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Archiv "Menschen mit Behinderung: Auf engagierte ärztliche Hilfe angewiesen" (29.05.2009)

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A1094 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 22⏐⏐29. Mai 2009

1 1 2 . D E U T S C H E R Ä R Z T E T A G

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lle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben das Recht auf eine bedarfsgerechte gesund- heitliche Versorgung. Dieses Recht ist elementarer Bestandteil der Menschenrechte. Darüber hinaus müssten Menschen mit Behinde- rung nach Artikel 25 des „Überein- kommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ aus dem Jahr 2006 die medizinische Versorgung erhal- ten, die sie aufgrund ihrer Behinde- rung zusätzlich benötigten. Das gilt seit der Ratifizierung des Überein- kommens durch den Bundestag En- de 2008 auch in Deutschland. Doch das deutsche Gesundheitssystem wird nach wie vor dem erhöhten Be- handlungsbedarf von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinde- rung nicht gerecht. Darauf machten in einem einstimmig beschlossenen Antrag die Delegierten des 112.

Deutschen Ärztetages aufmerksam.

„Wenn Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung krank werden, finden sie nur schwer ausrei- chende Hilfe. Es fehlen gut vorberei- tete Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Thera- peuten sowie Angehörige der Ge- sundheitsfachberufe. Die betroffe- nen Patientinnen und Patienten und ihre Familien sind damit sehr unzu- frieden und alleingelassen“, sagte auch Prof. Dr. med. Michael Seidel, Leitender Arzt und Geschäftsführer des Stiftungsbereichs Behinderten- hilfe der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld. Zu- gleich haben seiner Auffassung nach Menschen mit geistiger und mehrfa- cher Behinderung oft verminderte Fähigkeiten, Gesundheitsrisiken zu

minimieren und beginnenden Ge- sundheitsstörungen beziehungswei- se Krankheiten zu begegnen. Die Gründe dafür seien beispielsweise geringe Kenntnisse und Kompeten- zen, eine fehlende Organisationskom- petenz sowie ein eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsleistungen.

Außerdem nehme die Gesellschaft Menschen mit Behinderung noch nicht als gleichberechtigte Bürger wahr, stellte der Ärztetag fest. Der behinderungsbedingte Versorgungs- mehrbedarf sei finanziell nicht aus- reichend gedeckt. „Es gibt erhebliche Disparitäten der medizinischen Ver- sorgung zuungunsten der Menschen mit geistiger und mehrfacher Behin- derung“, ergänzte Seidel. Im Jahr 2005 habe der Vorstand der von Bo-

delschwinghschen Anstalten Bethel eine Studie zu den Auswirkungen der Gesundheitsreform in Auftrag gege- ben, die inzwischen fertiggestellt und im Internet eingestellt sei. Sie kommt zu folgenden Ergebnissen:

– Klienten und Klientinnen kön- nen viele Gesundheitsleistungen zum Teil nicht mehr bezahlen.

– Klienten und Klientinnen oder ihr Umfeld sind über ihre Rechte zum Teil nicht ausreichend infor- miert.

– Für einmalig hohe Ausgaben für Gesundheitsleistungen müssen außerordentlich hohe Anteile des verfügbaren Einkommens aufge- wendet werden.

– Klienten und Klientinnen ver- zichten auf Gesundheitsleistungen.

– Klienten und Klientinnen ste- hen im Entscheidungskonflikt über die Verwendung ihrer knappen fi- nanziellen Ressourcen.

TOP IV Medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung

MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

Auf engagierte ärztliche Hilfe angewiesen

Menschen mit geistiger Behinderung brauchen eine kompetente medizinische Versorgung, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Aber allzu häufig werden sie alleingelassen. Der Deutsche Ärztetag diskutierte Lösungsmöglichkeiten.

Betroffene Patien- ten sowie ihreFa- milien fühlten sich oft mit ihren Sorgen alleingelassen, be- kräftigte Michael Seidel beim 112.

Deutschen Ärztetag.

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A1096 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 22⏐⏐29. Mai 2009

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Um die Defizite in der medizini- schen Versorgung von Menschen mit Behinderung zu überwinden fordert der Ärztetag, gesetzliche Grundlagen für Medizinische Zen- tren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung zu schaffen. Darüber hinaus sollten sektorübergreifende regionale Netz- werke von ambulanten und sta- tionären Leistungserbringern eta- bliert werden, die in arbeitsteiliger Zusammenarbeit und gegenseitiger fachlicher Beratung für die Lösung besonderer medizinischer Probleme von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung genutzt werden könnten.

