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Autopoiese, strukturelle Kopplung und Therapie - -Fragen an Francisco Varela 1

Frage: Sie verwenden den Begriff der Schließung (closure) und sprechen davon, daß die Folgen von Systemoperationen wiederum Systemoperationen sind. Kön-nen Sie dies ein wenig erläutern?

Varela: Operationale Schließung ist eine von vielen möglichen Organisationswei-sen. Jedes System hat eine Organisationsweise. Nehmen wir als Beispiel die Armee, so haben wir den Typ der hierarchischen Organisationen vor uns, der ent-scheidend davon abhängt, wer oben und wer unten ist. Es gibt auch andere Orga-nisationstypen: die klassische Systemtheorie geht vom Input-Output-Typ aus, von trivialen oder nicht-trivialen Maschinen. Wenn man als Mensch in eine Gesell-schaft geboren wird, wird es immer einen Organisationstyp geben, der besonders wichtig ist. Es sind jene Organisationen, in denen geschieht, was geschieht. Was produziert wird, ist das, was produziert. Was spricht, ist das, was das Sprechen aufrechterhält. Es sind Systeme, in denen die Operanden identisch sind mit den Systemoperationen. Das ist die Einsicht, die wir vor 15 Jahren zusammen mit Humberto Maturana gewonnen hatten, als wir von Autopoiese sprachen.

Wenn Sie beispielsweise zu verstehen versuchen, was die Zelle als das kleinste lebende System ist, ohne zu sagen, wie sie beschaffen ist, daß sie sich reproduziert, daß sie sich entwickelt etc. wenn Sie einfach sagen wollen, was sie wirklich ist -dann werden Sie zu folgender ganz einfacher Antwort finden: Ein lebendes System ist eine Organisation, die sich selbst als Ergebnis der Organisation erhält.

Wie tut sie das? Sie produziert Komponenten, welche Komponenten produzieren, die Komponenten produzieren. Es ist kein Mysterium: Enzyme produzieren Enzyme. Die Grenze der Zelle ist die Membran. Die Membran wiederum ist ein Prozeß, der die Diffusion begrenzt und damit das interne Produktionsnetzwerk aufrechterhält, das die Membran erzeugt.

Überall sehen sie Systeme, die ihre Existenz einer Art von Münchhausen-Effekt verdanken, weil sie sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen kön-nen. Dies ist das Herzstück der Autonomie. Und das ist auch genau das, was mit operationaler Schließung gemeint ist. Meine Kurzdefinition lautet: Die Ergebnisse von Systemoperationen sind selbst wieder Systemoperationen. Dies gilt in sehr vielen Bereichen. Autopoiese ist nur ein Beispiel. Andere Beispiele sind die Spra-che, möglicherweise Familien, Unternehmen, usw.

1 Die Antworten Francisco Varelas wurden von Karl-Eugen Grafund Fritz B. Simon aus dem Engli-schen übersetzt.

Frage: Bezogen auf die Zelle ist das ja einleuchtend. Aber übertragen auf den menschlichen Bereich, z. B. eine Familie, scheint mir das problematisch. Es ist ja nicht so einfach, in den Folgen von Systemoperationen wieder Systemoperationen zu sehen. Mir scheint ein Reiz-Reaktions-Modell plausibler. Auf Reize erfolgen bestimmte Reaktionen, die wiederum bestimmte Reaktionen zur Folge haben, ohne daß derartige Folgen unbedingt Systemoperationen sein müßten.

Varela: Sie müssen eine Entscheidung treffen, und diese Entscheidung hat Konse-quenzen. Sie können die Zelle als ein System, bei dem sie Inputs und Outputs sehen, beschreiben. Sie können dann Inputs, z. B. Ionen, beschreiben, die metabo-lisiert werden usw. Die Outputs sind dann Ausscheidungen. In die Mitte stellen Sie eine black box - die Zelle - und beschreiben alle Input-Output-Relationen. So können Sie über Stimuli und Antworten darauf sprechen. Das ist zweifellos mög-lich. Die Frage ist nur, ob es uns hilft, zu verstehen, was die spezielle Qualität des Lebens ausmacht. Unsere Auffassung ist, daß dies nicht der Fall ist. Es erklärt nämlich nicht, wie es kommt, daß ein lebendes System die komische Eigenheit aufweist, seine eigene Welt hervorzubringen. Deshalb haben wir das Konzept der Autopoiese entwickelt.

