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Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie. Mit 11 Abbildungen und 2 Tabellen

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Lebende Systeme

Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie

Mit 11 Abbildungen und 2 Tabellen

Springer-Verlag Berlin Heidelberg N ew York

London Paris Tokyo

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Dr. Fritz B. Simon

Psychosomatische Klinik der Universität Heidelberg Abt. 3.2.2 Psychoanalytische

Grundlagenforschung und Familientherapie Mönchhofstr. 15 a

6900 Heidelberg

ISBN 3-540-18354-X Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN 0-387-18354-X Springer-Verlag New York Berlin Heidelberg

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Lebende Systeme: Wirklichkeitskonstruktionen in d. system. Therapie / Fritz B. Simon (Hrsg.). - Berlin ; Heidelberg ; New York ; London ; Paris ; Tokyo : Springer, 1988 ISBN 3-540-18354-X (Berlin ... )

ISBN 0-387-18354-X (New York ... ) NE: Simon, Fritz B. [Hrsg.]

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der Fassung vom 24. Juni 1985 zulässig.

Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1988 Printed in Germany

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

Satz (Datenkonvertierung), Druck und Bindung: Appl, Wemding 2119/3145-54321

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Einleitung:

Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie

F.B.SIMON . . . . Was ist Kommunikation?

1

N.LuHMANN . . . . . . " 10 Abbau und Aufbau

H. VON FOERSTER. . . . 19 Erkenntnis und Leben

F.J. VARELA . . . . . . 34 Selbstreferentielle Systeme

N.LuHMANN . . . . . . . 47 Prinzipien der systemischen Therapie

H. STIERLIN . . . . . 54 Fallbeispiel:

Transkript einer Sitzung und Therapieverlauf

G. WEBER und B. SCHMID . . . .. 66 Diskussion des Fallbeispiels

H. VON FOERSTER, N. LUHMANN, B. SCHMID

H. STIERLIN und G. WEBER . . . .. . . . 80 Katamnese und Kommentar zur Diskussion

G. WEBER und B. SCHMID . . . " 92 Kreuzverhör: Fragen an Heinz von Foerster, Niklas Luhmann und Francisco Varela . . . " 95 Autopoiese, strukturelle Kopplung und Therapie - Fragen an Francisco Varela . . . 108

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VI Inhaltsverzeichnis

Konstruktivismus versus Solipsismus - Fragen an Heinz von Foerster . . . 121 Therapeutische Systeme - Fragen an Niklas Luhmann . . 124 Zum Schluß:

Einige ungeordnete Gedanken zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Therapie

F. B. SIMON . . . . 139

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VON FOERSTER, H., Prof. Dr.

1 Eden West Road, Pescadero, Ca. 94060, USA.

LUHMANN, N., Prof. Dr.

Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, 4800 Bielefeld.

SCHMID, B., Dr.

Institut für systemische Therapie, Schloßhof 3, 6908 Wiesloch.

SIMON, F. B., Dr.

Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Fami- lientherapie der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidel- berg, Mönchhofstr. 15 a, 6900 Heidelberg.

STIERLIN, H., Prof. Dr. Dr.

Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Fami- lientherapie der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidel- berg, Mönchhofstr. 15 a, 6900 Heidelberg.

VARELA, F., Prof. Dr.

Centre de Recherche Epistemologie et Autonomie (C. R. E. A.), Ecole Polytechnique, 1, rue Descartes, 75005 Paris, Frankreich

WEBER, G.

Institut für systemische Therapie, Schloßhof 3, 6908 Wiesloch.

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(9)

Systemischen Therapie

F.B.SIMON

Es gibt kaum andere Ideen, die in den letzten Jahrzehnten mit vergleichbarer Fas- zination in den unterschiedlichsten Wissenschafts bereichen von der Biologie bis zur Soziologie, von den Literaturwissenschaften bis zur Physik aufgenommen und entwickelt worden sind wie die der Systemtheorie. Aber auch kaum andere Ideen haben vergleichbare Kontroversen ausgelöst. Einer der Gründe dafür dürfte darin liegen, daß eigentlich jeder eine andere Vorstellung davon hat, was Systemtheorie ist, sein kann, oder sein sollte, und welche praktischen Konsequenzen sich aus ihr ableiten lassen. Zurückführen läßt sich dies zum einen darauf, daß es keine ein- heitliche, in sich geschlossene Systemtheorie gibt, zum anderen, daß ihre Entwick- lung sehr vielschichtig und rasant vor sich geht, so daß eigentlich nur sehr selten zwei Personen von den gleichen Vorannahmen ausgehen, wenn sie über System- theorie reden.

Psychiatrie und Psychotherapie können als exemplarisch für diesen etwas ver- wirrenden Prozeß angesehen werden. Hier waren es vor allem Schizophrenie- und Familienforschung, die systemische Konzepte verwendeten.

Zunächst bedeutete dies lediglich, daß der Rahmen des Beobachtungs- und Untersuchungsfeldes erweitert wurde. Statt des Individuums wurde eine Familie betrachtet, statt intrapsychischer Dynamik wurden Interaktionsprozesse studiert.

Als System wurde dabei die Familie betrachtet, als Element das menschliche Indi- viduum. Nicht geradlinige Ursache-Wirkungs-Beziehungen wurden erklärt, son- dern zirkuläre Rückkopplungsprozesse, Interaktionsregeln und Spiele. Die Erklä- rung für die beobachteten, als "pathologisch" kategorisierten Prozesse wurde nunmehr nicht mehr innerhalb der Grenzen des Individuums, sondern innerhalb der Grenzen der Familie gesucht. Statt "gestörter" physiologischer Prozesse wurde

"gestörte" Kommunikation untersucht.

All dies war gemessen an den organmedizinischen Vorstellungen über die Ätiologie psychischer Krankheiten zwar etwas ungewohnt, aber im Prinzip nicht revolutionär. Man blieb innerhalb der Vorannahmen herkömmlicher Wissenschaf- ten: die Spaltung zwischen dem beobachtenden Subjekt (dem Therapeuten) und dem zu untersuchenden Objekt (dem "System" Familie) blieb gewahrt. Still- schweigend wurde vorausgesetzt, daß diesem System losgelöst von den Bedingun- gen des Beobachters und der Beobachtung irgendwelche Eigenschaften zuge- schrieben werden könnten.

Die Faszination eines solchen Theorieansatzes lag darin, daß sich völlig neue Behandlungsstrategien daraus ableiten ließen. Wo das Symptomverhalten eines Individuums seine Erklärung in den Interaktionsregeln einer Familie fand, mußte es sich durch die Veränderung dieser Interaktionsregeln beeinflussen lassen.

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2 Einleitung: Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie

Die Formulierung der double-bind-Hypothese durch Gregory Bateson und seine Mitarbeiter im Jahre 1956 muß rückblickend als hervorragender Markstein auf dem Weg zu einer systemischen Therapie angesehen werden. Zum ersten Mal wurde das Symptomverhalten von Patienten, die als schizophren diagnostiziert worden waren, im Rahmen eines kybernetischen Modells menschlicher Interak- tion interpretiert und erklärt. 1 Mitglieder dieser Forschergruppe bildeten denn auch den Kern des Mental Research Institute in Palo AHo, wo versucht wurde, familien- und kurztherapeutische Methoden auf der Basis kybernetischer und systemtheoretischer Ansätze zu entwickelten ("Kommunikationstherapie" und

"Strategische Therapie").2

All diese Therapieverfahren gingen von einem Modell diskontinuierlicher Ver- änderung aus, das der Biologie W. Ross Ashby als Veränderung 2. Ordnung bezeichnet hatte.3 Er hatte Mechanismen des Wandels beschrieben, bei denen dynamische Systeme ihre Struktur sprunghaft, von einem Moment zum andern, veränderten. Die Kybernetik bot also eine Theorie der Veränderung, die von den bislang im Rahmen der Psychotherapie meist zugrunde gelegten, in der Tradition der Psychoanalyse stehenden Entwicklungskonzepten abwich. Nach diesen Kon- zepten war Wandel nur in einem kontinuierlichen, in kleinen Schritten erfolgen- den Prozeß möglich. Daraus ergab sich fast zwangsläufig die Gleichung: Je schwerer die "Störung", desto länger die Therapie. Wo in der Theorie der Thera- peuten Veränderung nur langsam erfolgen kann, da werden auch nur Methoden erfunden, die der erwarteten Zeitperspektive gerecht werden. Mit der Anwendung eines kybernetischen Modells trat neben die Möglichkeit kontinuierlicher Ent- wicklung (Veränderung 1. Ordnung) auch die Möglichkeit zu schneller Verände- rung ins Blickfeld der Therapeuten. Es wurden Methoden eingehender studiert, die bislang wenig beachtet worden waren oder eine Außenseiterexistenz fristeten.

