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Frage: Es fällt zwar leicht, die systemische Therapie als soziales System zu begrei-fen, aber dann stellt sich die Frage, was das besondere des sozialen Systems The-rapie ist. Mich würde interessieren, wie Sie dabei die drei Bestimmungsstücke von Kommunikation die Informations, die Mitteilungs und die Verstehensebene -sehen. Was ist denn die Besonderheit des sozialen Systems Therapie gegenüber Alltagssituationen zum Beispiel?

Luhmann: Da man zunächst mal eine Unterscheidung machen muß zwischen der Familie (oder dem therapierten System) einerseits und der Interaktionssequenz von therapeutischen Sitzungen (mit Einschluß der Verabredungsveranstaltungen, der eventualen schriftlichen Instruktionen usw.) andererseits, würde ich - wenn Sie nach dem Therapiesystem fragen - immer eine Interaktion zwischen der Fami-lie und dem Therapeuten als Interaktionssystem sehen; und zwar unter all den typischen Beschränkungen der Interaktion, daß sie immer nur funktioniert, wenn die Leute anwesend sind, daß die Wahrnehmungskomponente hineinspielt, daß das Zutrittsverhalten - also wer mitwirkt, wer nicht mitwirkt - irgendwie geregelt werden muß usw.

In der Familie versteht es sich zum Beispiel von selbst, wer dazugehört und wer nicht dazugehört. Das ist eine gewisse Strukturtype; auch die Asymmetrie zwischen Therapeutenrollen und den Leuten, denen die Therapie angetan wird.

Diese Asymmetrie ist ja eine besondere Struktur, die sie von einer normalen Fami-lie unterscheidet, wo andere Asymmetrien - Eltern-Kinder oder was immer - ein-geübt sind. Man muß entscheiden, worüber man etwas wissen will: Über die Familie als System, die therapiebedürftig ist, aber auch über die Therapie hinaus fortbesteht. Oder über dasjenige System, das therapiert, also eine Interaktions-sequenz, wo man z. B. die Entscheidung treffen muß, wann es zu Ende ist. Die Familie braucht ja nicht zu entscheiden, wann sie zu Ende ist. Daraus ergeben sich strukturelle Eigentümlichkeiten, so daß eine weitere Diskussion zunächst einmal davon abhängt, welches System Sie im Auge haben.

Erläuterung zur Frage: Also das kann ich leicht beantworten: das Interaktions-system, wo Therapie stattfindet. Wobei mir dort die Begrenzung nicht so einfach erscheint. Wenn beispielsweise in der Therapie Umdeutungen oder Verhaltensver-schreibungen gegeben werden, so zielen sie ja nicht auf das Interaktionssystem, sondern auf die Zeit danach. Da sehe ich Schwierigkeiten der Grenzziehung.

Luhmann: Ja, aber wenn die Verschreibung abgegeben ist, oder die Therapie

abge-brochen wird, oder man sich entschließt, sie zu stoppen, dann ist das System zu Ende, auch wenn es noch Wirkungen hat. Unabhängig von den Verschreibungen muß sowieso eine längerfristige Wirkung da sein, wenn man annimmt, daß die Therapie die Familie beeinflußt und die Familie nachher weniger Probleme hat.

Das alles wird ja nur klar, wenn man die Sonderprobleme der Sitzungssequenz als eines eigenen Systems betrachtet. Es muß irgendwie Kontinuität gesichert sein.

Man muß ein kollektives Gedächtnis haben, daß man weiß, was vorher gewesen ist. Es ist ja ganz deutlich in den Therapien, daß die Pausen selbst einen Sinn haben. Nicht nur für die Familie, auch für das therapierende System. Für das the-rapierende System deshalb, weil ganz eigentümliche Arten von Sonderproblemen auftauchen, die nicht familientypisch sind und die man für sich analysieren muß.

Da würde ich ansetzen. Es hängt natürlich sehr davon ab, für welche Probleme man sich interessiert.

Es gibt eine ganze Skala von Möglichkeiten. Etwa die Verkettung der Sequen-zen: bedeutet die Unterbrechung und der Beginn der nächsten Sitzung für die Therapeuten dasselbe wie für die Familienmitglieder? Wie stark kann das System die Perspektiven integrieren oder wie stark ist es gerade darauf aufgebaut, daß sie nicht integriert werden? Alle Ereignisse haben hier eine duale Wirkungssequenz.

Auf die Therapeutengruppe wirken sie anders als auf das System und genau das ist der Sinn des Systems.

Frage: Wobei man ja wahrscheinlich die beiden Therapeuten auch als System ana-lysieren müßte in ihrer Dualität?

