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Archiv "Die Lebensverlängerung und ihre Grenzen" (25.04.1991)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Lebensverlängerung und ihre Grenzen

Rudolf Gross

1. Statistisches

und Demographisches

Im Deutschen Ärzteblatt vom 5. Juli 1990 wur- de nach einer Zusammenstellung aus statistischen Jahrbüchern (7) die mittlere Lebenserwartung der Männer in der Bundesrepublik für 1989 mit 72,7 (gegenüber 69,9 im Jahre 1980), die der Frauen mit 79,2 (gegenüber 76,6 im Jahre 1980) angegeben. In- teressanterweise lagen die mittleren Lebenserwar- tungen in der DDR erstmalig (seit 1975) jeweils um eins bis drei Jahre niedriger als beim Gleichstand von 1975. Die Differenz mag verschiedene Gründe haben, obwohl die (neutrale) Weltgesundheitsor- ganisation bereits 1976 in ihrem Jahrbuch die Bun- desrepublik (neben anderen Industrienationen des Westens) zu den „überalterten", die DDR zu den

„stark überalterten" Ländern rechnete (8). Unab- hängig davon lassen sich mit den Arbeiten von Fries (3, 4) folgende Feststellungen treffen:

O Die Lebenserwartung und damit die Über- alterung hat im letzten Jahrhundert ständig zuge- nommen

• Die „Schere" zwischen Männern und Frau- en besteht, seit es zuverlässige Statistiken gibt, und öffnet sich langsam, aber stetig. Man kann den Frauenüberschuß eindrucksvoll einer Graphik im Handbuch der Gerontologie von Platt (10) entneh- men (rechtsschiefe Verteilung). Nach Franke (2) ist die Sterbewahrscheinlichkeit der Männer über 65 Jahren eineinhalbmal so groß wie die gleichaltri- ger Frauen. Nach einem WHO-Bericht dürfte es im Jahre 2000 175 Millionen mehr Frauen als Män- ner auf der Erde geben.

Neben hier nicht zu diskutierenden konstitu- tionellen, endokrinen, soziologischen Ursachen werden die häufigsten Neoplasien der Frau (Mam- ma, Portio, Corpus uteri) früher entdeckt, aber auch die Vorsorgeuntersuchungen häufiger in An- spruch genommen, bei der auch nicht geschlechts- spezifische lebensverkürzende Befunde, wie zum Beispiel eine Hypertonie, früher entdeckt werden.

Die gestiegene Lebenserwartung — in den USA von 47 Jahren um 1900 auf über 72 Jahre heu- te — ist, wie eindrucksvoll aus Graphiken von Fries und anderen (3) hervorgeht, eine Folge vor allem von geringerer perinataler Sterblichkeit und post- natalem Tod durch Infektionskrankheiten im ju- gendlichen Alter, die durch Schutzimpfungen, An- tibiotika usw. weitgehend gebannt sind. Dazu kom- men, mindestens in den sogenannten Industriena- tionen, bessere Ernährung, weiträumigeres Woh- nen, Wassersterilisation, mehr Freizeit. In umge- kehrter Richtung wirken die zunehmenden Unfäl- le, die bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen zur häufigsten Todesursache geworden sind. Sie er- reichen fünf bis zehn Prozent über die gesamte Le- benserwartung hin.

el

Über diesen unnatürlichen Tod hinaus wurden die Überlebenskurven von der Geburt über das 20., 45. und 75. Lebensjahr hinaus zwischen 1900 und 1980 flacher, wenn auch selbst im höch- sten zensierten Lebensjahr noch ein leichter An- stieg zu verzeichnen ist. Sie erreichen immer mehr eine in den mittleren Jahren nach oben gewölbte Kurve. Die ideale Kurve nähert sich (ohne Unfälle) einem rechten Winkel. Fries (3) hat für 1970 bis 1980 extrapoliert, daß das durchschnittliche Ster- bealter im Jahre 2018 „unter idealen Bedingungen"

bei 85 Jahren oder darunter liegen dürfte. Im Jahre 2045 (wiederum unter „idealen Bedingungen") wer- den sich die Lebenserwartungskurven der verschie- denen Lebensalter theoretisch überschneiden, wirk- lichkeitsnäher asymptotisch nähern. Er nimmt an, daß (wiederum unter optimalen Bedingungen) 66 Prozent der Bevölkerung zwischen 81 und 89 Le- bensjahren, 95 Prozent zwischen 77 und 93 Lebens- jahren „einen natürlichen Tod" sterben werden.

2. Praktische Bedeutung

Die genannte Approximation hat auch prak- tisch weitreichende Konsequenzen. Im Positiven dürfte sie bei vernünftiger Lebensweise zu einem

Dt. Ärztebl. 88, Heft 17, 25. April 1991 (43) A-1471

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kürzeren Anteil der Invalidität an der Lebenszeit führen. Das gilt, obwohl der Tod an chronischen Krankheiten wie Arteriosklerose, Tumorleiden, Arthritis, Leberzirrhose, chronische Obstruktion der Atemwege und Bronchitis die akuten Todesfäl- le weit hinter sich gelassen hat. Die Verkürzung durch Invalidität könnte zu einer Entlastung unse- rer Gesundheitsausgaben führen, obwohl mir die entgegengesetzten Trends bis hin zur Polypathie, Multimorbidität, vermehrten Inanspruchnahme von ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen wohl bekannt sind (siehe auch bei 5, 6).