Will man dem Rechnung tragen, so muß man seinen Blick auf die interne Welt des Systems richten. Selbstverständlich kann man aber auch eine andere Beschrei-bung verwenden. Nur wird man dann in eine andere Richtung gelenkt. Jede Beschreibung bestimmt, was man tun kann und was nicht. Ein extremes Beispiel sind die Behavioristen, die sich um ein Verständnis von Kognition, Gehirn und menschlichem Verhalten in Begriffen von Reiz und Reaktion bemühen. Die Ver-haltenstherapie wurde diesem Schema entsprechend entwickelt und sie hat auch einige Erfolge. Man kann freilich auch eine andere Wahl treffen und die Perspek-tive der Autonomie anlegen. Dann sieht man die kreaPerspek-tive Potenz des Menschen und versucht, mit ihr zu arbeiten. Es ist unmöglich, beide Ansichten zugleich zu vertreten. Man kann immer nur in einer dieser beiden Welten leben. Entweder man hat Inputs oder man hat Kreativität. Beides zugleich geht nicht, denn Inputs verhindern Kreativität.

Lassen Sie mich den Unterschied zwischen einem Input-Output- und einem Autonomie-Modell durch ein Beispiel verdeutlichen. Die klassische Immunologie studierte, wie der Körper auf die Inputs, die Antigene, durch die Produktion von Antikörpern reagierte. Es war die klassische Input-Output-Beschreibung. Man hatte Angriffe und Antworten darauf, Viren und Immunität. Aber je mehr man sich mit dem Immunsystem beschäftigte, umso weniger Sinn machte die Bezeich-nung Antigen. Es wurde immer schwerer zu sagen, was ein Antigen war und was nicht, da jedes System dies anders definierte. Außerdem zeigte sich, daß die mei-sten Antikörper auf andere Antikörper reagierten. Das gesamte Immunsystem ist buchstäblich ein gigantisches Netzwerk von Antikörpern und Molekülen, die gegenseitig in Kontakt miteinander stehen und eine enorme operationelle Schlie-ßung bewirken.

Wo passen da Antigene hinein? Ganz einfach: als etwas, das ein wenig Ähn-lichkeit mit den inneren Antikörpern aufweist. Es ist nicht so, daß sie als etwas Fremdes definiert wären. Das Immunsystem funktioniert nicht wie ein Heerlager, bei dem überall Wachen Ausschau nach dem Feind halten. Es ist in erster Linie

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mit dem kreativen und positiven Aspekt beschäftigt, sich selbst in seiner moleku-laren Beschaffenheit aufrechtzuerhalten. Natürlich haben dabei Interaktionen irgendwelche Folgen. Aber das macht nicht die Definition des Systems aus. Wenn man verstehen will, wie seine Dynamik ist, wie die Antikörperspiegel reguliert werden, und wie man mit pathologischen Zuständen umgehen kann, so muß man das Input-Output-Modell aufgeben. Man muß stattdessen davon ausgehen, daß das Immunsystem operationeIl geschlossen ist. Das macht einen ganz dramati-schen Unterschied, da man nun ganz andere Fragen zu stellen und andere Experi-mente auszuführen hat, und alles in anderen Begriffen neu konzeptualisieren muß.

Frage: Wie sind Ihre Vorstellungen über die Kopplung zweier oder mehrerer ope-rationell geschlossener Systeme? Wie konzeptualisieren Sie Wandel? Wie sehen sie den Zusammenhang zwischen Veränderungen innerhalb und außerhalb eines Systems? Dies sind für die Therapie entscheidende Fragestellungen.

Varela: Schauen wir uns noch einmal das Beispiel der Ringsimulation an, das ich in meinem Vortrag vorgestellt habe: ich habe lediglich einen Kontakt zwischen diesem Ring und dieser völlig zufälligen Welt hergestellt. Welche Bedeutung hat es, wenn man sagt, daß es eine solche KontaktsteIle gibt? Wir haben zwei Struktu-ren: die Struktur des Rings (des Systems) und die Struktur des Mediums. Beide Strukturen treffen zusammen und indem sie aufeinander treffen, ergeben sich wechselseitige Störungen (Perturbationen). Was ist eine Störung, eine Perturba-tion? Eine Störung ist jegliche Änderung der Struktur. Zum Beispiel war es in dem hier dargestellten Fall eine Änderung des internen Zustands von 1 zu O. Dies ist eine Strukturveränderung.