Luhmann: Ja, das könnte man, so wie man ja auch in der Familie zum Beispiel die Eltern als ein Teilsystems des Familiensystems behandelt. Wenn es zwei Therapeu-ten sind, so kann die Durchführung der Therapie auch für die TherapeuTherapeu-ten bzw.

die Wissenschaftsideologie der Therapeuten und die Prinzipien, nach denen sie sich als Therapeuten fühlen, ein Problem werden. Der eine sagt etwas, was der andere für effektiv verkehrt hält. Wenn sie nach Haus gehn, unterhalten sie sich dann darüber? Oder gibt es eine Vorwegkoordination des Therapeutensegments in dem System durch Ideologie, durch organisatorische Disziplin, durch gewohnte Rücksichtsnahrne? Wenn der andere etwas sagt, tritt man dem nicht offen entge-gen? Wie steht es um alle Dissense, alle verabredeten Dissense? Das sind Frage-stellungen, die für mich zunächst mal zur Charakterisierung des Systems gehören würden.

Frage: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sehen Sie das Interaktionssy-stem Therapeut-Familie bereits als ein spezielles SyInteraktionssy-stem. Sie sehen es nicht so, als würden sich zwei Systeme begegnen und zueinander in Beziehung treten.

Luhmann: Ich kann mit dem Beziehungsbegriff immer relativ wenig anfangen.

Das kann man natürlich immer sagen. Aber die komplexeren Fragestellungen kommen auf, wenn man sieht, daß die Verbindung zwischen zwei Systemen, immer nur über die Bildung eines neuen Systems möglich ist.

Da gibt es zum Beispiel diese interessanten Figuren der beiden black boxes, die· gegenseitig für sich undurchschaubar sind: Die Familie kann die Therapeuten

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nicht durchschauen, die Therapeuten können die Familie nicht durchschauen.

Wenn es jetzt zu dieser Interaktion kommt, dann entsteht eine neue black box -dieses Interaktionssystem -, die dann nicht so schwarz ist, wie die eigentlichen black boxes, sondern so eine Art von Weißheit erzeugt. Die Transparenz der Inter-aktion ist größer als die Transparenz der beteiligten Systeme. Die gelaufene Kom-munikation kann ein Eigenleben führen, wo man ein gemeinsames Gedächtnis hat - ein Kurzgedächtnis zumindest - das dann eine höhere Transparenz erreicht. Die Transparenz kann ebenso täuschen über die black box, wie sie auch an einer Ein-sicht innerhalb der black boxes über sich selbst aus Anlaß der Beteiligung an die-ser Interaktion beteiligt sein kann.

Frage: Das kann ja genau zu solchen Verbindungen von zwei Systemen (also Klientensystem und Therapeutensystem) führen, die Gedächtnis überhaupt erst entstehen lassen. Es gibt ja Familien, die sich nur an Episoden erinnern können und überhaupt keine geschichtliche, entwicklungsmäßige Erinnerung besitzen. Es ist eine ganz wichtige Aufgabe in der Therapie, daß so etwas wie geschichtliches Bewußtsein entsteht.

Das gilt nicht nur für Familien, das gilt auch für noch komplexere Systeme. Ist das jetzt Interaktion, ist es das Entstehen einer Art Metasystems, in dem es mög-lich wird, daß sowas gelernt werden kann? Oder interagieren da zwei Systeme?

Luhmann: Ich würde es immer für notwendig halten, eine Systemreferenz zu wäh-len, d. h. zu entscheiden, welches System ich jeweils betrachten will. Ob es also zum Beispiel um das Gedächtnis der Familie, das Gedächtnis der Therapeuten oder das der Interaktion geht. In der Interaktion kann man sich selbst nicht gut ständig wiederholen. Andererseits kann man in der Annahme, man würde verstan-den, auf etwas Bezug nehmen, das vorher gelaufen ist. Also je nach der Systemreferenz Interaktion TherapeutenFamilie, Therapeutengruppe oder Familie -stellen sich die Fragen: Was ist Gedächtnis? Wie wird selegiert, was später behal-ten werden kann? Wie einheitlich ist das Gedächtnis für die Teilnehmer? Wie stark kann man bei einer Kommunikation einfach unterstellen, daß der andere das auch weiß? Das variiert je nach System. Die Schwierigkeit ist, daß man immer ganz klar machen muß, von welchem System man jeweils spricht, wenn man die Analysen verschärfen will.

Da stört mich eben die Vorstellung, es gäbe Beziehungen zwischen Systemen.

