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er Deutsche Hausärzteverband hat offenbar die Öffnungsklauseln des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG), die über den Vertragswettbe- werb die hausarztbasierte Versorgung flächendeckend stärken sollen, strate- gisch nutzen können. Der seit zweiein- halb Monaten amtierende Bundesvor- sitzende des Hausärzteverbandes, Rai- ner Kötzle, Facharzt für Allgemein- medizin in Aachen, berichtete vor der jüngsten Delegiertenversammlung des Hausärzteverbandes am 30. April in Berlin, dass sich innerhalb von nur zwei Monaten nach dem im Dezember 2004 mit der Barmer abgeschlossenen Haus- arztvertrag 750 000 gesetzlich Versicher- te eingeschrieben hätten. Der Verband hofft, dass nach Abrechnung der ver- tragsärztlichen Leistungen vom März 2005 schon kurzfristig der Zusatzobolus von mehr als 20,40 Euro pro Versicher- ten gezahlt werde. Der Deutsche Hausärzteverband hat der Einschätzung der Verbandsoberen zufolge an Gewicht und Akzeptanz bei den Mitgliedern durch die neue Vertragsstrategie gewon- nen: Mehr als 5 000 neue Mitglieder sind dem Verband beigetreten, sodass der Verband jetzt nach eigenen Angaben einschließlich der beitragsfreien Mitglie- der mehr als 30 000 Mitglieder hat.Verbandsvorsitzender Kötzle rech- net damit, dass bis Ende 2005 die Zahl der eingeschriebenen Barmer Versi- cherten auf 1,5 Millionen wachsen wird.
Auch drei „Facharztgruppierungen“
wollen sich nach § 8 des Barmer-Vertra- ges vertraglich assoziieren und von der Vertragsabmachung profitieren.
Im Gegensatz zu vielen Integrations- verträgen nach § 140 a bis h SGB V, die nach Schätzungen des Verbandes bundesweit inzwischen die Zahl von 500 überschritten hat, sei der Barmer-
Vertrag transparent und auch im Inter- net einsehbar.
Die Möglichkeit, den Vertragswettbe- werb weitgehend außerhalb des Kollek- tiv-Vertragssystems der KV zu forcieren, habe den Hausärzteverband in eine größere Verantwortung genommen. Die Verbandsstrategie werde auch durch die Vertragsabschlüsse in Baden-Württem- berg – trotz des Widerstandes des Medi- Verbundes –, aber auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt bestätigt. Der Durch- bruch sei nur möglich gewesen durch ei- ne konsequente Verfechtung der Positio- nen einer eigenständigen Hausarzt- und Allgemeinarztpolitik.
Die eigentlichen Verbündeten der Hausärzte seien die Versicherten und Patienten. Die Hausapotheker als Part- ner des Barmer-Vertrages profitieren von einer kleinen „Kontaktgebühr“, die
die Kassen bei Rückfragen und Zusatz- informationen zahlen. Die Versor- gungssituation werde durch die Leit- funktion der Hausärzte und durch eine zeitlich limitierte Bindung an einen frei gewählten Hausarzt und Hausapothe- ker verbessert – auch zum Vorteil der Krankenkassen, die auf höhere Effizi- enz und Sparsamkeit spekulierten.
Vertragsdiktate, Einkaufspolitik pur, Risikoselektion und eine Abwälzung des Morbiditätsrisikos auf die Ärzte lehnt der Hausärzteverband entschieden ab.
Der Hausärzteverband kritisiert deshalb Bestrebungen der AOK in Bayern und der KV Bayerns, „die rechtlich schwam- migen Rahmenbedingungen von § 73 b SGB V durch Vertragsabschluss zu nut- zen“, um über Einzelverträge und selek- tierte Hausärzte die Konditionen zu dik- tieren und bei den Integrationsverträgen die Hausärzte einer nicht von Ärzten ge- tragenen Management-Gesellschaft aus- zuliefern. Mit einem solchen Vertragsab- schluss werde den Einzelverträgen Vor- schub geleistet. Allerdings, so Kötzle, solle man den Einfluss der KV Bayerns auf die Hausärzte nicht überschätzen.
Dies sei ein strategischer Fehler der AOK.
