A 2270 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 47|
22. November 2013STUDIEN IM FOKUS
Nicht selten entdecken Kardiologen bei der Durchleuchtung der Koro- narien zu Beginn einer perkutanen koronaren Intervention (PCI) bei Patienten mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI) außer dem für den Infarkt verantwortlichen Verschluss Steno- sen in anderen Herzkranzgefäßen.
Die Leitlinien raten davon ab, zu- sätzliche Gefäße mit Stents zu ver- sorgen.
Nun sind in einer großen, rando- misierten Studie die Optionen „Di- latation der Infarkt-relevanten Lä - sion alleine“ versus „zusätzliche Dilatation weiterer Stenosen“ ver- glichen worden. In der Preventive- Angioplasty-in-Myocardial-Infarc - tion-Studie (PRAMI) sind 465 Patienten aus fünf britischen Zen- tren mit STEMI und drei Patienten mit einem Linksschenkelblock 1 : 1 randomisiert worden. Einschluss- kriterium war eine um mehr als 50 Prozent stenosierte Koronarie. Aus- geschlossen wurden Patienten mit proximalen Stenosen und der Mög- lichkeit späterer Bypass-Operatio- nen. Der zusammengesetzte End- punkt bestand aus Herztod, Herzin- farkt oder refraktärer Angina.
Schon nach 6 Monaten war ein deutlicher Vorteil durch die präven- tive Angioplastie erkennbar, so dass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde. Am Ende trat der primäre Endpunkt – bei einer Nachbeobach- tungszeit von durchschnittlich 23 Monaten – nach präventiver PCI bei 21 von 234 Patienten auf gegen- über 53 von 231 Patienten ohne präventive PCI. Dies ergab eine ab- solute Risikominderung um 14 Pro- zent und eine relative Risikominde- rung um 65 Prozent (Hazard Ratio 0,35; 95-Prozent-Konfidenzinter- vall 0,21–0,58).
Die Komplikationsraten waren in beiden Gruppen vergleichbar:
Nach der präventiven PCI kam es bei zwei Patienten zu einem Schlaganfall gegenüber keinem Pa-
tienten unter PCI alleine. Bluttrans- fusionen wurden bei 7 versus 6 Pa- tienten notwendig, eine kontrast-
mittel-induzierte Nephropathie mit Dialysepflicht trat bei einem versus drei Patienten auf. Nachteile der zu- sätzlichen Stentversorgung waren eine Verlängerung der Interventi- onsdauer von 45 auf 63 Minuten, eine Erhöhung der Strahlenbelas- tung von 71,4 auf 90,1 Gy cm2 so- wie eine Steigerung der Kontrast- mittelmenge von 200 auf 300 ml.
Den Zusatzkosten stünden Einspa- rungen durch eine bessere Prognose der Patienten gegenüber, resümie- ren die Autoren.
Fazit: Nach ST-Hebungsinfarkt beugen Angioplastien von steno- sierten Koronarien, die nicht in- farktauslösend waren, weiteren kar- dialen Ereignissen vor. Rüdiger Meyer Wald DS, Morris JK, Wald NJ et al.: Random - ized trial of preventive angioplasty in myocar - d ial infarction. NEJM 2013; doi:10.1056 SEKUNDÄRPRÄVENTION NACH HERZINFARKT
Präventive Angioplastie verbessert die Prognose
Weltweit sind Schätzungen zufolge mehr als 5,5 Millionen Kinder mittels assistierter Reproduktion (ART) gezeugt worden. Die Verfah- ren bergen ein geringes, wenn- gleich signifikantes Risiko für Stö- rungen der geistigen und psy- chischen Entwicklung im Kindes- und Jugend alter, wie zwei skandi- navische po pulationsbasierte Ko- hortenstudien ausweisen.
In der dänischen Studie (1) wur- den Registerdaten verknüpft, um das absolute Risiko (AR) und die Hazard-Rate (HR) für geistige Ent- wicklungsstörungen allgemein und spezielle Krankheitsbilder zu be- stimmen. In die Studie gingen 33 139 Kinder nach intrauteriner In- semination (IUI, mit und ohne ova- rielle Stimulation) und In-vitro-Fer- tilisation (IVF, mit und ohne intra- zytoplasmatischer Spermieninjekti- on [ICSI]) im Alter von 8 bis 17 Jah- ren ein. Kontrollen waren 555 828 spontan konzipierte Kinder.