Die Erfolge der Therapeuten, die sie anwendeten, waren bis dahin nicht zur Kenntnis genommen worden, weil sie - den theoretischen Vorannahmen wider- sprechend - nicht "real" sein konnten und dem Bereich der Scharlatanerie zuge- rechnet worden waren. Als Musterbeispiel dafür sei hier der Hypnotherapeut Mil- ton Erickson4 genannt.

Es mußte zwangsläufig zu fachlichen Kontroversen kommen. Generationen von Psychiatern und Psychotherapeuten waren schließlich alltäglich damit kon- frontiert, daß sie die Verhaltens-, Erlebens- und Reaktionsweisen ihrer Patienten nur in sehr beschränktem Maße vorhersagen, berechnen und in noch weit geringe- rem Maße beeinflussen konnten. Auch die Konstruktion sehr komplizierter Theo-

1 Bateson G, Jackson D, Haley J, Weakland J (1956) Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie.

In: Bateson G (1972, dt. 1981) Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt, S. 270-301.

2 Watzlawick P, Beavin JH, Jackson DD (1967, dt. 1969) Menschliche Kommunikation. Huber, Bem

Watzlawick P, Weakland JH, Fisch R(1974) Lösungen. Huber, Bem Haley J (1976, dt. 1977) Direktive Familientherapie. Pfeiffer, München

Für eine ausführlichere Literaturübersicht siehe Simon FB u. Stierlin H (1984) Die Sprache der Familientherapie. Klett - Cotta, Stuttgart, S.193/194 u. 339/340.

3 Ashby WR (1952) Design for a Brain. Chapman & Hall, London

4 Haley J (1973, dt. 1978) Die Psychotherapie Milton H Ericksons. Pfeiffer, München Literaturübersicht bei Simon u. Stierlin, a. a. 0., S.150-151.

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rien über die Mechanismen des psychischen Apparats und der Psychodynamik, sowie alle Versuche der Einfühlung änderten nur wenig an dieser Erfahrung. Wie die Theorie es verlangte, ergaben sich Veränderungen in der Individualtherapie, wenn überhaupt, nur in einem mühevollen und langwierigen Prozeß. Und nun sollte es einfacher sein, schneller und fast spielerisch leicht, eine Menge von Individuen, ein Interaktionssystem, zu analysieren und therapeutisch zu beeinflussen? Dies widersprach dem "gesunden Menschenverstand", der ja zunächst einmal nahe- legte, daß sich bei Betrachtung mehrerer Individuen die Komplexität potenziert.

Und, so merkwürdig dies auf den Blick auch scheinen mag, wer sich als Thera- peut darauf einläßt, mit Familien oder anderen für einen Symptomträger emotio- nal wichtigen Interaktionssystemen zu arbeiten, kann neue und überraschende Erfahrungen machen und so etwas wie "Wunderheilungen" beobachten. Durch das Anlegen einer Systemperspektive wird eine neue und sehr nützliche Form der Komplexitätsreduktion möglich: entschließt man sich, ein Interaktionssystem statt eines menschlichen Individuums zu therapieren, so hat man es als Therapeut mit einem System zu tun, dessen Funktionieren im Gegensatz zur intrapsychischen Dynamik eines Individuums für einen außenstehenden Beobachter direkt zu beobachten ist. Während die Gefühle und Gedanken eines einzelnen Menschen unmittelbar höchstens der Selbstbeobachtung zugänglich sind, gehört das Verhal- ten der Teilnehmer an einem Interaktionssystem einem Phänomenbereich an, wel- cher einer Außenbeobachtung direkt zugänglich ist. Es lassen sich also auch erheblich leichter und weniger spekulativ Hypothesen über die Funktionsregeln von Interaktionssystemen als über jene von psychischen Systemen aufstellen.

Bezieht man die Verhaltensweisen der Interaktionsteilnehmer aufeinander, so ist ihnen ein anderer Sinn zuzuschreiben, als wenn man sie jeweils auf intrapsychi- sche Motive bezieht.

In der therapeutischen Praxis erwies sich, daß es sehr oft ausreichte, den Pa- tienten in seiner Eigenschaft als Element eines Interaktionssystems zu betrachten:

änderten sich die Regeln der Interaktion, so verschwand das Symptom.

In diesem Therapieansatz wurde das menschliche Individuum als eine Art informationsverarbeitender Maschine betrachtet, deren innere Strukturen man nicht zu kennen brauchte; es reichte, nach der black-box-Methode Eingabe/ Aus- gabe-Relationen festzustellen. Jedes Verhalten eines Familienmitglieds wurde als Information für alle Beteiligten gesehen. Der Therapeut als außenstehender Beob- achter konnte immer wiederkehrende, charakteristische Interaktions- und Kom- munikationssequenzen beschreiben, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen irgendwie beteiligt waren oder zumindest in irgendeinem funktio- nellen Zusammenhang standen. Er konnte im Idealfall "Wenn ... , dann ... "-Aus- sagen formulieren, durch die individuelle Verhaltensweisen miteinander logisch verknüpft wurden (Muster: "Wenn der Vater mit dem Sohn schimpft, dann beginnt der Sohn zu weinen. Wenn der Sohn weint, dann geht die Mutter zu ihm und tröstet ihn. Wenn die Mutter den Sohn tröstet, dann hört der Vater auf zu schimpfen; usw."). Wenn nach der Funktion eines Verhaltens gefragt wurde, so interessierte nicht die subjektive Intention, aus der heraus es initiiert wurde, son- dern lediglich seine Wirkung auf die Verhaltensweisen der anderen.

Auch Familien ließen sich nach diesem Modell beschreiben. Auf die Interven- tionen des Therapeuten hin zeigte die Familie bestimmte Reaktionen. Dement-

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4 Einleitung: Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie

sprechend ließen sich therapeutische Strategien zur Veränderung und Beeinflus- sung irgendwelcher als problemerzeugend oder -erhaltend angesehener Interak- tionsmuster und Spiele entwickeln. Beispielhaft dafür sind die Vorgehensweisen der Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli. Das "Mailänder Modell" mit seinen "paradoxen" Interventionen (die nicht so sehr paradox im logischen Sinne, als vielmehr den Erwartungen der Patienten und den gewohnten Denkschemata der Therapeutenzunft zuwiderlaufend waren) wurde zum Synonym und Muster für "Systemische Therapie".5

Alle Erklärungen in diesem Ansatz bezogen sich auf die Regeln des Interak- tionssystems. Auf individueller Ebene wurden keine Erklärungen geliefert. Es ent- stand eine Psychotherapie, in der die Psyche nicht vorkam; es ist ja das Prinzip der black-box-Methode, auf Aussagen über die inneren Strukturen der untersuch- ten schwarzen Kisten zu verzichten. Sie sind auch für das Alltagshandeln nicht von Interesse, solange sich mit ihrer Zuverlässigkeit, d. h. dem regelmäßigen Ver- halten dieser Kisten, rechnen läßt (man braucht nicht zu wissen, wie ein Fernseh- apparat gebaut ist, um in der Lage zu sein, die tägliche Nachrichtensendung aus ihm herauszulocken).

Will man aber erklären, wie es dazu kommt, daß ein Familienmitglied auf das Verhalten eines anderen Familienmitglieds hin ein bestimmtes Verhalten zeigt, so muß man nach dem kommunikativen Gehalt der verschiedenen möglichen eige- nen oder fremden Verhaltensweisen fragen. Erst die Einbeziehung der semanti- schen Ebene, d.h. individueller und kollektiver Bedeutungsgebungen, macht sol- che Erklärungen möglich. Wer versteht, was für den einzelnen die Verhaltenswei- sen der anderen bedeuten, kann die Entstehung und Aufrechterhaltung der Interaktionsregeln der Familie erklären. Dazu muß aber der einzelne Patient wie auch jedes andere Familienmitglied als Beobachter eines Systems gesehen werden, dessen Element er ist (der Familie, des therapeutischen Systems).