Der Hausärzteverband fordert eine Verlängerung der bis Ende 2006 befri- steten einprozentigen Anschubfinan- zierung für die Integrationsverträge um weitere zwei Jahre. Auch die Rechtsauf- sicht könne nicht tolerieren, dass eine Vertragsinnovation außerhalb der Zu- ständigkeit der KVen zulasten der Hausärzte abgewürgt werde. In jedem Fall müsse der Wettbewerb von Ver- tragsärzten auf freivertraglicher Basis fortgesetzt werden.
Hausärzte befürworten KBV-Kurs
Der Hausärzteverband hat auch die neue strategische Ausrichtung der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und deren Professionalisierung durch hauptamtliche Mandatsträger als ein wichtiges Signal gewertet, sich dem Ver- tragswettbewerb zu öffnen und mehr Funktionen eines offensiven Dienstlei- stungsunternehmens auf Bundesebene zu übernehmen. Allerdings müsse dies auch für alle 17 Kassenärztlichen Verei- nigungen der Länder gelten. Als erfreu- P O L I T I K
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Allgemeinärzte
Im Aufwind durch den Barmer-Vertrag
Deutscher Hausärzteverband erwartet bis Ende dieses Jahres 1,5 Millionen eingeschriebene Versicherte.
Rainer Kötzle: „Eine eigenständige Hausarzt- vertragspolitik stärkt die Interessen der hausarztbasierten Medizin.“
Foto:Bildschön
lich wertete der Hausärzteverband auch die Bereitschaft der KBV, die Trennung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung als eine „Friedenslinie innerhalb der nie- dergelassenen Ärzteschaft“ beizubehal- ten. Allerdings seien noch Probleme im Hinblick auf die von der KBV angestreb- ten morbiditätsgewichteten Regellei- stungsvolumina, die die starren Honorar- budgets ablösen sollen, zu lösen. Dabei müssten auch die Wirkungen auf den Ri- sikostrukturausgleich der Krankenkas- sen berücksichtigt werden.
Über rasch greifende Instrumente (Stichproben, Quartalshochrechnun- gen) müssten die Auswirkungen des zum 1. April 2005 wirksam gewordenen EBM 2000plus geprüft werden. Da- durch sollen Honorarverschlechterun- gen frühzeitig erkannt und gegebenen- falls Gegenmaßnahmen eingeleitet werden (über die Honorarverteilungs- verträge auf Ebene der Landes-KVen).
Der „Beratende Fachausschuss für die hausärztliche Versorgung“ bei der KBV soll dann in den Fachgremien den Kor- rekturbedarf geltend machen.
Honorarperspektiven
In einem Beschluss lehnt der Verband die Kennzeichnungspflicht von Leistun- gen ab, die hausärztliche Gemein- schaftspraxen abgerechnet haben, wenn alle Mitglieder der Gemeinschaftspraxis der hausärztlichen Versorgungsebene angehören. Im Übrigen schätzt der Verband die Honorarperspektiven pes- simistisch ein: Bis 2007 dürfte nicht mehr Geld in das KV-System fließen.
Demnach würden sich die Grund- sätze des Honorarverteilungsvertrages (Honorarverteilungsmaßstab) kurzfri- stig nicht wesentlich ändern. Für den Verband bedeutet dies: Beschaffung von extrabudgetärem Geld außerhalb des KV-Systems. Der Hausärzteverband will sich deshalb darauf konzentrieren, durch die Ausweitung der Hausarzt- verträge auf weitere Gebietsarztgrup- pen und möglicherweise auch auf Krankenhäuser Zusatzvergütungsantei- le über den freivertraglichen Bereich zu erschließen. Zum Hausarztvertrags- system und dem wettbewerblichen, freivertraglichen Sektor gebe es keine Alternative. Dr. rer. pol. Harald Clade
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ollegen verhalten sich nicht immer so, wie es einem passt. Das beklag- te am 12. Mai Dr. Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Die „Kollegen“, sprich: die Vorsitzenden anderer Kas- sen, sprächen sich gegen die Einführung eines morbiditätsorientierten Risiko- strukturausgleichs (RSA) in der Ge- setzlichen Krankenversicherung (GKV) aus. Gemeint sind damit vor allem die Betriebskrankenkassen, aber auch die Unternehmen wie die Techniker Kran- kenkasse. Und das, ärgert sich Ahrens, obwohl sich alle gesetzlichen Kassen Anfang 2001 im Bundesgesundheits- ministerium auf ein Gesamtpaket zur Reform des RSA geeinigt hätten.Als Beleg ließ er eine Aktennotiz vom 4. April 2001 verteilen. Darin sind vier Eckpunkte festgehalten: Allen GKV-Versicherten soll ein Kassen- wechsel innerhalb weniger Wochen er- möglicht werden. Dabei wird zunächst ein Mindestbeitragssatz von 12,5 Pro- zent festgelegt. Außerdem wird ein Ri- sikopool für besonders teure Kranke beschlossen und die Möglichkeit, Chro- niker-Programme aufzulegen. Vierter Punkt: Spätestens zum 1. Januar 2007 wird der Morbi-RSA eingeführt.