Fries (3) kommt zu der scheinbar radikalen Aussage, daß gerade bei Betagten das Kalenderal- ter eine viel geringere Rolle spiele als etwa Trai- ning von Körper und Geist, soziale Aktionen und ähnliches.

3. Tod ohne Krankheit?

Umstritten und hier nicht im einzelnen zu dis- kutieren ist die Frage, ob Tod immer die Folge von Krankheit sein muß oder auch „spontan", das heißt aus subjektivem Wohlbefinden heraus und bei nor- malen, altersentsprechenden Laborparametern eintreten kann. Vieles spricht für die letztere An- nahme Doch handelt es sich letztlich im Rahmen altersbedingter Veränderungen um eine Frage der Definition „Krankheit".

4. Gibt es eine unbegrenzte Lebenserwartung?

Wenn wir in der Lage sind, die mittlere Le- benserwartung immer weiter hinauszuschieben:

Kann man mit einer - wenigstens theoretisch - un- begrenzt höheren Lebenserwartung rechnen? Sie müßte dann mindestens einzelnen Individuen mit besonders günstiger genetischer und umweltbe- dingter Konstellation zukommen. Bis jetzt gibt es keine Hinweise in dieser Richtung. Comfort (1), Fries (3, 4) und andere schätzen die Zahl der über Hundertjährigen, mit denen sich in der Bundesre- publik besonders Hans Franke (2) beschäftigt hat, auf 1:10 000 und geben 1980 als ältesten (gesicher- ten) Fall einen Japaner mit 140 Jahren an.

Für diese Grenze gibt es eine Anzahl von Gründen:

Alle Beobachtungen seit dem im 19. Jahr- hundert wirkenden englischen Statistiker Gom- pertz zeigen einen exponentiellen Anstieg der Ab- sterbekurve etwa ab dem 30. Lebensjahr; die Ver- dopplungszeit beträgt etwa acht Jahre.

• Hayflick (zit. bei 3) konnte in Kulturen menschlicher Fibroblasten zeigen, daß diese auch unter anscheinend optimalen Bedingungen etwa ab der 50. Teilung ihr Wachstum einstellten und schließlich abstarben, während sie sich in jüngeren Proliferationszyklen noch von einer zeitweiligen Verschlechterung des Mediums wieder gut erhol- ten.

• Während unsere Organe unter „Vita-maxi- ma"-Bedingungen das Vier- bis Zehnfache der im täglichen Leben erforderlichen Funktionen oder Stoffwechselprodukte aufbringen, findet etwa ab dem 30. Lebensjahr eine nahezu lineare Regressi- on statt.

O Wie wir früher betont hatten (Deutsches Ärzteblatt vom 25. Juni 1982), ist das Alter nicht zuletzt eine Funktion unseres „zweiten Gewebes", das heißt des Immunsystems, mit den Folgen:

schlechtere Adaptation an veränderte Umweltbe- dingungen - vermehrte Anfälligkeit für Infektionen - vermehrtes Auftreten von Autoantikörpern - Verminderung der hämatopoetischen Stammzellen und der Nukleinsäure = Repairmechanismen - ge- häufte Inzidenz von Tumoren durch gestörte Eli- mination „verbotener Klone".

Wir haben also allen Grund zu der Annahme, daß wir, wie andere Lebewesen, eine natürliche Al- tersgrenze haben. Sie zu erreichen bei einem mög- lichst geringen Anteil von Invalidität und Debilität innerhalb der Lebensspanne, ist das Ziel der Medi- zin heute und morgen. Fries (3) schreibt dazu tref- fend: „Es wird immer Krankheit geben. Theoreti- schen Kurven können wir uns nähern, nicht aber sie erreichen."

Literatur

1. Comfort, A.: The Biology of Senescence. New York, Elsevier, 1979

2. Franke, H.: Hohe und Höchstbetagte. Heidelberg, Springer 1987

3. Fries, I. F.: Aging. Natural Death and the Compression of Morbidity. New Engl. J. Med. 303 (1980) 131

4. Fries, I. F.; Ehrlich, G. E. (Edit.): Prognosis: Contemporary outcomes of Diseases. Bowie (nd.), Charles Press, 1980 5. Gross, R.: Muß eine bessere Krankenversorgung zu finanziel-

len Engpässen führen? Med. Welt 41(1990) 99

6. Gross, R.; Hoffmann, A.: Schwerkranke, Lebensqualität und finanzielle Engpässe. Dt. Ärztebl. 85 (1988) 3140

7. IMU: Zusammenfassung stat. Jahrbücher 1989

8. Martin, E.; Junod, J.-P.: Lehrbuch der Geriatrie; deutsch bei H. Huber, Bern, 1986

9. McKeown, Th.: The role of Medicine: Dream, Mirage or Ne- mesis, Princeton, Univ. Press, 1976, 1979; deutsch bei Suhr- kamp, Frankfurt, 1979

10. Platt, D.: Handbuch der Gerontologie, I: Innere Medizin G. Fischer, Stuttgart, 1983

Prof. Dr. med.

Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5 5000 Köln 41

A-1472 (44) Dt. Ärztebl. 88, Heft 17, 25. April 1991

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