• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Wie Hölderlin nachträglich zum Homosexuellen gemacht werden soll" (04.02.1983)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Wie Hölderlin nachträglich zum Homosexuellen gemacht werden soll" (04.02.1983)"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Leserdienst

Hinweise -Anregungen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 5

vom 4. Februar 1983

Wie Hölderlin nachträglich zum

Homosexuellen gemacht werden soll

Hölderlins Krankheit hat nicht nur die Literaturwissen- schaft, sondern auch immer wieder die Psychiatrie be- schäftigt. Das Buch von U.

H. Peters ist eine Streitschrift gegen die These von Pierre Bertaux, Hölderlin sei nicht geisteskrank gewesen, son- dern habe dieses Verhalten simuliert. Diese Meinung, die sich Bertaux aus großer Kenntnis von Hölderlins Le- ben und Werk, aber aus ei- nem Vorurteil gegenüber der Geisteskrankheit als eines Makels gebildet hat, ist so wenig haltbar, daß eine Ent- gegnung allein kein ausrei- chender Grund für ein Buch ist, wenn keine neuen Ge- sichtspunkte gewonnen werden.

Uwe Henrik Peters: Hölderlin, Wider die These vom edlen Si- mulanten, Nr. 164 der Reihe:

Das neue Buch, Rowohlt Ta- schenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1982, 238 Sei- ten, Abbildungen, kartoniert, 22 DM

Mit dem bekannten Mate- rial an mündlichen und schriftlichen Äußerungen sowie Briefen und Berich- ten von Zeitgenossen, das von allen Autoren auch schon bisher herangezo- gen wurde, differenziert Peters die Psychose Höl- derlins, die allgemein für eine Schizophrenie gehal- ten wird, als Schizophasie, eine besondere Form der Schizophrenie. Diese Klas- sifikation scheint mir mehr eine Frage der medizini- schen Nomenklatur und ist unerheblich für das Ver- ständnis; im Text werden ohnehin Schizophasie und Schizophrenie synonym gebraucht. Peters setzt den Beginn der Schizophrenie im Gegensatz zur bisheri- gen Meinung spät an und spricht für die Zeit von 1802-1805 von einer „de- pressiven Episode". Da- durch weicht er dem Pro- blem aus, daß Hauptwerke Hölderlins in der Zeit des schizophrenen Prozesses entstanden sind, und ana- lysiert nur das Spätwerk auf Merkmale der Geistes- krankheit.

Neu in dem Buch ist die Psychologisierung des Ent- stehens der Psychose durch homosexuelle An- triebe Hölderlins. Um diese These zu stützen, werden alle freundschaftlichen Be- ziehungen Hölderlins zu Männern erotisiert und die heterosexuellen Beziehun- gen (Louise Nast, Elise Le- bret, Wilhelmine Marianne Kirms, Susette Gontard) herabgespielt, ja sogar als Möglichkeit der reaktiven Abwehr der homosexuellen Versuchung erwogen.

Bemerkenswert ist jedoch, daß Susette Gontard, die Hölderlin bis in seine ge- heimsten Seelenregungen gekannt hat, diese homo- sexuellen Neigungen und deren postulierte Abwehr nicht gespürt hat, sondern ausdrücklich als einzige Männerbeziehung von Be- deutung die zu Schiller nennt. Der Psychiater bil- ligt Hölderlin zwar Gefühle der „hohen Liebe" zu, aber keine „Sexualität, die nicht sublimiert, sondern konsu- miert wird" (Seite 157). In solchen Sätzen offenbart sich das analytische Werk- zeug als grob und zynisch, das dem Dichter der ergrei- fendsten Liebesgedichte deutscher Sprache nicht gerecht werden kann.

Mit Homoerotik und Pä- dophilie glaubt Peters den Schlüssel zum Verständnis für Hölderlins Neigung zum Beruf des Erziehers und seines Scheiterns an dieser Aufgabe, für die plötzli- chen Brüche und Verstim- mungen in seinem Leben (Waltershausen 1784, Jena.

