Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 1114. März 2003 AA657
S E I T E E I N S
D
ass zurzeit wieder über Folter geredet wird, erscheint wie ein Rückfall ins finstere Mittelalter.Doch im 21. Jahrhundert ist dieses Thema in Deutschland keineswegs obsolet, wie die Diskussion um den Frankfurter Vize-Polizeichef Wolf- gang Daschner zeigt. Daschner hat- te in einer Aktennotiz vermerkt, dass er bereit gewesen sei, im Ent- führungsfall Jakob von Metzler Ge- walt gegen den Tatverdächtigen Ma- gnus G. anzuwenden, um das Leben des Jungen zu retten. Daschner gab später an, er hätte bei einer mögli- chen Gewaltanwendung einen Poli- zeiarzt hinzugezogen.
Diese Entscheidung ist ein Ver- stoß gegen grundlegende Menschen- rechte. Und eine ärztliche Mitwir- kung an Folter ist ebenfalls verbo- ten. So heißt es in der Europäischen
Berufsordnung: „Der Arzt darf un- ter keinen Umständen, auch nicht bei einem Bürgerkrieg oder einem bewaffneten Konflikt, bei Folterun- gen oder anderen grausamen, un- menschlichen oder entwürdigenden Handlungen Hilfestellung leisten, sich daran beteiligen oder diese zu- lassen.“
Es geht allerdings nicht nur um ei- nen Einzelfall, sondern genau um die grundlegenden Positionen, die in der Europäischen Berufsordnung verankert sind. Die Landesärzte- kammer Hessen hat beispielsweise festgelegt, dass eine ärztliche Unter- suchung vor einer Abschiebung sich nicht auf die Transportfähigkeit des Abzuschiebenden beschränken darf – eine Ansicht, der sich die Bun- desärztekammer (BÄK) anschließt.
„Viele Patienten können hier leben,
sie würden aber in ihrem Heimat- land sterben“, sagte der stellver- tretende Hauptgeschäftsführer der BÄK, Dr. med. Otmar Kloiber, ge- genüber dem Deutschen Ärzteblatt.
Er forderte, dass Ärzte nicht mehr in erster Linie dem Dienstrecht, son- dern der Berufsordnung unterste- hen sollten. Bleibt zu hoffen, dass der Antifolterbericht des Europa- rats, der in Kürze veröffentlicht wer- den soll, einen entsprechenden Pas- sus enthält. Denn dann hat die Bundesärztekammer gute Chancen, ihre Position durchzusetzen. BÄK- Präsident Prof. Dr. med. Jörg-Diet- rich Hoppe werde bereits bei einem Treffen Mitte März mit dem Vor- sitzenden der Innenministerkon- ferenz, Andreas Trautvetter, seine Position vertreten, kündigte Kloi- ber an. Gisela Klinkhammer
Folterungen
Ohne ärztliche Hilfe H
ätte Bundesgesundheitsministe-rin Ulla Schmidt (SPD) in der ver- gangenen Woche nicht grippekrank im Bett gelegen, wäre sie vermutlich trotzdem verschnupft gewesen. Denn alle, die in letzter Zeit laut von deut- lichen Beitragssatzsenkungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geträumt hatten, holte am Aschermittwoch die Realität ein: Das Defizit in der GKV betrug 2002 nach vorläufigen Berechnungen rund 2,96 Milliarden Euro. Der Staatssekretär im Bundesministerium für Gesund- heit und Soziale Sicherung (BMGS), Dr. Klaus Theo Schröder, nannte als Ursachen einen niedrigen Grund- lohnsummenanstieg von gerade 0,5 Prozent und hohe Kostensteigerun- gen bei den Arzneimitteln.
„Zwischen der Ausgabensenkung von 4,6 Prozent, die die Kassenärzt-
liche Bundesvereinigung (KBV) und die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen Anfang 2002 verein- bart hatten, und den Ausgabenzu- wächsen von 4,8 Prozent klafft ein Fi- nanzvolumen von über zwei Milliar- den Euro“, behauptete er. Die KBV widersprach: „Wir haben durch die Verordnung von Arzneimitteln nur mit 960 Millionen Euro zu dem De- fizit beigetragen“, betonte ihr Erster Vorsitzender, Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm. Unterstellt man, dass sich die Arzneimittelausgaben um die besagten 0,5 Prozent Grund- lohnsummenanstieg hätten erhöhen dürfen, bleibt in der Tat ein Defizit von einer knappen Milliarde Euro.
Schröder hatte zuvor auf das Beitragssatzsicherungsgesetz verwie- sen, das die Krankenkassen 2003 theoretisch um rund 2,8 Milliarden
Euro entlasten soll. Realistischer ist, dass die jüngsten Beitragssatzer- höhungen bei rund einem Drittel al- ler Kassen zu Mehreinnahmen von rund drei Milliarden Euro führen.
Allerdings hat sich so der durch- schnittliche Beitragssatz bereits zu Anfang des Jahres von 14 auf 14,3 Prozent erhöht. Dass dieser bis En- de des Jahres zu halten ist – auf diese Prognose wollte sich Schröder nicht einlassen. „Konjunkturelle Risiken“
seien nicht auszuschließen. Bundes- kanzler Gerhard Schröder hat letzte Woche nicht ohne Not erklärt, nach dem Scheitern des Bündnisses für Arbeit müssten Reformen nun ohne Rücksicht auf Arbeitgeber- und Ar- beitnehmerorganisationen durchge- zogen werden. Wenig Rücksicht – diese Parole gilt wohl auch für die Gesundheitsreform. Sabine Rieser