Worin liegt nun der Unterschied einer Störung zu einem Input? Darin, daß die Strukturänderung keine vorab definierte Bedeutung oder Konsequenz hatte. Sie gehorchte keiner vorab aufgestellten Regel. Hier traf einfach etwas auf das System und die Struktur des Systems änderte sich. Insofern ist "strukturelle Änderung"

buchstäblich das, was mit "Störung" gemeint ist. Jede strukturelle Änderung ist eine Störung. Liegt eine Störung vor, so wird das System ein neues Eigen-Verhal-ten entwickeln, weil die Struktur sich verändert hat.

Frage: Was bedeutet dabei Aufeinandertreffen?

Varela: Aufeinandertreffen ist das Ereignis, bei dem sich beide Strukturen ändern.

Ich möchte noch einmal einen Schritt zurückgehn. Der Ausgangspunkt ist immer der, daß Sie als Beschreiber zu etwas sagen: "Dies ist mein System". Das ist eine Entscheidung. Welche Gründe hat sie? Keine. Sie treffen sie einfach so. Hier ist also Ihr System; haben Sie sich ein System ausgesucht und wollen Sie es erfor-schen, so benötigen sie eine Idee darüber, was seine Struktur ist, d. h. aus welchen Komponenten sich das System zusammensetzt. In unserem Beispiel bildeten diese kleinen Zellen mit den Zuständen 0 oder 1 und ihre Verknüpfung die Struktur.

Was wäre in diesem Sinne die Struktur einer lebenden Zelle? Sie bestünde aus Molekülen, der DNA etc. Hat man als Beschreiber erst einmal die Unterschei-dung zwischen dem System und dem Medium getroffen, dann ist auch bezüglich

des Mediums von einer Struktur auszugehn. Was ist nun dieses Medium für eine Zelle? Man kann beispielsweise Temperaturgradienten oder Ähnliches beschrei-ben. Und wie sieht das Medium in unserem Simulations beispiel aus? Ich definiere es als eine Suppe zufällig gemischter 0 und 1. Dies wäre die Struktur des Mediums.

Frage: Derjenige, der etwas beschreibt, entscheidet also, was er als Struktur betrachten will?

Varela: Ja, es liegt dabei immer eine Entscheidung zugrunde. Wann immer Sie etwas definieren, können Sie auch etwas über eine Struktur sagen. Wenn Sie über-haupt etwas aussagen können, dann ist es eine Aussage über eine Struktur. Es ist so etwas wie eine kognitive Notwendigkeit. Im Falle der Simulation ist es einfach und transparent, da ich es gleichsam als "Gott" bestimme und sage: "Es werde eine Welt, in der es nichts gibt außer zufällig verteilten Nullen und Einsen." Aber bitte seien Sie sich darüber im klaren, daß die Struktur nichts an sich ist, sondern eben die Struktur, wie Sie sie beschreiben. Ein Mißverständnis wäre, sich vorzu-stellen, daß diese Struktur die Struktur des Systems sei.

Es besteht der Unterschied zwischen der Struktur, die ich beschreibe und die meinem kognitiven Bereich angemessen ist, und der Struktur des Systems, die durch dessen eigene Dynamik hervorgebracht wird. Dieser Unterschied gilt für alle Systeme, es sei denn man hat es mit künstlich konstruierten Systemen zu tun (mit einem Computer oder mit einem Input-Output-System). Was für das System von Relevanz ist, kann ich nicht entscheiden. Es wird von dem System selbst her-vorgebracht. Deshalb bin ich nicht in der Position zu sagen: "Dies ist die reale Welt; deshalb muß sie vom System repräsentiert werden." Was das System zu tun hat bzw. was das System tun wird, ist das Schaffen und Begrenzen eines Inter-aktionsbereichs, der für es selbst von Relevanz ist.

Wie zeigt sich dies dem Beobachter? Es wird sich notwendig in den Dimensio-nen der Struktur offenbaren müssen, mit deDimensio-nen der Beobachter etwas anfangen kann. Dies ist natürlich - um es in einer anderen Sprache zu formulieren - eine ganz weitreichende Interpretation des Systems. Es ist nicht im System program-miert, nicht von ihm intern repräsentiert, es ist kein Input. Es ist etwas, was Bedeutung verleiht, ohne daß es von außen in das System hineingesteckt worden ist. So programmierte ich in dem Simulationsbeispiel das System nicht, zwischen gerade und ungerade unterscheiden zu können. Es gab keinerlei Repräsentationen für gerade und ungerade im System. Es ist etwas, das erst entsteht, wenn ein Beob-achter das Zusammentreffen, die Kopplung dieser beiden Strukturen sieht.

Dadurch entsteht ein neues Phänomen: ein kognitiver Bereich wird erschaffen, eine Welt der Relevanz und Bedeutung.