Doch nicht nur zielgruppenspezi- fische Fachkenntnisse und eine aus- reichende Finanzierung hielt der Ärztetag für erforderlich. Elementa- re Voraussetzung für eine bedarfs- gerechte Gesundheitsversorgung von

Menschen mit Behinderung seien deren respektvolle Behandlung und Betreuung sowie ihre gesellschaftli- che Anerkennung und Integration, heißt es in dem Ärztetagsbeschluss.

Seidel plädierte für eine „unein- geschränkte Achtung von Men- schenwürde, Achtung von Selbstbe- stimmung, eine Haltung der Acht- samkeit, der Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit und schließlich Gerechtigkeit“. Der Ärztetag for- derte, die Aus-, Weiter- und Fortbil- dung in behinderungsspezifischen Belangen zu fördern, um die Ärzte- schaft und vor allem diejenigen Ärztinnen und Ärzte fachlich auf ihre Aufgabe vorzubereiten, die sich in besonderer Weise um Menschen mit geistiger und mehrfacher Behin- derung kümmern wollten.

In einem weiteren von Dr. med.

Günther Jonitz, Präsident der Ärzte- kammer Berlin, eingebrachten Be-

schlussantrag fordert der Ärztetag den Gesetzgeber dazu auf, finanzi- elle Rahmenbedingungen für die Einrichtung und den Unterhalt bar- rierefreier Praxen zu schaffen.

Außerdem werden die Kranken- hausträger aufgefordert, „die Maß- nahmen zur Barrierefreiheit in ihren Häusern unter Beteiligung der Be- troffenen und ihrer Verbände zu überprüfen und aktiv für die Ver- wendung und Weiterentwicklung von unterstützenden Geräten und Technologie in der Habilitation und Rehabilitation Sorge zu tragen“.

Sozialpädagogische Zentren trocknen finanziell aus

Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung war dem Ärztetag ebenfalls ein wichti- ges Anliegen. „Die Sozialpädagogi- schen Zentren sind dabei, finanziell auszutrocknen“, befürchtete Dr. med.

Martin Bolay, Münster. Er forderte deshalb in einem gemeinsam mit Hendrike Frei, Westfalen-Lippe, und Dr. med. Thomas Fischbach, Solingen, eingebrachten Antrag,

„eine ausreichende Finanzierung der Sozialpädiatrischen Zentren, um deren Behandlungsauftrag dauer- haft zu sichern“. Auch dieser Antrag wurde von den Delegierten mit großer Mehrheit beschlossen.

Seidel würdigte die engagierte Zuwendung der deutschen Ärzte- schaft zu Menschen mit Behinde- rung als einen wichtigen Beitrag zur Wertorientierung der deutschen Ge- sellschaft. Sie könne dazu beitra- gen, „die schleichende Entwertung ,beschädigten‘ Lebens im öffentli- chen Diskurs aufzuhalten, kennen wir doch die unheimliche heimliche Lebenswertdebatte im Kontext der Verrechtlichung der Anwendung der Patientenverfügung und der Kosten-Nutzen-Debatte im gesund- heitsökonomischen Diskurs“.

Daher sei es besonders wichtig, dass Ärzte sich für Menschen mit Behinderung einsetzten. „Engagie- ren wir uns, indem wir Menschen mit geistiger und mehrfacher Behin- derung beistehen. Sie benötigen un- sere engagierte ärztliche Hilfe“, be- tonte Dr. med. Helmut Peters, Ärzt- licher Leiter des Kinderneurologi- schen Zentrums Mainz, in seinem Besonders für die

Mütter der betroffe- nen Kinder gebe es noch immense Ver- sorgungslücken.

Darauf wies Helmut Peters in seinem Vor- trag hin.

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Referat. „Wenn wir für sie die benötigten Versorgungsstrukturen zur Verfügung stellen, dann tun wir übrigens nicht nur etwas für sie, sondern auch für uns. Nicht zuletzt deshalb, weil wir nie wissen, ob wir sie schon morgen selbst benötigen.“

Bei der medizinischen Versor- gung von Patienten mit geistiger und mehrfacher Behinderung im Kindes- und Jugendalter gebe es be- reits seit 1968 Sozialpädiatrische

Zentren, die die Versorgungserfor- dernisse erfüllten, erklärte Peters.

Mittlerweile arbeiten mehr als 130 Zentren, sodass eine flächendecken- de Versorgung der Patienten gege- ben ist. Aufgrund des § 119 SGB V nehmen die Zentren seit 1989 an der gesetzlichen Krankenversorgung teil und ergänzen damit die nieder- gelassenen Kinder- und Jugendärzte in ihrer Versorgungsaufgabe. „Für die betreuten Patienten bedeutet dies eine gelungene, verlässliche Versorgungsstruktur“, betonte Peters.