Das Risiko für mentale Störun- gen bei IVF/ICSI-Kindern lag ins- gesamt nicht höher, abgesehen von Tic-Störungen mit grenzwertiger Signifikanz (HR 1,40; 95-%-Konfi- denzintervall [KI]: 1,01–1,95; AR 0,3 %). Demgegenüber fand man bei IUI-Kindern ein zwar gering- gradig, aber signifikant erhöhtes Risiko für mentale Störungen allge- mein (HR 1,2; 95-%-KI: 1,11–1,31;
AR 4,1 %), für autistische Störun- gen (HR 1,2; 95-%-KI: 1,05–1,37;
AR 1,5 %), für hyperkinetische Störungen (HR 1,23, 95-%-KI:
1,08–1,40; AR 1,7 %), für Verhal- tensstörungen (HR 1,21, 95-%-KI:
1,02–1,45; AR 0,8 %) und Tic-Er- krankungen (HR 1,51, 95-%-KI:
1,16–1,96; AR 0,4 %).
Die schwedische Studie (2) hatte zum Ziel, Assoziationen von Autis- mus und mentaler Retardierung aufzudecken, und korrelierte Daten von spontan und nach IVF konzi- pierten Kindern. In dieser Gruppe ASSISTIERTE REPRODUKTION
Eher „beruhigende“ Daten zur geistigen Entwicklung
GRAFIK
Präventives vs. kein präventives koronares Stenting (PCI) von stenosierten Blutgefäßen bei Patienten mit ST-Hebungsinfarkt
Anteil Patienten ohne Ereignis des zusammengesetzten Endpunkts (%)
Zeit nach Randomisierung (Monate) präventive PCI
keine präventive PCI HR 0,35 (95-%-KI 0,21–0,58); p < 0,001
modifiziert nach: NEJM 2013; doi:10.1056
100 95 90 85 80 75 0
0 6 12 18 24 30 36
M E D I Z I N R E P O R T
wurde zusätzlich nach unterschied- lichen IVF-Techniken differenziert.
In die populationsbasierte prospek- tive Kohortenstudie gingen mehr als 2,5 Millionen Kinder ein, 30 959 (1,2 %) davon IVF-Kinder. 103 der 6 959 Kinder mit Autismus und 180 von 15 830 der mental Retardierten waren IVF-Kinder (1,5 bzw. 1,1 %).
Verglichen mit spontan konzi- pierten Kindern gab es kein erhöh- tes Risiko für Autismus, aber ein geringgradig signifikantes Risiko für eine verzögerte geistige Ent- wicklung (Relatives Risiko [RR]
1,18; 95-%-KI: 1,01–1,36) der IVF- Mehrlinge. Bei IVF-Einlingen be- stand dieser Unterschied nicht. Im direkten Vergleich beider Techniken ging die ICSI-Methode bei Einlin- gen mit einem höheren Risiko für mentale Retardierung einher als die IVF: Dies war sowohl beim Trans- fer frischer (RR 1,60; 95-%-KI:
1,00–2,57) als auch aufgetauter
Embryonen (RR 2,36; 95-%-KI:
1,04–5,36) der Fall und bei Verwen- dung ejakulierter Spermien (RR 1,47; 95-%-KI: 1,03–2,09). Bei Mehrlingen, nicht aber bei Einlin- gen, wurde beim Einsatz testikulä- rer Spermatozoen ein signifikant erhöhtes Risiko für Autismus (RR 4,6; 95-%-KI: 2,14–9,88) und mentale Retardierung (RR 2,35;
95-%-KI: 1,01–5,45) gefunden.
Fazit: Die Ergebnisse dieser Studi- en mit vergleichsweise hohen Fall- zahlen und langem Follow-up wer- tet Prof. Dr. med. Heribert Kente- nich, Berlin, als „eher beruhigend“:
Kleinere Untersuchungen hätten in der Vergangenheit ein höheres Risi- ko der ART-Techniken für Autis- mus und mentale Retardierung nahe - gelegt. „Ein gesundes Kind zu ver- sprechen, ist im Rahmen einer Ste- rilitätstherapie nicht möglich“, so der Reproduktionsmediziner unter
Verweis auf das bekannte erhöhte Risiko bei Zwillingen. Auch ART- Einlinge seien durch erhöhte Früh- geburtlichkeit und SGA (small for gestational age) stärker gefährdet.