Frage: Ist Interaktion und Kopplung dasselbe?

Varela: Wenn man eine weniger formal genaue Terminologie wählen will, ist es dasselbe. Der Grund, warum ich das Wort Kopplung verwende, ist wegen dessen stärkerer technischer Konnotation; in dem Sinne, daß es sich um das Phänomen des Zusammentreffens zweier Strukturen handelt, ohne daß dabei dieses

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mentreffen als ein Input des einen in das andere verstanden werden könnte. Das Wort Interaktion meint hingegen im üblichen Sprachgebrauch, daß ein Input vor-liegt. Insofern ist der Begriff der Interaktion vager; indem ich das Wort der Kopp-lung verwende, versuche ich, die Bedeutung auf einen bestimmten Interaktions-modus einzuschränken. Ich verWende also den Begriff der Kopplung mit seiner präzisen technischen Bedeutung für Systeme, die eine Struktur und Organisation haben. Und in diesem Kontext ziehe ich ihn dabei dem Begriff des Inputs vor.

Frage: Wie verstehen Sie Kopplung z. B. in der Beziehung zwischen einer somati-schen Organisation, der Struktur des Körpers, und der Organisation von Sprache, von Bedeutung? Und wie verstehen Sie deren Interaktion?

Varela: Das ist ein wichtiger Punkt. Ich hoffe, daß es klar ist, daß der Begriff der Kopplung nicht wie ein Rezept verwendet werden kann. Wenn wir die grundsätz-liche Orientierung des Kopplungskonzepts betrachten, so muß für jedes System, das interessiert, eine angemessene Beschreibung dessen gesucht werden, was unter Kopplung zu verstehen sein soll. Wenn Sie zum Beispiel Zellen studieren, gibt es eine Menge von Kopplungsarten bzw. Kopplungsdimensionen, die Sie untersu-chen können: z. B. kosmische Strahlungen, metabolische Abläufe, Temperaturgra-dienten und eine Menge mehr. Ein wissenschaftliches Ergebnis besteht dann aus dem Identifizieren jener Dimensionen, die am nützlichsten sind, um die Art des autonomen Verhaltens des Systems kenntlich werden zu lassen. So ist beim Bei-spiel der Zellen sicherlich der Ionenfluß eine nützlichere Interaktionsdimension als sagen wir die kosmische Strahlung. Als Wissenschaftler muß ich also versu-chen, jene Dimensionen von Kopplung zu identifizieren, die wirklich nützlich für das Verständnis der jeweiligen Phänomene sind. In der Zellbiologie sind die wesentlichen Dimensionen von Kopplung ganz eindeutig physikalisch-chemischer Natur. Ich zweifle, daß wir in dieser Hinsicht noch viele Überraschungen zu gewärtigen haben.

Will man hingegen weniger eindeutige Gebiete erforschen, dann ist die Frage nach den entscheidenden Dimensionen von Kopplung weniger klar. Lassen Sie mich zu dem Beispiel, das ich im Kreuzverhör erwähnte, zurückkommen: zu Unternehmen, wie sie von Winograd und Flores2 untersucht wurden. Was ist die entscheidende Einsicht, die Flores als Management-Berater gewonnen hat? Von allen möglichen Interaktionen, die man in einem Büro beschreiben kann, beschränkt sich der übliche Management-Ansatz auf eine simple Auswahl: Man geht von einem Organisationschema aus, wobei einer hierarchischen Struktur ent-sprechend die Information von hier nach dort fließt. Dies sind übliche Planungs-instrumente des Managements. Aber lassen Sie uns zusehen, was denn die eigent-lichen Kopplungsdimensionen sind, die die Dynamik eines Unternehmens entstehen lassen, gleichgültig, ob das Unternehmen groß oder klein ist, ob es gut oder weniger gut floriert. Winograd und Flores fanden heraus, daß die wichtigsten Ereignisse bestimmte Sprechakte sind:

2 Winograd T, Flores F (1986) Understanding Computers and Cognition. Ablex Publishing Corpo-ration N orwood.

1. Bekanntmachungen ("Ich mache hiermit bekannt, daß diese Stelle gestrichen ist!" Oder: "Ich erkläre hiermit, daß Ihnen gekündigt ist.")