Die Erfahrung, daß die verschiedenen Familienmitglieder ihre Familie oft in höchst unterschiedlicher Weise beschrieben, ja geradezu in verschiedenen Fami- lien zu leben schienen, führte den Familientherapeuten vor Augen, daß die Beschreibung der Wirklichkeit weitgehend von der Perspektive der Beobachtung, der Position des Beobachters innerhalb oder außerhalb des Systems bestimmt ist.

Familienmitglieder, die eine Beschreibung ihrer Familie abgeben, beschreiben immer auch sich selbst. Die Subjekt-Objekt-Spaltung, wie sie in der Vorstellung objektiver Erkenntnis vorausgesetzt wird, ist in einem solchen Falle nicht möglich:

die Familie ist gerade so wie sie von den Familienmitgliedern beschrieben wird, weil sie von ihnen so und nicht anders beschrieben wird. Und das therapeutische System, die Therapeut-Patient- oder Therapeut-Familien-Interaktion ist gerade so wie sie ist, weil der Therapeut seine Interaktionspartner so beschreibt, wie er sie beschreibt und seine Interaktionspartner ihn so beschreiben, wie sie ihn beschrei- ben.

In den Fokus der Aufmerksamkeit systemisch orientierter Therapeuten traten also immer mehr Fragestellungen, die sich mit der Beziehung von Wirklichkeit

5 Selvini Palazzoli M, Boscolo L, Cecchin G, Prata G (1975, dt. 1981) Paradoxon und Gegenparado- xon. 3. Aufl. KJett - Cotta Stuttgart

Literaturübersicht bei Simon u. Stierlin, a. a. 0., S. 360.

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und Erkenntnis angesichts der Selbstbezüglichkeit von Erkenntnis beschäftigten.

Philosophen hatten dies schon lange als Problem erachtet, nun wurde es auch als praktisches Problem wahrgenommen.

Angesichts der Notwendigkeiten innerhalb der Familientherapie ergaben sich zunächst folgende konkrete Fragestellungen: Wie konstruieren die einzelnen Familienmitglieder ihre unterschiedlichen subjektiven Wirklichkeiten? Aus wel- chen familiären Interaktions- und Kommunikationsmustern leiten sie sich ab, wel- che leiten sich aus ihnen ab? Wie bestätigt jeder durch sein Verhalten die Wirk- lichkeitskonstruktionen aller anderen? Wie verändern sich solche Weltbilder und wie verändern sich Interaktionsmuster? Unter welchen interaktionellen Bedingun- gen entsteht "normales" oder "verrücktes" Denken und Fühlen.

Die systemische Sichtweise wurde so zur epistemologischen, Systemtheorie zur Epistemologie. Neben den Arbeiten Gregory Batesons6 lieferten hier vor allem die psychologischen und philosophischen Theorien des Konstruktivismus pas- sende Konzepte. Erkenntnis wurde nicht mehr im Sinne der Spaltung zwischen dem erkennenden Subjekt und einer von ihm getrennten, ihm gegenüberste- henden Welt erklärt, sondern in seiner (Über-)Lebensfunktion. Lebende Systeme wurden als kognitive Systeme gesehen, "Leben" wurde zum Synonym für "Kogni- tion".7

Ringt man sich als Therapeut zu dieser epistemologischen Sicht durch, so kommt man nicht umhin, auch die eigene Rolle als Beobachter zu hinterfragen.

Inwieweit sind die Phänomene, die man beschreibt, z. B. die familiären Spielre- geln, die mehr oder weniger "gestörten" Grenzen- und Hierarchiebildungen, fami- liäre Normen und Werte etc., die als Grundlage einer systemorientierten Familien- diagnostik dienen, charakteristische Eigenschaften der Familie (d. h. des unter- suchten Objekts)? Sind es nicht auch Phänomene, die durch die Beobachtung oder den Beobachter erst hergestellt werden? Kann man die Familie überhaupt als System betrachten? Muß nicht das System "Familie-Therapeut" beobachtet wer- den? Der Einwegspiegel symbolisiert den Versuch, hier eine Subjekt-Objekt-Spal- tung, d. h. die Einhaltung der Außenperspektive, zu gewährleisten. Doch muß dann nicht konsequenterweise das System "Familie-Therapeut-Beobachter"in sei- ner wechselseitigen Bedingtheit untersucht werden? Wie rettet man sich vor dem Strudel des unendlichen Regresses, den Visonen und Reflexionen unendlicher Reihen von Einwegspiegeln, durch die auf andere Einwegspiegel geschaut wird?

Vor allem aber: Was ist die praktische Relevanz all dieser Überlegungen? Was ist für die Therapie gewonnen, wenn man die Vorstellung einer vom Beobachter unabhängigen Realität aufgibt? Welche (Be-)Handlungsstrategien lassen sich dar- aus ableiten? Ähnliche Fragen stellen sich nicht nur Familientherapeuten, sondern auch all denen, die zum Beispiel als Berater mit (in) Institutionen, Unternehmen oder anderen sozialen Systemen arbeiten und versuchen, ihre eigene Wirkung systemisch zu verstehen. Als Mensch, der mit einem sozialen System arbeitet, ist

6 Bateson G (1972, dt. 1981) Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt Bateson G (1979, dt. 1982) Geist und Natur. Suhrkamp, Frankfurt

7 Watzlawick P (1981) Die erfundene Wirklichkeit. Piper, München

Maturana H (1982) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Braunschweig

von Foerster H (1985) Sicht und Einsicht. Vieweg, Braunschweig

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6 Einleitung: Wirklichkeits konstruktionen in der Systemischen Therapie

man immer auch Element eines sozialen Systems und insofern den Gefahren der Selbstbezüglichkeit ausgeliefert.

Hier liegt der Unterschied zwischen dem Handwerk des Beraters oder Thera- peuten, der es mit lebenden und sozialen Systemen zu tun hat, und dem Hand- werk des Fernsehmonteurs. Der defekte Fernsehapparat reagiert relativ selten auf Zuspruch, seine Reparatur erfordert den direkten Eingriff. Der Monteur muß den Konstruktionsplan und die Funktionsweise des Apparats kennen, über die richti- gen Werkzeuge und Ersatzteile verfügen, dann kann er seinen Auftrag erfolgreich erfüllen. Der Monteur wird aber nicht (oder zumindest nur selten) zum Teil des Fernsehapparats.8 Auch ist das Gerät nicht in der Lage, aus sich heraus kreativ neue Strukturen zu entwickeln oder nicht angemessen funktionierende Teile aus- zutauschen. Dieser Unterschied zwischen lebenden und nicht-lebenden Systemen führt dazu, daß die Therapie sozialer Systeme nach anderen Gesichtspunkten erfolgen muß als die Reparatur mechanischer Apparate.

Doch welche Konsequenzen kann und muß man als Therapeut daraus ziehen? Ist die Entwicklung aller therapeutischen "Techniken" vergeblich? Sind die Erfolge ihrer Anwendung nur das Ergebnis des (Selbst-)Betrugs der Thera- peuten? Ist es beliebig, wie man mit Patienten, die an psychischen Krankheiten leiden, bzw. ihren Familien umgeht? Ist jede Interaktionsstrategie gleich wirk- sam oder unwirksam im Hinblick auf die Entwicklung des Patienten und seiner Familie?

Die Verunsicherung, die systemisches Denken über die Zunft der Psychothera- peuten und Psychiater bringt, basiert auf der In-Frage-Stellung von Vorannahmen, die unser Alltagsdenken ebenso bestimmen wie das etablierte wissenschaftliche Denken. Die wichtigste Prämisse, von der man sich verabschieden muß, ist die Annahme, man könne irgendwelche von den Bedingungen der Beobachtung unabhängige, d. h. " obj ektive" , Aussagen über irgendeinen Patienten machen und dementsprechend auch "objektiv richtige" Therapiestrategien für irgendeine

"objektiv" definierte "Störung" entwickeln. Dem steht die Erfahrung entgegen, daß man sich mit anderen Beobachtern ja durchaus auf irgendwelche diagnosti- sche Kriterien einigen kann. Verschiedene Beobachter einer Familie und ihrer Interaktion kommen also zum Beispiel zu der übereinstimmenden Diagnose, daß in dem betrachteten Fall eine Parentifikation, eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern festzustellen ist. Ist dies nun "wirklich" eine angemessene Beschrei- bung der Familie oder ist es Ausdruck einer folie

a

deux

(a

trois,

a

quatre - je nachdem, wieviele hinter dem Spiegel sitzen) der Therapeuten? Mit der In-Frage- Stellung der Subjekt-Objekt-Spaltung schwindet auch die Sicherheit der Zuschrei- bung von Eigenschaften zu Objekten (Systemen), seien es nun Individuen oder Familien. Dennoch scheint die Erfahrung zu lehren (diese vorsichtige Formulie- rung ist wegen der verlorenen Sicherheit darüber gewählt), daß Veränderungen im Rahmen therapeutischer Prozesse nicht nur zufällig stattfinden. Man kann Regeln der therapeutischen Kunst formulieren und darüber in Fachkreisen einen Kon- sens erzielen.