Mit dem Wort Beziehung hab' ich einen Terminus, der systemtheoretisch ganz blaß ist. Da würde ich dann lieber ein Linkage- oder ein Verbindungs system set-zen, das dann wieder eigene Eigenarten hat und mit diesen eigenen Eigenarten auf die beteiligten Systeme zurückwirkt.

Frage: Zum Problem der Wahl der Größenordnung: Wer gehört zum Familien-system ? Wer gehört zum InteraktionsFamilien-system ?

Luhmann: Innerhalb des Gesamtbereiches systemtheoretische Diskussion gibt es in bezug auf die Definition von Grenzen eines Systems Unterschiede.

Entweder sagt man, daß es eine rein analytische Perspektive ist. Heinz von Foerster argumentierte so: Da stehen Leute beisammen, und die

beisammenste-hen, die sind das System; und man kann nun sagen, die einen stehen beisammen, oder die anderen; es ist lediglich eine Frage des gewählten Ausschnittes. Diese Theorie befriedigt mich wenig, weil man dann immer die Frage hat, die Sie stel-len: Wie wähle ich den Ausschnitt? Kann ich das beliebig machen? Kann ich etwa in einem Appartementhaus den Pförtner miteinbeziehen oder nicht, und wie ent-scheide ich das?

Die andere Version geht davon aus, daß Systeme ihre Grenzen selbst produzie-ren, d. h. daß die Familie entscheidet, wer zur Familie gehört. Und ich denke, daß da die Wohngemeinschaft vermutlich die plausibelste Alltagsabgrenzung ist. Wer zusammen wohnt, gehört zur Familie. Dabei ist immer mitgedacht, daß die Umwelt natürlich wesentlich sein kann. Der Vater hat zum Beispiel Schichtarbeit und ist immer nachts weg. Das hat natürlich einen Effekt auf die Familie, obwohl die Fabrik, in der er arbeitet, nicht Teil der Familie ist.

Frage: Mir scheint das Problem der Auswahl von Systemgrenzen durchaus nicht so trivial und so vordergründig, das System definiere seine Grenzen selbst, zu beantworten zu sein. Meinen Zugang zu diesen Fragen bildet die Arbeit in Institu-tionen, in Kinderheimen zum Beispiel. Da ist es so, daß sich die Probleme mit einem Kind nicht sinnvoll rekonstruieren lassen, wenn man die natürliche Wohn-einheit, die Wohngruppe, als Bezugssystem wählt.

Luhmann: Als trivial würde ich es auch nicht ansehen. Vor allen Dingen könnte man sagen, daß die Grenzziehungsschärfe selbst eine Variable ist. Es gibt Systeme, die sich deutlich abgrenzen, wo man ganz klar weiß, wer dazugehört und wer nicht dazugehört, wo Initiationsrituale nötig sind wie Heirat. Auch in kleinen Gruppen kann es solche Aufnahmerituale geben. Auf dem Schulhof erkennt man die Mitglieder der eigenen Klasse physiognomisch, die treten als vertraut heraus, so daß man mit einem Blick sieht: das ist einer von meiner Klasse im Unterschied zu allen anderen. Und wenn man dann noch spezifische Verhaltensmuster, die nur möglich sind im Verhältnis zu einem von meiner Klasse oder einem von meiner Wohneinheit, hat, dann differenziert sich das System aus. Dann ist die Frage, über welche Breite von Variablen das durchgeführt wird.

Aber diese Frage ist nie eine Festlegung von Kausalitäten. Es kann durchaus sein, daß komplexe Systeme kausal sehr stark durch eine spezifische Umwelt gestört werden, von einer bestimmten Umwelt abhängen. Wenn Sie ein Kausal-konzept haben, so müssen Sie immer das System in einer Umwelt sehen und begreifen, in welcher Hinsicht die Umwelt auf das System einwirkt. Das hängt mit der Geschlossenheit (c1osure) zusammen. Kausal gesehen ist es keine Gruppie-rung von wichtigen Ursachen im System im Verhältnis zu unwichtigen Ursachen der Umwelt. Aber wenn Sie wissen wollen, was aus dem Riesenbereich Umwelt relevant ist, müssen Sie zuerst das System kennen. Dann erst können Sie sehen, wo Empfindlichkeiten oder Einwirkungsstellen im System, im rekursiven Operie-ren des Systems, liegen, für die eine Umwelt diskriminieOperie-rende Wirkung hat.

Frage: Wenn Sie das System praktisch als gegeben voraussetzen und sagen, das System definiere die Grenzen, dann stellt sich ja die Frage nach den Grenzen gar nicht mehr. Also: was ist das System?