Betroffene Kinder müssen rechtzeitig gefördert werden

Allerdings gebe es immer noch Ver- sorgungslücken, insbesondere für die Mütter dieser Kinder. Häufig könnten diese keinen Beruf ausüben und hätten daher Nachteile in der Rentenversorgung. Die Versorgung dieser Kinder sei für ihre Familien mit hohem Aufwand verbunden, den sie ohne gesellschaftliche Hilfe oft nicht tragen könnten. Die Kom- plexität der zu betreuenden Themen überfordere aber auch die medizini-

schen Regelversorgungssysteme – ambulant wie stationär. „Wir müs- sen dafür insbesondere die für Er- wachsene unzulängliche Situation verbessern.“ Darüber hinaus mahn- te er die Hilfe für die Familien an:

„Am Anfang des Lebens sind die Unterschiede von behinderten Kin- dern zu gleich alten Säuglingen oh- ne Behinderung häufig noch nicht erkennbar.“ Diese stellten sich erst später ein. Aus diesem Grund be-

nötigten diese Familien – vor allem die Mütter – ärztliche Begleitung, damit die Kindern bei erkennbaren Problemen rechtzeitig gefördert und gezielt behandelt werden könnten.

Insbesondere stünden demnach die ärztlichen Kenntnisse und Er- fahrungen in diagnostischen und therapeutischen Belangen an erster Stelle, um die Versorgung sicher- zustellen. Darüber hinaus sei für die Betreuung komplexer Störun- gen eine Versorgung im multidiszi- plinären Team wichtig. „Eine lang- jährige Betreuung verlangt wegen der zahlreichen Fakten und der häu- fig bestehenden Entwicklung eine kontinuierliche Betreuung in perso- neller Konstanz“, sagte der Ärztli- che Leiter. „Wenn die Familie jedes Mal einem anderen Arzt begegnet, wird sie bald nach Alternativen su- chen. Sie will nicht jedes Mal beim Termin einem anderen Arzt wieder aufs Neue alles erzählen.“ Dies schmerze unnötig, und Eltern müss- ten sich zu häufig fragen, ob sie al- les richtig oder vielleicht sogar zu viel machten. Die Sozialpädiatri-

schen Zentren arbeiteten der Kom- plexität entsprechend interdiszipli- när und bezögen dabei die Familie und das soziale Umfeld mit ein. In den ärztlich geleiteten Teams seien unter anderem Mitarbeiter aus der klinischen Psychologie, Physiothe- rapie, Logopädie, Kinderkranken- pflege und Ergotherapie tätig. Je nach Bedarf wirkten externe Spe- zialisten, wie zum Beispiel aus der Orthopädie oder der Neurochirurgie, mit.

Geistig oder mehrfach behinderte Kinder seien grundsätzlich anfälli- ger für weitere Erkrankungen und wiesen dann anders akzentuierte Symptome und besondere Erkran- kungsverläufe auf. Dies erfordert nach Ansicht Peters andere Untersu- chungsstrategien und ein entspre- chend aufmerksames Problembe- wusstsein. „Deswegen benötigen die behandelnden Ärzte besondere Kenntnisse, wie sie zum Beispiel in der geplanten Zusatzweiterbildung Sozialpädiatrie für die medizinische Versorgung für Menschen mit geis- tiger und mehrfacher Behinderung vermittelt werden.“

Der Weg in die heutige Versor- gung sei jetzt genau 100 Jahre alt. Da- mals hätten die Pädiater ohnmächtig dem Phänomen gegenübergestan- den, dass in den Krankenhäusern ei- ne extrem hohe Säuglingssterblich- keit von bis zu 80 Prozent bestanden habe. Ein Problem der heutigen Ver- sorgung sei die gestiegene Lebens- erwartung der Betroffenen.

Der Ärztetag wies vor allem auf die wegbrechende Versorgung be- hinderter Menschen hin, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen.

Dann gebe es nur noch wenige spezialisierte Gesundheitsdienste in Einrichtungen der Behindertenhil- fe. „So entwickelt die Versorgung für Kinder und Jugendliche in Deutschland ist, die medizinische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger und Mehrfachbehinde- rung ist in Deutschland unzuläng- lich“, betonte Peters in seinem

Vortrag. I

Gisela Klinkhammer, Sunna Gieseke Aufmerksam ver-

folgten die Dele- gierten und der Vor- stand der Bundes- ärztekammer die Ausführungen der Referenten. Cornelia Goesmann moderier- te diesen Tagesord- nungspunkt. Frank Ulrich Montgomery leitete die Sitzung beim Tagesordnungs- punkt „Patienten- rechte in Zeiten der Rationierung“.

Referate von Michael Seidel und Helmut Peters im Internet:

www.aerzteblatt.de/091094

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