8 Manchmal gibt es offenbar auch dies, wenn man beispielweise die Antenne des (meist defekten) Apparats in einer bestimmten Weise festhalten muß, um so als deren Verlängerung für einen guten Empfang zu sorgen.

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Wie steht es aber überhaupt mit der Zuschreibung irgendwelcher Veränderun- gen beim Patienten zu den Aktivitäten, der Anwendung von Techniken durch den Therapeuten? Ist dies nicht die Konstruktion einer geradlinigen Ursache-Wir- kungs-Sequenz, die aus kybernetischer Sicht keine adäquate Beschreibung rekursi- ver Interaktionsprozesse ist? Andererseits: wie soll man überhaupt handeln, wenn man nicht sich selbst als Ursache für irgendwelche Wirkungen annimmt? Sind die Begriffe unseres Alltagsdenkens in der Lage, systemische Konzepte darzustellen und die aus ihnen resultierenden Konsequenzen zu erfassen?

Es sind Fragen, die weit über den psychotherapeutischen Bereich hinaus rele- vant sind und die Grundlagen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie berüh- ren. Vor allem haben sie aber - wiederum nicht nur im Therapiebereich - eine Unmenge praktischer Konsequenzen. Um ihre Beantwortung ein wenig voranzu- treiben, veranstaltete die Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie im Frühjahr 1986 in Heidelberg ein Symposium, an dem einige der prominentesten und originellsten Vertreter der gegenwärtigen systemtheoretischen Forschung teil- nahmen: der Physiker und Ingenieur Heinz von Foerster, der Soziologe Niklas Luhmann und der Neurobiologe Francisco Varela.

Es waren psychotherapeutische Praktiker, welche hier den Dialog mit fach- fremden Theoretikern suchten. Das Erkenntnisinteresse beider Gruppen (wenn man die genannten drei Referenten einmal zu einer Gruppe zusammenfaßt) ist sehr verschieden. Während die Theoretiker eher Ingenieuren zu vergleichen sind, die an einem Zeichentisch einen Konstruktionsplan entwerfen und auf seine ratio- nale Stimmigkeit hin überprüfen und verbessern, muß man die Praktiker wohl eher mit Bastlern vergleichen, die vor irgendwelchen aktuell zu bewältigenden Problemen stehen und nun in irgendeiner Wühlkiste mit Schrauben, Resten irgendwelcher Gerätschaften, Drähten und Schnüren herumsuchen, um irgendein Instrument oder Werkzeug zu bauen, mit dessen Hilfe das Problem pragmatisch gelöst werden kann. Wer bei diesem Symposium was von wem wollte, dürfte also eindeutig sein. Es war eine Einladung an die Theoretiker, sich bzw. ihre Theorien benützen zu lassen, Anregungen und Rohstoff für die Bastelarbeiten der Praktiker zu liefern.

Heinz von Foerster gilt als einer der Gründerväter der Kybernetik. Er hat sich vor allem unter formalen Gesichtspunkten mit den Operationsweisen selbstrefe- renter Systeme beschäftigt. Er war es, der die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf die Rolle des Beobachters in der Kybernetik gerichtet und somit die "Kybernetik zweiter Ordnung" begründet hat. Seine Schlüsse sind radikal: er stellt die Mög- lichkeit objektiver Erkenntnis ganz generell in Frage. Er zeigt auf, wie der Mensch sich selbst die Objekte, die er da draußen in der Welt außerhalb seiner selbst loka- lisiert, konstruiert; und wie er sich selbst, seine Strukturen und Verhaltensweisen dabei stabil hält.9

Niklas Luhmann beschäftigt sich ebenfalls seit Jahren mit der theoretischen Erfassung selbstreferenter Systeme. Naturgemäß sind es vor allem soziale Systeme, denen sein Interesse gilt. Ganz im Gegensatz zu den Systemvorstellun- gen, denen Familien- und andere Systemtherapeuten bislang gefolgt sind, sieht er nicht die Individuen als Elemente der von ihm untersuchten Systeme; den einzel-

9 von Foerster H (1985) Sicht und Einsicht. Vieweg, Braunschweig

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8 Einleitung: Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie

nen Menschen rechnet er zur Umwelt der von ihm beschriebenen und analysierten sozialen Systeme. Das führt zu einem neuen, den Menschen zur Randbedingung machenden Verständnis von Kommunikationssystemen.1o

Francisco Varela hat sich eingehend mit den physiologischen Vorausetzungen und Prozessen der Erkenntnis und der Interaktion zwischen inneren und äußeren Strukturen beschäftigt. Zusammen mit Humberto Maturana entwickelte er das Konzept der Autopoiese, nach dem biologische Organismen sich mit Hilfe ihrer eigenen Stukturen selbst herstellen und ihre Organisation erhalten. Sie werden als autonom und ihr Verhalten durch ihre internen Strukturen bestimmt angese- hen. Veränderungen der Umwelt können demnach niemals bestimmen, was in einem solchen autonomen System geschieht - es verhält sich stets so, wie es seinen internen Strukturen gemäß ist. Die Folgerung daraus ist, daß es zwischen Er- kenntnis und Erkanntem auch niemals ein Abbild-Gegenstand-Verhältnis geben kann, die äußere Realität kann nicht die innere determinieren. Jedes lebende System bestimmt selbst, was es wie erkennt und welche Wirklichkeit es konstru- iert.11

Der gemeinsame Nenner, der das Denken dieser drei Theoretiker bestimmt, ist eine Theorie selbstreferenter Systeme, welche die Dynamik lebender und sozialer Systeme so organisiert sieht, daß eine "operationelle Schließung" vollzogen wird:

Die Operationen eines solchen Systems wirken rekursiv auf es selbst zurück, die Folgen der Systemoperationen sind selbst wieder Systemoperationen. Dadurch wird eine Unterscheidung, d. h. eine Grenze, zwischen dem System und seiner Umwelt hergestellt und aufrechterhalten. Alle drei behandeln die mit dieser Grundannahme verbundenen Fragestellungen auf verschiedenen Ebenen. Von Foerster zeigt die formalen Charakteristika selbstreferenter Operationen und Pro- zesse, Luhmann stellt sich die Frage nach der Selbstreferenz interaktioneller Pro- zesse und Strukturen, Varela analysiert die Entstehung von Bedeutung in der Interaktion solcher Systeme.

Eine der Hoffnungen, die sich mit der Einladung an diese drei Personen ver- band, war es, in der Diskussion zwischen Praktikern und Theoretikern einige Schritte auf dem Weg zur Konstruktion eines Modells dessen zurückzulegen, was in der Psychotherapie, speziell in der Systemischen Therapie und Beratung, geschieht, wie es geschieht, wie es geschehen sollte oder könnte. Vor allem aber sollte überprüft werden, inwieweit die blinden Flecken der Therapeuten ihre (Ein-) Sicht in/auf neue therapeutische Optionen verhindern.

Ob dieses Ziel erreicht wurde, mag der Leser selbst am Ende der Lektüre die- ses Buches beurteilen. Die einzelnen Beiträge sind in Anlehnung an den Ablauf des Symposiums geordnet und redaktionell in eine für den Leser (hoffentlich) bekömmliche Form gebracht worden.

Der erste Teil besteht aus fünf Aufsätzen, die zur Einleitung in die Thematik dienen (Niklas Luhmann "Was ist Kommunikation", Heinz von Foerster "Abbau und Aufbau", Francisco Varela "Erkenntnis und Leben", Niklas Luhmann

10 Luhmann N (1984) Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt

11 Maturana H (1982) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Braunschweig

Maturana H, Varela F (1984, dt. 1987) Der Baum der Erkenntnis. Scherz, Bem

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"Selbstreferente Systeme" und Helm Stierlin "Prinzipien der Systemischen Thera- pie").