„ICSI scheint möglicherweise mit besonderen Risiken behaftet zu sein, wie wir es aus einigen Studien zu Geburtsauffälligkeiten kennen“, meint Kentenich. „Auch die metho- disch sehr gute schwedische Studie scheint dies zu bestätigen. Meine Schlussfolgerungen daraus: Die In- dikation für ICSI muss differenziert gestellt werden, und es bedarf bei dieser Methode einer besonderen Aufklärung der ungewollt kinderlo- sen Paare.“ Dr. rer. nat. Renate Leinmüller
1. Bay B, et al.: Fertility treatment and risk of childhood and adolescent mental disorders:
register based cohort study. BMJ 2013;
347: doi: 10.1136/bmj.f3978
2. Sandin S, et al.: Autism and mental retarda- tion among offspring born after In vitro fer- tilization. JAMA 2013; 310: 75–84.
Mit einer Inzidenz von eins auf cir- ca 20 000 Lebendgeburten ist das Retinoblastom der häufigste intra- okulare Tumor bei Kindern. Bei ei- nem Drittel der Erkrankung sind beide Augen betroffen. Der natürli- che Verlauf des Tumors führt – sieht man von seltenen Spontanre-
missionen ab – zum Tode. Mit loka- ler Behandlung, Strahlentherapie, Chemotherapie und/oder Enukleati- on lassen sich Überlebensraten von bis zu 95 % erzielen. Außerdem sollen sekundäre Neoplasmen ver- hindert und Bulbus und Visus mög- lichst erhalten werden.
An der Augen- und Kinderklinik der Universität Essen ist ein von be- kannten Protokollen abweichendes Chemotherapieregime etabliert und getestet worden. Es besteht aus Cy- clophosphamid, Vincristin und Eto- posid, Carboplatin wird in der Do- sis reduziert. In die Studie einge- schlossen wurden 40 Patienten mit 56 retinoblastombefallenen Augen.
Die Kinder waren bei der Diagnose im Durchschnitt 8 Monate alt und wurden median sechseinhalb Jahre nachbeobachtet. Die Therapie galt als fehlgeschlagen, wenn enukleiert werden musste oder eine externe Strahlentherapie notwendig wurde.
Ein primärer Therapieerfolg der Chemoreduktion wurde bei 75 % der Augen erreicht. Der Erfolg hing
vom Tumorstadium ab: Während Tumoren der Kategorie A und B in 75 % bzw. 85 % mit der Chemothe- rapie kontrollierbar waren, waren solche der Kategorien D/E (große Tumoren, teilweise mit Ausbreitung unter die Netzhaut und in den Glas- körper) in 83 % nicht erfolgreich mit der Chemoreduktion allein zu behandeln. Nur 4 Augen mussten entfernt werden. Es gab keinen reti- noblastombedingten Todesfall.
Fazit: Bei einer Therapie nach dem sogenannten Essener Protokoll bleiben die erkrankten Augen bei den meisten Patienten erhalten, die unerwünschten Wirkungen sind ak- zeptabel (Neutropenie bei 22,5 % der Patienten war die häufigste Komplikation). Das Essener Proto- koll müsse nun in Studien mit zwi- schenzeitlich neu hinzugekomme- nen Behandlungsmodalitäten wie der intraarteriellen Chemotherapie verglichen werden, meinen die Au- toren. Dr. med. Ronald D. Gerste
Künkele A, et al.: Chemoreduction improves eye retention in patients with retinoblastoma:
a report from the German retinoblastoma re - ference centre. Br J Ophthalmol 2013; 97:
1277–83.
RETINOBLASTOM
Die Enukleation ist durch Chemoreduktion vermeidbar
GRAFIK
Erfolg der Chemotherapie in Abhängigkeit vom Tumorstadium nach der ICRB-Klassifikation (International Classification of Retinoblastoma)
Ereignisse (%)
ICRB-Stadium Rückfall kein Rückfall 25 –
20 –
15 –
10 –
5 –
0 –
A B C D
modifiziert nach: Br J Ophthalmol 2013; 97: 1277–83
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