128 Therapeutische Systeme - Fragen an Niklas Luhmann

Luhmann: Wenn man dies untersuchen will, kann man die Frage in Subfragen dekomponieren. Man kann von der Kontakthäufigkeit ausgehen und fragen: Wo gibt es unwahrscheinliche Erwartungen, die man nur in bezug auf die eigenen Mitglieder haben kann? Man könnte also ein Untersuchungsprogramm haben, das testet, wie scharf und an welchen Variablen das System ausdifferenziert ist.

Und dann könnte man von da aus die Strukturprobleme erkennen und dann von da aus wieder sehen, wieweit die Umwelt relevant ist.

Frage: Systeme produzieren - wie Sie sagen - ihre Grenzen selbst. Dann kann es ja durchaus passieren, daß das Zusammenkommen von Familiensystem und The-rapeutensystem gar nicht so richtig ein Interaktionssystem ergibt, sondern daß das praktisch ein Scheininteraktionssystem ist, weil unterschwellig die Grenzen beste-hen bleiben können. Wie kommt es denn tatsächlich zu einem Interaktionssystem ? Luhmann: Also ich würde an der Prämisse ansetzen, daß die Grenzen bestehen bleiben. Das würde für mich nicht bedeuten, daß es nicht zu einem System oder nur zu einem Scheinsystem kommt. Es kann ja gerade die Aufgabe des Systems sein, über die Grenzen zu kommunizieren. Ich denke mir das alles überhaupt nicht ontologisch. Es ist eine Chance für ein System, wenn man hoch heterogene Kom-ponenten zusammenbringt. Das würde für mich nicht in Richtung auf Parainter-aktion und ScheininterParainter-aktion gehen, sondern es würde gerade eine Struktur sein, die das System als solches auszeichnet.

Frage: In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage nach der Rolle des The-rapeuten. Er ist ja in der therapeutischen Interaktion Teil mehrerer Systeme. Er ist einmal Teil des Systems Therapie und dann auch eben Teil des Systems Thera-peut. Er kann ja dann hin- und herwechseln, mal reingehen, mal rausgehen aus dem jeweiligen System.

Aber wie wird nun eigentlich Veränderung induziert? Da hab' ich zwei ver-schiedene Standpunkte zwischen Ihnen und Herrn Varela herausgehört. Herr Varela sagt, wenn ich das richtig verstanden habe: Veränderung kommt aus dem System selbst. Sie sagten eher so etwas wie: Veränderung entsteht aus der Irrita-tion von außen. Wie bringen Sie diese beiden Standpunkte jetzt zusammen für die Rolle des Therapeuten? Wie induziert der Therapeut Veränderung?

Luhmann: Ich bin nicht sicher, ob die Differenz zwischen mir und Herrn Varela wirklich so scharf ist, denn wir beide gehen von einer System-Umwelt-Beziehung aus; und wir beide gehen davon aus, daß für die dynamische Stabilität des Systems immer Irritation durch Umwelt - sozusagen als Betriebsmotiv - vorausge-setzt werden muß. In dem Vortrag von Herrn Varela waren es diese 0- und 1-Zustände. Diese ganze Theorie denkt immer in System-Umweltrelationen.

Außerdem ist auch klar, daß jeder Kommunikationsbeitrag immer Teil des Interaktionssystems ist, das gerade am Laufen ist. Herr Varela macht ja keine Soziologie, insofern ist das für ihn kein Thema. Wenn ein Therapeut kommuni-ziert, kommuniziert er in dem Interaktionssystem Beratung. Er kommuniziert auch als verantwortlich seinen Kollegen gegenüber - besonders, wenn Sie ihn beobach-ten. In der Familie gilt dasselbe. Da reagiert man auf die therapeutische Situation,

aber zugleich auch im Hinblick auf das, was der Vater meinen würde, was man sagen könnte usw. In jedem Ereignis werden so komplexe Konzeptionen mehrerer Systeme zusammengeschlossen, so daß die einzelne Aussage, das einzelne Ereig-nis gleichsam Mitgliedschaft in verschiedenen Systemen hat. Aber wenn jetzt die Tochter etwas sagt und dabei hofft, daß die Mutter sich darüber ärgert, hat das eine Mitgliedschaft in dem Interaktionssystem der therapeutischen Beratung und in der Familie. Wenn daraufuin der Therapeut, der das merkt, die Tochter entspre-chend behandelt, hat das eine Mitgliedschaft in dem therapeutischen Diskurs unter den Therapeuten und in der Interaktion, aber nicht ohne weiteres in der Familie.