Im zweiten Teil wird zunächst von zwei Therapeuten, Gunthard Weber und Bernd Schmid, die kurze Falldarstellung einer Familie mit einer anorektischen Tochter gegeben. Ein längerer Transskriptausschnitt aus einer Familientherapiesit- zung illustriert die praktische Vorgehensweise der Therapeuten. Während der Tagung war dieser Sitzungsausschnitt als Videoaufzeichnung gezeigt worden. Im Anschluß daran versuchen Heinz von Foester, Niklas Luhmann, Helm Stierlin sowie die beiden Therapeuten diese Therapie unter dem Blickwinkel der Theorie zu diskutieren. Zum Abschluß dieses Kapitels geben die beiden Therapeuten noch einige Informationen über den weiteren Verlauf, wie er sich katamnestisch dar- stellt.

Der dritte Teil des Buches ist Diskussionen mit Francisco Varela, Heinz von Foerster und Niklas Luhmann gewidmet. Zunächst werden sie gemeinsam ins

"Kreuzverhör" genommen, danach einzeln zu verschiedenen Themenbereichen befragt.

Den Schluß bilden einige ungeordnete Gedanken eines therapeutischen Prak- tikers (des Herausgebers) zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Therapie.

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Was ist Kommunikation?

N.LuHMANN

I.

Mein Ziel ist, das geläufige Verständnis von Kommunikation zu kritisieren und ihm eine andersartige Variante an die Seite zu stellen. Bevor ich damit beginne, sind aber einige Bemerkungen über den wissenschaftlichen Kontext angebracht, in dem dieses Manöver vollzogen werden soll.

Ich gehe zunächst von einem unbestreitbaren Tatbestand aus. Die uns allen vertraute Differenzierung der Disziplinen Psychologie und Soziologie und mehr als hundert Jahre fachverschiedener Forschung haben zu einem nicht mehr inte- grierbaren Wissen über psychische bzw. soziale Systeme geführt. In keinem der Fächer überblickt irgendein Forscher den gesamten Wissensstand ; aber soviel ist klar, daß es sich in beiden Fällen um hochkomplexe, strukturierte Systeme han- delt, deren Eigendynamik für jeden Beobachter intransparent und unregulierbar ist. Trotzdem gibt es immer noch Begriffe und sogar Theorien, die diesen Tatbe- stand ignorieren oder ihn geradezu systematisch ausblenden. In der Soziologie gehören die Begriffe Handlung und Kommunikation zu diesen Residuen. Sie wer- den normalerweise subjektbezogen benutzt. Das heißt: sie setzen einen Autor vor- aus, bezeichnet als Individuum oder als Subjekt, dem die Kommunikation bzw.

das Handeln zugerechnet werden kann. Die Begriffe Subjekt oder Individuum fungieren dabei aber nur als Leerformeln für einen in sich hochkomplexen Tatbe- stand, der in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie fällt und den Soziologen nicht weiter interessiert. Zieht man diese Begriffsdisposition in Zweifel, und das will ich tun, bekommt man normalerweise zu hören: letztlich seien es doch immer Menschen, Individuen, Subjekte, die handeln, bzw. kommunizieren. Demgegen- über möchte ich behaupten, daß nur die Kommunikation kommunizieren kann und daß erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation das erzeugt wird, was wir unter Handeln verstehen.

Meine zweite Vorbemerkung betrifft faszinierende Neuentwicklungen im Bereich der allgemeinen Systemtheorie bzw. der Kybernetik selbstreferentieller Systeme, die früher unter dem Titel Selbstorganisation, heute eher unter dem Titel Autopoiesis zu finden sind. Der Forschungsstand ist im Moment selbst in den Begriffsbildungen unübersichtlich und kontrovers. Deutlich erkennbar ist jedoch ein bis in die Erkenntnistheorie hineinreichender Umbau der theoretischen Mittel, und dies in einem Sinne, der Biologie, Psychologie und Soziologie übergreift. Wer eine Mehrebenenarchitektur liebt, kann einen Umbau der Theorie beobachten, der auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfindet und damit zugleich die aus logi- schen Gründen naheliegende Unterscheidung der Ebenen selbst in Frage gestellt.

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Im Gegensatz zu Grundannahmen der philosophischen Tradition ist Selbstreferenz (oder "Reflexion") keineswegs ein Sondermerkmal des Denkens oder des Be- wußtseins, sondern ein sehr allgemeines Systembildungsprinzip mit besonderen Fol- gen, was Komplexitätsaufbau und Evolution angeht. Die Konsequenz dürfte dann unvermeidlich sein, daß es sehr viele verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu beobachten, je nachdem, welche Selbstreferenz zugrundeliegt. Oder anders gesagt:

die Evolution hat zu einer Welt geführt, die sehr viele verschiedene Möglichkeiten hat, sich selbst zu beobachten, ohne eine dieser Möglichkeiten als die beste, die einzig richtige auszuzeichnen. Jede Theorie, die diesem Sachverhalt angemessen ist, muß daher auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen angesiedelt sein - auf der Ebene der second order cybernetics im Sinne Heinz von Foersters.

Meine Frage ist nun: Wie sieht eine soziologische Theorie sozialer Systeme aus, wenn sie ernsthaft versucht, sich diesen Theorieentwicklungen zu stellen?

Und meine Vermutung ist, daß man dafür nicht beim Begriff der Handlung, son- dern beim Begriff der Kommunikation ansetzen muß. Denn nicht die Handlung, sondern nur die Kommunikation ist eine unausweichlich soziale Operation und zugleich eine Operation, die zwangsläufig in Gang gesetzt wird, wenn immer sich solche sozialen Situationen bilden.

Im Hauptteil meines Vortrages möchte ich nun versuchen, einen entsprechen- den Begriff der Kommunikation vorzustellen - und zwar einen Begriff, der jede Bezugnahme auf Bewußtsein oder Leben, also auf andere Ebenen der Realisation autopoietischer Systeme, streng vermeidet. Nur vorsorglich sei noch angemerkt, daß dies natürlich nicht besagen will, daß Kommunikation ohne Leben und ohne Bewußtsein möglich wäre. Sie ist auch ohne Kohlenstoff, ohne gemäßigte Tempe- raturen, ohne Erdmagnetismus, ohne atomare Festigung der Materie nicht mög- lich. Man kann angesichts der Komplexität der Welt nicht alle Bedingungen der Möglichkeit eines Sachverhalts in den Begriff dieses Sachverhalts aufnehmen;

denn damit würde der Begriff jede Kontur und jede theoriebautechnische Ver- wendbarkeit verlieren.

11.

Ähnlich wie Leben und wie Bewußtsein ist auch Kommunikation eine emerge"nte Realität, ein Sachverhalt sui generis. Sie kommt zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen - nämlich Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Mißverstehen die- ser Mitteilung und ihrer Information.

Keine dieser Komponenten kann für sich allein vorkommen. Nur zusammen erzeugen sie Kommunikation. Nur zusammen - das heißt nur dann, wenn ihre Selektivität zur Kongruenz gebracht werden kann. Kommunikation kommt des- halb nur zustande, wenn zunächst einmal eine Differenz von Mitteilung und Information verstanden wird. Das unterscheidet sie von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens anderer. Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird. Sie kann dabei die eine oder die andere Seite betonen, also mehr auf die Information selbst oder mehr auf das expressive Verhalten achten.

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12 Was ist Kommunikation?

Sie ist aber immer darauf angewiesen, daß beides als Selektion erfahren und dadurch unterschieden wird. Es muß, mit anderen Worten, vorausgesetzt werden können, daß die Information sich nicht von selbst versteht und daß zu ihrer Mit- teilung ein besonderer Entschluß erforderlich ist. Und das gilt natürlich auch, wenn der Mitteilende etwas über sich selbst mitteilt. Wenn und soweit diese Tren- nung der Selektionen nicht vollzogen wird, liegt eine bloße Wahrnehmung vor.

Es ist von erheblicher Bedeutung, an dieser Unterscheidung von Kommunika- tion und Wahrnehmung festzuhalten, obwohl, und gerade weil die Kommunika- tion reiche Möglichkeiten zu einer mitlaufenden Wahrnehmung gibt. Aber die Wahrnehmung bleibt zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Exi- stenz. Sie ist innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlußfähig. Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestäti- gen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewußtsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewußtsein intransparent. Es kann natürlich ein externer Anlaß wer- den für eine folgende Kommunikation. Beteiligte können ihre eigenen Wahrneh- mungen und die damit verbundenen Situations deutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssy- stems, zum Beispiel nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Rede- zeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren - also nur unter entmutigend schwierigen Bedingungen.