2. Aufforderungen ("Können Sie mir bitte die Akte Nr .... bringen!")

3. Versprechungen ("Ich werde Ihnen die Kostenrechnung morgen abend vorbei-bringen!")

Wenn man diese drei Sprechakte - Bekanntmachungen, Aufforderungen und Ver-sprechungen - betrachtet, so versteht man, wie die Realität des Unternehmens hervorgebracht wird, weil man damit die Natur seiner Kopplungen beschreibt;

man hat damit den entscheidenden Schritt zur Erklärung dafür gemacht, was das System als System ist. Beachten Sie, daß dies eine Einsicht in die Art der Kopp-lung ist; es ist kein Versuch zu sagen, daß das Unternehmen dies oder jenes tun wird, wenn diese oder jene Bekanntmachungen erfolgen. Ich stimme hier vollkom-men mit Winograd und Flores überein und sehe darin ein Beispiel für meine These, daß es angesichts sozialer Systeme hoffnungslos ist, alle möglichen Muster, die auftreten können, zu klassifizieren.

Frage: Ist es also so, daß man tatsächlich nur etwas über die Kopplung sagen kann, nicht aber über das System?

Varela: Ja, genau! Aber es ist interessant zu sehen, was geschieht, wenn man den Menschen bewußt macht, daß dies die Art und Weise ist, wie das Unternehmen Tag für Tag funktioniert. Indem man dies bewußt macht, eröffnet man Möglich-keiten. Warum? Weil man in dem Moment, in dem es klar wird, daß dies die Art und Weise ist, wie eine Realität entsteht, unmittelbar weiß, was man zu tun hat. Es ist nicht ein Rezept, das einem spezifisch vorschreibt, was zu tun wäre. Aber es ist ein Hinweis über die Art der Handlung, die man zu vollziehen hat.

Frage: Ist es möglich, daß das Problem bei psychiatrisch auffälligen Verhaltens-weisen darin liegt, daß eine falsche Kopplung vorliegt? So könnte zum Beispiel für ein Kind eine körperliche Krankheit die Möglichkeit zur Kopplung innerhalb der Familie bieten. Dann wäre es die Aufgabe der Therapie, eine andere Form der Kopplung zu ermöglichen.

Varela: Ja, ich denke, daß eine erfolgreiche Theorie der systemischen Familienthe-rapie ein sehr klares Verständnis der grundlegenden Dimensionen der Kopplung, die eine Familie erzeugen, ermöglichen müßte. Die geschilderte Situation eines Unternehmens ist sehr interessant, weil es nicht nur als Beispiel dienen kann, son-dern auch als Kontrast, da meiner Meinung nach Unternehmen wesentlich sim-pler sind als Familien. Sie sind aus zwei Gründen geradezu trivial verglichen mit Familien: zum einem, weil ein Unternehmen ein soziales System darstellt, das mit großer Flexibilität entstehen und wieder verschwinden kann, ohne daß dies mit einer tiefgreifenden biologischen Zerstörung verbunden wäre. Menschen können ohne weiteres von einem zum anderen Unternehmen wechseln. Hier gibt es eine große Beweglichkeit; der Grund dafür liegt darin, daß man es lediglich mit den genannten drei einfachen Arten von Sprechakten zu tun hat: man gibt bekannt,

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man fordert, man verspricht. So ensteht denn auch ein soziales Netz, das auf die-sen sehr einfachen Koordinierungen von Aktionen beruht.

Bei der Familie hat man es hingegen mit einer sehr viel tiefer gehenden Form von Kopplung zu tun, da es sich dabei um biologische Notwendigkeiten und Gegebenheiten wie Sexualität und Reproduktion, Ernähren und Wohnen handelt, die in uns als biologischen Wesen verankert sind. Es gibt niemanden, der ohne sol-che fundamentalen Kopplungen auskäme. Jeder muß zum Beispiel, als Kleinkind in der einen oder anderen Weise umsorgt und gefüttert werden. Bitte verstehen Sie mich richtig, ich spreche ganz als jemand, der von außen kommt, und nicht vom Fach ist. Aber wenn ich Familientherapeut wäre, würde ich auf solche Formen der Kopplung achten wie Reproduktion, Essen und Wohnen; es sind die Gebiete, in denen die grundsätzlichen Dimensionen von Kopplung zu finden sein sollten.

In diesem Sinne ist die Familie für mich viel eher ein körperliches als ein sprachliches Phänomen. Was meine ich mit einem körperlichen Phänomen? Ich meine, daß die Kopplung hauptsächlich auf körperlichen Dimensionen basiert.

Sexualität, Reproduktion und Wohnen sind fundamentale körperliche Aktionen.

Wenn ich an das Fallbeispiel im Videofilm anschließen darf: ich konnte - was

Wenn ich an das Fallbeispiel im Videofilm anschließen darf: ich konnte - was