie sind auch in Zukunft trotz aller Bemühungen nicht mit absoluter Sicherheit zu vermeiden. Es gilt also, sich darauf vorzubereiten.

Mangelt es aber schon an der not- wendigen Vorbereitung, hat allein diese Unterlassung möglicherwei- se den sicheren Tod für viele Men- schen zur Folge, denen mit recht- zeitigen Überlegungen wirksame lebensrettende Hilfe hätte zuteil werden können.

Selbstverständlich gibt es auch unter Katastrophenbedingungen Grenzen ärztlicher Hilfsmöglich- keiten. Das gilt besonders für ato- mare Auseinandersetzungen. Es wäre in hohem Maße leichtfertig, wenn Politiker und Militärs Risi-

ken eingehen sollten in der Hoff- nung, es könnte dann von Ärzten all denen wirksam geholfen wer- den, die der direkten Einwirkung von Atomwaffen ausgesetzt wa- ren. Die Ärzteschaft hat darauf schon wiederholt hingewiesen und wird dies auch in Zukunft tun.

Das gemeinsame Ziel:

Gute ärztliche Versorgung unserer Mitmenschen

■ Die 250 Delegierten dieses 85.

Deutschen Ärztetages als gewähl- te Vertreter von rund 171 000 Ärz- ten sind sich ihrer Verpflichtung und großen Verantwortung so- wohl gegenüber der Ärzteschaft als auch gegenüber der gesamten Bevölkerung bewußt. Gleichzeitig aber wird der Appell an alle Ver- antwortlichen gerichtet, die sach- verständigen und mit großem Ernst beratenen Stellungnahmen der Ärzteschaft bei der Gestaltung unserer Gesundheits- und Sozial- politik angemessen zu berück- sichtigen. Die Ärzteschaft selbst wird das in ihren Kräften Stehende tun, um weiterhin eine möglichst gute individuelle ärztliche Versor- gung unserer Mitmenschen zu si- chern.

Daß sich die Ärzteschaft trotz viel- leicht manchmal unterschiedli- cher Auffassungen im Detail stets an diesem gemeinsamen Grund- ziel orientiert, zeigen beispielhaft die vom 84. Deutschen Ärztetag in Trier gefaßten Beschlüsse zur För- derung der allgemeinmedizini- schen Versorgung, über deren Auswirkungen im Referat „Weiter- entwicklung in der Allgemeinme- dizin" der Vorsitzende der Deut- schen Akademie für Allgemeinme- dizin, Herr Kollege Klotz, berich- ten wird. Es ist fast selbstverständ- lich, daß in dem seither verflosse- nen Jahr nicht alle Probleme ge- löst werden konnten, aber es sind gute Ansätze gemacht, und die Entwicklung geht in die richtige Richtung.

■ Es muß auch künftig unser ge- meinsames Streben sein, den Be- schlüssen und Entscheidungen

Deutscher Ärztetage Geltung zu verschaffen. Das ist nur möglich, wenn Ärzte und ärztliche Selbst- verwaltung ihren aus der medizini- schen Wissenschaft und aus der ärztlichen Erfahrung gewonnenen Sachverstand zur Lösung der viel- fältigen Probleme möglichst ge- schlossen mit ärztlichen Argu- menten in die Politik einbringen.

■ Unser gemeinsames Ziel wird gefährdet, wenn einzelne Gruppen

— auch bei der Novellierung der amtlichen Gebührenordnung — versuchen sollten, Partikularinter- essen, die nicht im Einklang mit den gemeinsamen Zielen stehen, auf Kosten anderer durchzuset- zen. Daraus kann allzu leicht eine Gefährdung der Durchsetzung ge- meinsamer Ziele resultieren, weil manche Entscheidungsgremien das Gewicht unterschiedlicher ärztlicher Argumentation mögli- cherweise nicht mehr abzuschät- zen vermögen.

Die ärztlichen Selbstverwaltungs- körperschaften müssen sich also auch künftig im besten Sinne be- rufspolitisch betätigen und bei Meinungsbildung und Gesetzge- bungsverfahren in unserem demo- kratischen Staat ärztliche Über- zeugungen und Standpunkte ver- treten. Denn nur so ist dem gegen- zusteuern, daß in der Politik etwa aus Unkenntnis der Zusammen- hänge utopische Ziele formuliert werden oder daß sich Menschen in Verkennung der Möglichkeiten der Medizin und daraus vielleicht entstehender Enttäuschungen un- bewiesenen Heilslehren und Aber- glauben zuwenden.

Die Ärzteschaft muß sich auch künftig aus innerer Überzeugung und der Verpflichtung kranken Menschen gegenüber darum be- mühen, die wissenschaftlich ge- sicherten Grundlagen moder- ner Medizin weiter zu festigen und möglichst zu erweitern, beruf- liche Freiheit und Freiberuflich- keit der Ärzte zu erhalten und sich in der Berufsausübung des Ver- trauens der Patienten würdig zu

erweisen.

68 Heft 21 vom 28. Mai 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A/B

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