Aber nicht nur Information und Mitteilung, sondern auch das Verstehen selbst ist eine Selektion. Verstehen ist nie eine bloße Duplikation der Mitteilung in einem anderen Bewußtsein, sondern im Kommunikationssystem selbst Anschlußvoraus- setzung für weitere Kommunikation, also Bedingung der Autopoiesis des sozialen Systems. Was immer die Beteiligten in ihrem je eigenen selbstreferentiell-geschlos- senen Bewußtsein davon halten mögen: das Kommunikationssystem erarbeitet sich ein eigenes Verstehen oder Mißverstehen und schafft zu diesem Zwecke Pro- zesse der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle.

Über Verstehen und Nichtverstehen und Mißverstehen kann kommuniziert werden - allerdings wiederum nur unter den hochspezifischen Bedingungen der Autopoiesis des Kommunikationssystems und nicht einfach so, wie die Beteiligten es gern möchten. Die Mitteilung "Du verstehst mich nicht" bleibt daher ambiva- lent und kommuniziert zugleich diese Ambivalenz. Sie besagt einerseits "Du bist nicht bereit, zu akzeptieren, was ich Dir sagen will" und versucht das Eingeständ- nis dieser Tatsache zu provozieren. Sie ist andererseits die Mitteilung der Informa- tion, daß die Kommunikation unter dieser Bedingung des Nichtverstehens nicht fortgesetzt werden kann. Und sie ist drittens Fortsetzung der Kommunikation. Sie ist also paradoxe Kommunikation. Die normale Technik des Umgangs mit Verste- hensschwierigkeiten besteht schlicht in Rückfragen und Erläuterungen, - in nor- maler, routinemäßiger Kommunikation über Kommunikation ohne besondere psychische Aufladung. Und gegen diese Normalroutine verstößt, wer das Schei- tern oder die Gefahr des Scheiterns der Kommunikation in der Kommunikation zuzurechnen versucht: "Du verstehst mich nicht" camoufliert aber die Härte des Problems von Annahme oder Ablehnung mit einer Semantik, die suggeriert, das Problem sei gleichwohl durch Kommunikation über Kommunikation zu lösen.

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II!.

Was ist an diesem Kommunikationsbegriff neu? Und was sind die Konsequenzen der Neuerung?

Neu ist zunächst nicht die Unterscheidung der drei Komponenten Informa- tion, Mitteilung, Verstehen. Man findet eine ähnliche Unterscheidung bei Karl Bühler unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Funktionen der sprachlichen Kommunikation. Dies haben Amerikaner wie Austin und Searle zu einer Theorie von Akttypen oder Sprechakten verstärkt und versteift. Daran wiederum hat Jür- gen Habermas eine Theorie von Geltungsansprüchen angeschlossen, die in der Kommunikation impliziert sind. Das alles geht aber immer noch von einem hand- lungstheoretischen Verständnis der Kommunikation aus und sieht den Kommuni- kationsvorgang deshalb als eine gelingende oder mißlingende Übertragung von Nachrichten, Informationen oder Verständigungszumutungen. Demgegenüber wird bei einem systemtheoretischen Ansatz die Emergenz der Kommunikation selbst betont. Es wird nichts übertragen. Es wird Redundanz erzeugt in dem Sinne, daß die Kommunikation ein Gedächtnis erzeugt, das von vielen auf sehr verschie- dene Weise in Anspruch genommen werden kann. Wenn Adern B etwas mitteilt, kann sich die weitere Kommunikation an A oder an B wenden. Das System pul- siert gleichsam mit einer ständigen Erzeugung von Überschuß und Selektion.

Durch die Erfindung von Schrift und Buchdruck ist dies Systembildungsverfahren nochmals immens gesteigert worden, mit Konsequenzen für. Sozialstruktur, Semantik, ja für Sprache selbst, die erst allmählich ins Blickfeld der Forschung treten.

Die drei Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen müssen also nicht als Funktionen, nicht als Akte, nicht als Horizonte für Geltungsansprüche interpretiert werden (ohne daß man bestreiten müßte, daß all dies auch eine mög- liche Art ihrer Verwendung ist). Es sind auch keine Bausteine der Kommunika- tion, die unabhängig existieren könnten und nur durch jemanden - durch wen?

durch das Subjekt? - zusammengesetzt werden müssen. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Selektionen, deren Selektivität und deren Selektionsbereich überhaupt erst durch die Kommunikation konstituiert werden. Es gibt keine Infor- mation außerhalb der Kommunikation, es gibt keine Mitteilung außerhalb der Kommunikation, es gibt kein Verstehen außerhalb der Kommunikation - und dies nicht etwa in einem kausalen Sinne, wonach die Information die Ursache der Mit- teilung und die Mitteilung Ursache des Verstehens sein müßte, sondern im zirku- lären Sinne wechselseitiger Voraussetzung.

Ein Kommunikationssystem ist deshalb ein vollständig geschlossenes System, das die Komponenten, aus denen es besteht, durch die Kommunikation selbst erzeugt. In diesem Sinne ist ein Kommunikationssystem ein autopoietisches System, das alles, was für das System als Einheit fungiert, durch das System pro- duziert und reproduziert. Daß dies nur in einer Umwelt und unter Abhängigkeit von Beschränkungen durch die Umwelt geschehen kann, versteht sich von selbst.

Etwas konkreter ausformuliert, bedeutet dies, daß das Kommunikationssystem nicht nur seine Elemente - das, was jeweils eine nicht weiter auflösbare Einheit der Kommunikation ist -, sondern auch seine Strukturen selbst spezifiziert. Was nicht kommuniziert wird, kann dazu nichts beitragen. Nur Kommunikation kann

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14 Was ist Kommunikation?

Kommunikation beeinflussen; nur Kommunikation kann Einheiten der Kommu- nikation dekomponieren (zum Beispiel den Selektionshorizont einer Information analysieren oder nach den Gründen für eine Mitteilung fragen) und nur Kommu- nikation kann Kommunikation kontrollieren und reparieren. Wie man leicht sehen kann, ist die Praxis einer solchen Durchführung von reflexiven Operationen ein außerordentlich aufwendiges Verfahren, das durch die Eigenarten der Auto- poiesis der Kommunikation in Schranken gehalten wird. Man kann nicht immer genauer und immer genauer nachfassen. Irgendwann, und ziemlich schnell, ist der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder die Geduld - das heißt die Belast- barkeit der psychischen Umwelt - erschöpft. Oder das Interesse an anderen The- men oder anderen Partnern drängt sich vor.

IV.

Diese These der zirkulären, autopoietischen Geschlossenheit des Systems ist nicht leicht zu akzeptieren. Man muß eine zeitlang damit gedanklich experimentieren, um allmählich zu sehen, was sie bringt. Dasselbe gilt für eine zweite, eng damit zusammenhängende These. Die Kommunikation hat keinen Zweck, keine imma- nente Entelechie. Sie geschieht oder geschieht nicht - das ist alles, was man dazu sagen kann. Insofern folgt die Theorie nicht einem aristotelischen Duktus, son- dern eher dem Theoriestil Spinozas.

Selbstverständlich lassen sich innerhalb von Kommunikationssystemen zweck- orientierte Episoden bilden, sofern die Autopoiesis funktioniert. So wie ja auch das Bewußtsein sich episodenhaft Zwecke setzen kann, ohne daß dies Zweckset- zen der Zweck des Systems wäre. Jede andere Auffassung müßte begründen, wes- halb das System nach dem Erreichen seiner Zwecke fortdauert; oder man müßte, nicht ganz neu, sagen, der Tod sei der Zweck des Lebens.

Oft wird mehr oder weniger implizit unterstellt, Kommunikation ziele auf Konsens ab, suche Verständigung. Die von Habermas entwickelte Theorie der Rationalität kommunikativen HandeIns baut auf dieser Prämisse auf. Sie ist jedoch schon empirisch schlicht falsch. Man kann auch kommunizieren, um Dis- sens zu markieren, man kann sich streiten wollen, und es gibt keinen zwingenden Grund, die Konsenssuche für rationaler zu halten als die Dissenssuche. Das kommt ganz auf Themen und Partner an. Selbstverständlich ist Kommunikation ohne jeden Konsens unmöglich; aber sie ist auch unmöglich ohne jeden Dissens.