Verschiedene Systeme bilden gleichsam ein Ereignis zusammen, fallen wieder auseinander, und das nächste Ereignis, das sich aus der Sequenz des Ereigneten ergibt, hat eine andere Leistung mit anderen Systemen. Das ist eines der Momente, aus denen ich ableite, daß ein solches System sich selbst eigentlich nicht kontrollieren kann. Das übersteigt einfach die Aufmerksamkeitskapazität, das ist transcomputational, wie Herr Varela sagen würde.

Frage: Kann man daraus schließen, daß Veränderungen sich eigentlich unkontrol-liert aus dem System heraus ergeben? Im Gegensatz zur Vorstellung und Intention der meisten Therapeuten, daß Veränderungen durch besonders gekonnte Interven-tionen erzielt werden?

Luhmann: Ja, ich würde sagen, daß ein Therapeut sich natürlich Vorstellungen machen kann, was er gern erreichen möchte oder wohin er die Familie führen will.

Wenn diese Vorstellungen, die immer gleichsam mentale oder in therapeutischen Gruppen entwickelte Ideen sind, kommunikativ in das System eingegeben wer-den, werden Zustände geschaffen, die nicht voraussehbar sind. So daß die daraus folgende Dirigierung von Aufmerksamkeit eigentlich auf Gelegenheiten achten und die Perzeption des Momentes zur Führung zu nehmen müßte. Man sollte also nicht einen Plan haben, den man durchführen will, sondern auf Gelegenheiten warten: wann ergibt sich ein Moment, der sofort wieder verschwindet, in dem man etwas sagen kann, was man niemals vorher und niemals hinterher mit der Über-zeugungskraft, die sich aus diesem Moment ergibt, sagen kann. Man müßte eine Art Systemplanung haben, die nicht vorher die Mittel ausdenkt, mit denen man etwas bewirken will - das System ist in dem Zustand t1, ich will es zu t2 haben.

Stattdessen sollte man sich eine Technik der Beobachtung von Gelegenheiten, die sich ergeben oder nicht ergeben, aneignen und diese Gelegenheiten dann ausnut-zen.

Wie kann ich Gelegenheiten wahrnehmen? Das ist die eigentliche Strategie des Umgangs in Systemen unter der Bedingung, die Varela "observer in - system out"

genannt hat. Wenn der Beobachter das System nur ändern kann, indem er im System agiert, dann ergibt sich diese Art Intransparenz oder Unberechenbarkeit.

Es ist die Notwendigkeit, sich selbst einzuberechnen. Wenn das transcomputatio-nal und nicht zu berechnen ist, dann ist die darauf passende Strategie eigentlich eine Beobachtung von Gelegenheiten. Und vielleicht kann man das durch Schu-lung oder auch durch Typisierung, Standardisierung von Gelegenheits- oder Situa-tionskonzepten etwas stärker rationalisieren.

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Frage: Wir können also als Therapeuten keine gezielte Veränderung induzieren, sondern lediglich das System anregen, eine andere Selektion unter dem, was ihm zur Verfügung steht, vorzunehmen?

Luhmann: Wenn Sie so formulieren, würde ich zunächst einmal Abstand zu der Formulierung suchen und sagen: es ist ein Zurechnungsproblem, ob Sie sagen

"ich habe das induziert". Induziert ist ja schon ein weicher Ausdruck; "ich habe das bewirkt" oder "ich habe das System veranlaßt, sich selbst zu ändern." Und dann stellt sich die Frage: Muß ich das gewesen sein, könnte das nicht jeder andere auch? Oder war das - vom System aus gesehen - ein Zufall? Wenn ich ein Interesse an Erfolgsausweisen meiner eigenen Tätigkeit habe, halte ich mich trotz dieser Zufälligkeit für die eigentliche Ursache.

Da sind Attributionsprobleme drin, die man erkennen kann und die nicht in der Theorie selbst schon apodiktisch gelöst werden müßten. Man kann dann nur diese allgemeine Systemrelativität zur Sprache bringen und sagen: Ein professio-nelles System wird dazu tendieren, die eigene Kausalität zu überschätzen. Wenn das nicht der Fall wäre, würde man vielleicht gar nicht weitermachen. Wenn Sie

Da sind Attributionsprobleme drin, die man erkennen kann und die nicht in der Theorie selbst schon apodiktisch gelöst werden müßten. Man kann dann nur diese allgemeine Systemrelativität zur Sprache bringen und sagen: Ein professio-nelles System wird dazu tendieren, die eigene Kausalität zu überschätzen. Wenn das nicht der Fall wäre, würde man vielleicht gar nicht weitermachen. Wenn Sie