1785, Hauptwil 1801, Bor- deaux 1802) bis zum Mani- fest werden der Schizopha- sie 1805 gefunden zu ha- ben. „Die abgewehrte ho- mosexuelle Versuchung im Falle Sinclair ist das Motiv für die schizophrene Ent- gleisung ... " (Seite 228).

Diese Deutung leitet Peters von der seiner Meinung nach allgemeingültigen Regel ab, die er so formu- liert: „Wenn schizophrene Erscheinungen auftreten (Erscheinungen, die nach einem allgemeinen Über- einkommen in der Kultur und in der Psychiatrie als

schizophren angesehen werden), dann stehen da- hinter intensive sexuelle Wünsche, die mit der gei- stig-ethischen Persönlich- keit des Betroffenen ..."

(Seite 168).

Der wiederholte Ausruf des geisteskranken Dichters in Homburg: „Ich will kein Ja- kobiner sein", der mit dem Werk und den Ideen Höl- derlins in einem begründe- ten politischen Kontext steht, wird von Peters ohne Schwierigkeiten durch

„strukturale Interpreta- tion" in den Klartext über- setzt: „Ich will kein Homo- sexueller sein". Obwohl Bertaux seinen Essay „Höl- derlin und die Französi- sche Revolution" (edition suhrkamp 344, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1969) mit dem Satz be- ginnt: „Hölderlin gehörte der Gesinnung nach zu den deutschen Jakobinern"

und obwohl Kirchner dar- gelegt hat, daß im Hochver- ratsprozeß gegen Hölder- lins Freund Isaak von Sin- clair nur die Geisteskrank- heit den Dichter vor der Verhaftung schützte, be- hauptet Peters, „daß ein psychologischer Grund für eine politische Äuße- rung ... nicht vorhanden ist" (Seite 119/120).

Peters demonstriert seine Ansichten über Schizo- phrenie am „Fall Hölder- lin"; doch indem er den Dichter gewaltsam in sein vorgefaßtes Interpreta- tionsschema zwängt, dient er weder Hölderlin noch dessen Werk.

Günther Gercken, Hamburg

Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983 97

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Mythos, mit dem die Experten aufräumen konnten. An den ver- schiedenen Ständen gab es Rat- schläge für das richtige Verhalten, um es Langfingern so schwer wie möglich zu

Bezeichnend für die Situation der Psychiatrie mag in diesem Zusammenhang auch sein, daß seit nahezu zwanzig Jahren kein umfassendes, großes Lehrbuch mehr ediert, und jenes,

Ich bitte Sie dringend, diesen Fehler zu korrigieren, denn die Lobbyarbeit der Bundes- ärztekammer, des Marburger Bundes und sicherlich auch einzelner Mediziner kann nur

In der Diskussion, inwieweit gene- tische oder Umweltfaktoren für die Ätiologie schizophrener Er- krankungen relevant sind, vertei- digt Kety in einer Antwort auf Kriti- ker

Tagesaktuelle Beispiele von Fake News und Hate Speech Gerade die Schattenseiten digital-analoger Öffentlichkeiten in Gestalt von gefälschten Nachrichten, und Hate Speech werden

Die erworbenen Lymphome bei Homosexuellen durch AIDS sind extranodal; es sind hochgradig maligne B-Zell-Tumoren, die dar- über hinaus mit der Exposition mit HTLV-III assoziiert

Die Bezugshöhe (BZH) ist die Straßenhöhe, die sich in der Mitte der Gebäudefas- sade des jeweiligen Vorhabens ergibt, wenn die im Bebauungsplan eingetrage- nen Straßenhöhen als

Wissenschafliche Untersuchungen zeigen, dass heterosexuelle Männer, die sich feindlich gegenüber homo sexuellen Menschen äußerten, deutlich stärker auf gleich