Das, was sie zwingend voraussetzt, ist, daß man in bezug auf momentan nichtak- tuelle Themen die Frage Konsens oder Dissens dahingestellt sein lassen kann.

Und selbst bei aktuellen Themen - selbst wenn man endlich einen Parkplatz gefunden hat und nach langen Fußmärschen das Cafe erreicht hat, wo es in Rom den besten Kaffee geben soll und dann die paar Tropfen trinkt - wo ist da Kon- sens oder Dissens, solange man den Spaß nicht durch Kommunikation verdirbt?

An die Stelle einer konsens gerichteten Entelechie setzt die Systemtheorie eine andere These: Kommunikation führt zur Zuspitzung der Frage, ob die mitgeteilte und verstandene Information angenommen oder abgelehnt werden wird. Man glaubt eine Nachricht oder nicht: die Kommunikation schafft zunächst nur diese Alternative und damit das Risiko einer Ablehnung. Sie forciert eine Entschei-

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dungs lage, wie sie ohne Kommunikation gar nicht bestehen würde. Insofern ist alle Kommunikation riskant. Dieses Risiko ist einer der wichtigsten morphogene- tischen Faktoren, es führt zum Aufbau von Institutionen, die auch bei unwahr- scheinlichen Kommunikationen noch Annahmebereitschaft sicherstellen. Es kann aber, und dies scheint mir für fernöstliche Kulturen zu gelten, auch umgekehrt sensibilisieren: Man vermeidet Kommunikationen mit Ablehnungswahrschein- lichkeit, man versucht, Wünsche zu erfüllen, bevor sie geäußert werden, und signa- lisiert eben dadurch Schranken; und man wirkt an der Kommunikation mit, ohne zu widersprechen und ohne die Kommunikation dadurch zu stören, daß man Annahme oder Ablehnung zurückmeldet.

Kommunikation dupliziert also, um diesen wichtigen Punkt nochmals mit anderen Worten zu wiederholen, die Realität. Sie schafft zwei Versionen: eine Ja- Fassung und eine Nein-Fassung, und zwingt damit zur Selektion. Und genau darin, daß nun etwas geschehen muß (und sei es: ein explizit kommunizierter Abbruch der Kommunikation), liegt die Autopoiesis des Systems, die sich selbst ihre eigene Fortsetzbarkeit garantiert.

Die Zuspitzung auf die Alternative Annahme oder Ablehnung ist also nichts anderes als die Autopoiesis der Kommunikation selbst. Sie differenziert die Anschlußposition für die nächste Kommunikation, die nun entweder auf erreich- tem Konsens aufbauen oder dem Dissens nachgehen oder auch versuchen kann, das Problem zu cachieren und den heiklen Punkt künftig zu vermeiden. Nichts, was kommuniziert werden kann, entzieht sich dieser harten Bifurcation - mit einer einzigen Ausnahme: der Welt (im Sinne der Phänomenologie) als dem letzten Sinnhorizont, in dem all dies sich abspielt und der selbst weder positiv noch nega- tiv qualifiziert, weder angenommen noch abgelehnt werden kann, sondern in aller sinnhaften Kommunikation als Bedingung der Zugänglichkeit weiterer Kommuni- kation mitproduziert wird.

v.

Lassen Sie mich nunmehr diesen allgemeinen Theorieansatz an einer Spezialfrage ausprobieren: am Problem der Wertbeziehung von Kommunikationen. Wir sind auf neukantianischen Grundlagen oder auch durch Jürgen Habermas trainiert, hier sogleich Geltungsansprüche zu wittern und zu ihrer Prüfung einzuladen. Die Wirklichkeit ist einfacher - und zugleich komplizierter.

Was man empirisch beobachten kann, ist zunächst, daß Werte in der Kommu- nikation per Implikation herangezogen werden. Man setzt sie voraus. Man spielt auf sie an. Man sagt nicht direkt: Ich bin für Frieden. Ich schätze meine Gesund- heit. Man vermeidet das aus dem Grunde, den wir schon kennen: weil das die Möglichkeiten auf Annahme oder Ablehnung hin duplizieren würde. Gerade das scheint bei Werten unnötig zu sein - oder so meint man jedenfalls.

Werte gelten somit kraft Unterstellung ihrer Geltung. Wer wertbezogen kom- muniziert, nimmt eine Art Werte-Bonus in Anspruch. Der andere muß sich mel- den, wenn er nicht einverstanden ist. Man operiert gleichsam im Schutze der Schönheit und Gutheit der Werte und profitiert davon, daß derjenige, der prote- stieren will, die Komplexität übernehmen muß. Er hat die Argumentationslast. Er

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16 Was ist Kommunikation?

läuft die Gefahr, innovativ denken zu müssen und sich isolieren zu müssen. Und da immer mehr Werte impliziert sind, als im nächsten Zuge thematisiert werden können, ist das Herauspicken, Ablehnen oder Modifizieren ein fast hoffnungslo- ses Unterfangen. Man diskutiert nicht über Werte, sondern nur über Präferenzen, Interessen, Vorschriften, Programme. Das alles heißt nicht, daß es ein Wertsystem gäbe. Auch nicht, daß Wertordnungen transitiv oder hierarchisch strukturiert sind.

Es heißt auch nicht, und das ist vor allem wichtig, daß es sich um psychologisch stabile Strukturen handele. Im Gegenteil: psychologisch scheinen Werte eine außerordentlich labile Existenz zu führen. Sie werden mal benutzt, mal nicht benutzt, ohne daß man dafür eine Art psychologische Tiefenstruktur entdecken könnte. Ihre Stabilität ist, so will ich einmal provokativ formulieren, ein aus- schließlich kommunikatives Artefakt, und das autopoietische System des Bewußt- seins geht damit um, wie es ihm gefällt. Und genau deshalb, weil hier Strukturen der Autopoiesis des sozialen Systems im Spiel sind, eignet sich die Wertesemantik zur Darstellung der Grundlagen eines sozialen Systems für den Eigengebrauch.

Ihre Stabilität beruht auf einer rekursiven Unterstellung des Unterstellens und auf einer Erprobung der Semantik, mit der das jeweils funktioniert bzw. nichtfunktio- niert. Die "Geltungsgrundlage" ist Rekursivität, gehärtet durch die kommunika- tive Benachteiligung des Widerspruchs.

Was das Bewußtsein sich dabei denkt, ist eine ganz andere Frage. Wenn es ver- siert ist, wird es wissen, daß Wertkonsens ebenso unvermeidlich wie unschädlich ist. Denn es gibt keinen Selbstvollzug der Werte, und man kann alles, was sie zu fordern scheinen, im Vollzug immer noch entgleisen lassen, im Namen von Wer- ten natürlich.

VI.

Eine derart tiefgreifende Revision der system- und kommunikationstheoretischen Begrifflichkeit wird sicher Konsequenzen haben für den Bereich der Diagnose und Therapie von Systemzuständen, die man als pathologisch ansieht. Mir fehlt für diesen Bereich jegliche Kompetenz und vor allem jene Art von automatischer Selbstkontrolle, die aus einer Vertrautheit mit dem Milieu entsteht. Trotzdem möchte ich versuchen, in einer Art Zusammenfassung einige Punkte zu beleuch- ten, die vielleicht einen Anlaß geben könnten, bekannte Phänomene neu zu kon- struieren.

Zunächst: der Ansatz betont die Differenz von psychischen und sozialen Systemen. Die einen operieren auf der Basis von Bewußtsein, die anderen auf der Basis von Kommunikation. Beides sind zirkulär geschlossene Systeme, die jeweils nur den eigenen Modus der autopoietischen Reproduktion verwenden können.

Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches System kann nicht kom- munizieren. Kausal gesehen gibt es trotzdem immense, hochkomplexe Interdepen- denzen. Geschlossenheit heißt also keinesfalls, daß keine Wirkungszusammen- hänge bestünden oder daß solche Zusammenhänge nicht durch einen Beobachter beobachtet und beschrieben werden könnten. Nur muß die Ausgangslage der autopoietischen Geschlossenheit in diese Beschreibung eingehen. Das heißt: man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß Wirkungen nur durch Mitvollzug auf

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Seiten des die Wirkungen erleidenden Systems zustandekommen können. Und man muß berücksichtigen, daß die Systeme füreinander intransparent sind, sich also wechselseitig nicht steuern können.

Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, zu sagen, daß das Bewußtsein zur Kommunikation nur Rauschen, nur Störung, nur Perturbation beiträgt und ebenso umgekehrt. Und in der Tat: wenn Sie einen Kommunikationsprozeß beobachten, müssen Sie die vorherige Kommunikation kennen, eventuell Themen und das, was man sinnvoll darüber sagen kann. Die Bewußtseinsstrukturen der Individuen brauchen Sie im allgemeinen nicht zu kennen.

Aber dieser Ausgangspunkt bedarf natürlich der Verfeinerung, da die Kommu- nikationssysteme oft Personen thematisieren und da das Bewußtsein sich daran gewöhnt hat, bestimmte Worte zu lieben, bestimmte Geschichten zu erzählen und sich so mit Kommunikation partiell identifiziert. Ein Beobachter kann also hohe strukturierte Interdependenzen zwischen psychischem und sozialem System erkennen. Und trotzdem: die psychische Selektivität kommunikativer Ereignisse im Erleben der Beteiligten ist etwas völlig anderes als die soziale Selektivität; und schon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selbst sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt, sie benutzt und verspottet, sie zugleich meint und nicht meint, sie auftauchen und abtauchen läßt, sie im Moment nicht parat hat, sie eigentlich sagen will, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tut. Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewußtsein wirklich in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar eine eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewußtseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein, irgendwie beleuch- tet, aber nicht das Licht selbst.

Diese Überlegenheit des Bewußtseins über die Kommunikation (der natürlich in umgekehrter Systemreferenz eine Überlegenheit der Kommunikation über das Bewußtsein entspricht) wird vollends klar, wenn man bedenkt, daß das Bewußt- sein nicht nur mit Worten oder vagen Wort- und Satzideen, sondern nebenbei und oft vornehmlich mit Wahrnehmung und mit imaginativem Auf- und Abbau von Bildern beschäftigt ist. Selbst während des Redens beschäftigt sich das Bewußt- sein unaufhörlich mit Wahrnehmungen, und mir selbst kommt es oft so vor, als ob ich beim Formulieren die Schriftbilder der Worte sehe (ein Sachverhalt, der von den Forschungen über "Verschriftlichung" der Kultur, so weit ich sie kenne, bis- her nie beachtet worden ist). Auch variiert von Individuum zu Individuum das Ausmaß, in dem man sich durch das eigene Reden von der wahrnehmenden Beobachtung anderer ablenken läßt, oder wie weit man trotz der Aufmerksamkeit für die Sequenz der Rede daneben noch Kapazität frei hat für das simultane Pro- zessieren von Wahrnehmungs eindrücken.

All dies macht es, um nun die Selbstreferenz wieder zu wechseln und auf das soziale System der Kommunikation zurückzukommen, unvermeidlich, die Kom- munikation diesem Irrwisch Bewußtsein anzupassen. Das kann natürlich nicht so

(26)

18 Was ist Kommunikation?

geschehen, daß die Kommunikation stückchenweise Bewußtsein transportiert.

Vielmehr wird das Bewußtsein, was immer es bei sich selbst denkt, von der Kom- munikation in eine Situation des forced choice manövriert - oder so jedenfalls sieht es von der Kommunikation her gesehen aus. Die Kommunikation kann auf kommunikativ verständliche Weise angenommen oder abgelehnt werden (und natürlich läßt sich die Thematik faktorisieren, so daß eine Entscheidung in vielen Entscheidungen dekomponiert wird). Die autopoietische Autonomie des Bewußt- seins wird, so kann man sagen, in der Kommunikation durch Binarisierung reprä- sentiert und abgefunden. An die Stelle der unverständlich rauschenden Bewußt- seinsumwelt des Kommunikationssystems tritt eine in der Kommunikation traktier- bare Entscheidung: ja oder nein, Rückfrage, eventuell Verzögerung, Vertagung, Enthaltung. Die Kommunikation läßt sich, anders gesagt, durch Bewußtsein stö- ren und sieht dies sogar vor; aber immer nur in Formen, die in der weiteren Kom- munikation anschluß fähig sind, also kommunikativ behandelt werden können.

Auf diese Weise kommt es nie zu einer Vermischung der Autopoiesis der Systeme und doch zu einem hohen Maß an Co-Evolution und eingespielter Reagibilität.

Ich bin mir im klaren darüber, daß diese Analyse noch keineswegs ausreicht, um zu beschreiben, was wir als pathologischen Systemzustand erfahren. Das wechselseitige Rauschen, Stören, Perturbieren ist, von dieser Theorie her gesehen, ja gerade der Normalfall, für den eine normale Auffang- und Absorptionskapazi- tät bereitsteht, sowohl psychisch als auch sozial. Vermutlich entsteht der Eindruck des Pathologischen erst, wenn gewisse Toleranzschwellen überschritten sind, oder vielleicht könnte man auch sagen: wenn die Gedächtnisse der Systeme hierdurch in Anspruch genommen werden und Störungserfahrungen speichern, aggregieren, wiederpräsentieren, über Abweichungsverstärkung und Hyperkorrektion verstär- ken und mehr und mehr Kapazität dafür in Anspruch nehmen. Wie dem auch sei:

Von der theoretischen Position aus, die ich versucht habe zu skizzieren, müßte man psychische und soziale Pathologien deutlich unterscheiden und vor allem vorsichtig sein, wenn man die eine als Indikator oder gar als Ursache für die andere ansehen will.

(27)

H. VON FOERSTER

Es ist eine große Freude für mich, daß ich nach Heidelberg eingeladen wurde, um an diesem Symposium teilzunehmen. Mehrere Gründe zogen mich an: die Schön- heit der Stadt und der Landschaft, die Tatsache, daß ich liebe Verwandte hier habe, und die Gelegenheit, Freunde aus Europa und Chile hier wiederzutreffen.

Als ich Dr. Stierlins Einladung erhielt, habe ich daher, ohne nachzudenken, spon- tan zugesagt. Erst als der Termin näher kam, fiel mir auf, daß im Programm kein Thema für meinen Vortrag genannt wurde. Was werde ich sagen? Wie kann ich herausfinden, was für diese Gruppe wichtig und interessant ist, und was mein Bei- trag sein könnte? Mitten in meinem Nachdenken begegnete ich einer Arbeit mit dem Titel: "Family Therapy - A Science or an Art?".1 Der Verfasser war Helm Stierlin aus Heidelberg, dessen Einladung ich so spontan angenommen hatte. Ich habe diese Arbeit mit großem Interesse gelesen und habe tiefe und schöne Gedan- ken darin gefunden. Darunter waren zwei, die mich besonders faszinierten. Ich möchte diese beiden Gedanken für mein Thema verwenden. Der erste Gedanke, wie Stierlin uns erzählt, ist angeregt von Gregory Bateson. Als er das Problem der Komplexität untersuchte, fragte er sich: Was passiert in einer therapeutischen Situation, in der wir die Komplexität dieser Situation verstehen wollen? Er kam zu dem Schluß, daß man auf irgendeine Weise eine Strategie entwickeln müßte, durch die die Komplexität reduziert wird. Anläßlich dieser Idee sagt Stierlin in seinem Artikel:

"Wenn wir unseren Weg im Irrgarten unserer Beziehungsrealität finden und auch über diese Rea- lität sprechen wollen, müssen wir notwendigerweise deren Komplexität reduzieren, jedoch so, daß der Zugang zu dieser Komplexität und die dabei implizierten Widersprüche nicht verschlos- sen werden, sondern sie sozusagen in der Schwebe gehalten werden".

Es ist also eine etwas paradoxe Situation: auf der einen Seite möchte man die Komplexität reduzieren, sie auf der anderen Seite jedoch in der Schwebe halten.

Ich werde mich in meinem Beitrag auf dieses Problem beziehen und möchte schon jetzt voraussagen, daß ich durch eine Drehung der Perzeption eine völlig andere Lösung bezüglich der Komplexität einer solchen Relationsstruktur vor- schlagen werde.

Der zweite Gedanke beschäftigt sich genau mit dieser Drehung und kommt zu einem sehr interessanten Resultat. Anlaß für Stierlins Überlegung ist eine Beob- achtung von Ludwig Wittgenstein. Er sagt: "Wir können das Vorurteil kristallhaf- ter Klarheit nur dadurch loswerden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen. "2

1 Stierlin H (1983) Familiy Therapy - A Science or an Art? Family Process 22, 1983,413-423

2 Wittgenstein L e1958, 1968) Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt, S.108

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