Die ersten drei Punkte sind abge- arbeitet, der vierte steht noch aus. „Die Rechtsverordnung muss jetzt kom- men“, drängt Ahrens. „Das Geld muss dahin, wo die Kranken sind.“ Ver- schleppe sich der Morbi-RSA, drohten Beitragssatzsteigerungen und eine Ver- schlechterung des Versorgungsniveaus.
Kassen wie die Barmer, vor allem aber auch die Kassenärztliche Bundesverei- nigung (KBV) unterstützen die AOK.
„Der bisherige RSA setzt für die Krankenkassen die falschen Anreize“, erklärte KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. med. Andreas Köhler. Dr. med.
Eckart Fiedler, Barmer-Vorstandsvor- sitzender, untermauerte diese Kritik mit Zahlen. Die medizinische Versor- gung von rund 75 Prozent der Ver- sicherten verbraucht demnach lediglich drei Prozent der Gesamtausgaben.
Gleichzeitig erhalten die Kassen für sie aber 60 Prozent der ihnen zustehenden Ausgleichszahlungen aus dem RSA- Topf. Umgekehrt beanspruchen 25 Pro- zent der Versicherten 97 Prozent der Ausgaben. Doch für diese Gruppe er- halten die Kassen lediglich 40 Prozent ihrer RSA-Gutschriften.
Widerstand gegen die Reform
Diese Form des Ausgleichs fördere den Wettbewerb um gesunde Versicherte und untergrabe die Bereitschaft von Kassen, Versorgungsangebote für auf- wendiger zu versorgende Kranke zu entwickeln, bemängelte Köhler. Außer- dem sollen 2007 morbiditätsorientierte Regelleistungsvolumen an die Stelle der bisherigen Honorarbudgets für Nie- dergelassene treten. „Notwendige und logische Ergänzung ist der morbiditäts- orientierte RSA“, betonte Köhler. Nur wenn die knappen Mittel dort zur Ver- fügung stehen, wo sie für die Versorgung der Patienten gebraucht werden, könne das System noch funktionieren.
Doch es formiert sich immer deutli- cher Widerstand gegen die Reform, auch innerärztlich. In Norddeutschland haben Betriebs- und Innungskrankenkassen ge- meinsam mit zwei KVen ihre Ablehnung formuliert. Die Vorsitzenden der KV Schleswig-Holstein, Dr. med. Klaus Bitt- mann, und der KV Mecklenburg-Vor- pommern, Dr. med. Wolfgang Eckert, kritisierten den Morbi-RSA als „büro- kratisches Monster“. Das Engagement der KBV verletze deren Neutralität.
Beim Morbi-RSA handele es sich ledig- lich um ein Budget mit neuem Namen, kritisierte der Hartmannbund. Er fordert die Abschaffung des RSA und die Aufhe- bung jeglicher Budgetierung. Der NAV- Virchow-Bund verlangt von der KBV sicherzustellen,dass auch bei einem Mor- bi-RSA ärztlicher Sachverstand Leitbild der Entscheidungen bleibe – und bei den behandelnden niedergelassenen Ärzten eine morbiditätsorientierte Vergütung tatsächlich ankomme. Sabine Rieser