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zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Therapie

F.B. SIMON

Jeder Teilnehmer dieses Symposiums, jeder Leser dieses Buches wird daraus die Schlüsse ziehen, die ihm passen - das scheint einer der Schlüsse zu sein, die man aus diesem Symposium ziehen kann, vielleicht sogar muß. Kognitive Systeme (also in diesem Sinne auch Leser oder Teilnehmer) können als operational geschlossene Systeme betrachtet werden, die sich in jedem Moment ihrer Geschichte ihren Strukturen entsprechend verhalten. Ob die Vorträge und Diskus-sionen einen "störenden", "kognitive Verkrampfungen", Werte", "Eigen-Strukturen" und "Eigen-Verhalten" destabilisierenden Effekt hatten und haben, ob Umstrukturierungen und Entwicklungen angestoßen wurden oder werden, ob dabei die "Kommunikation" das "Bewußtsein" aufgrund gegenseitiger "Interpe-netration" beeinflußt hat oder umgekehrt, kann für sich selbst jeweils nur der sagen, der sich dieser Gefahr und Chance ausgesetzt hat. Deswegen hier zum Schluß einige subjektive Nachgedanken und Ideen aus der Sicht des therapeuti-schen Praktikers, ohne allen Anspruch ein Resumee zu geben oder gar Widersprü-che aufzulösen.

Um therapeutisch wirksam zu werden, braucht man keine konsistente Theorie.

Man muß lediglich das tun, was therapeutisch wirksam ist - aus welchen Gründen auch immer. Ohne hier den Begriff der Therapie näher zu definieren, kann doch gesagt werden, daß im allgemeinen darunter ein Interaktionsprozeß verstanden wird, an dessen Ende im Erfolgsfall (zumindest) auf Seiten des Patienten irgend-welche Veränderungen stehen - seien es nun Verhaltens- oder Strukturänderungen (- wobei Verhaltensänderungen den Vorteil der interpersonellen Überprüfbarkeit aufweisen). Behandelt und betrachtet man Familien, so manifestieren sich die Strukturänderungen der Familie in den Verhaltensänderungen ihrer Mitglieder.

Die Konzepte und Intentionen, von welchen sich der Therapeut in der therapeuti-schen Interaktion leiten läßt, ob er sein Handeln als Helfen, Erziehen, Aufklären, Bewußtmachen, ein Entwicklung ermöglichendes und nährendes Umfeld zur Ver-fügung stellen oder Eigen-Verhalten-Stören (Perturbieren) attribuiert, haben aus der Perspektive des außenstehenden Beobachters, der eine Theorie der Therapie erstellen will, keinen erklärenden Wert. Er muß darauf blicken, wie in der Interak-tion KommunikaInterak-tion entsteht (oder auch nicht), wie die strukturelle Kopplung zwischen Therapeut und Patient bzw. Therapeut und Familie erfolgt.

Auf der anderen Seite erwarten sich Therapeuten aber von einer Theorie der Therapie gerade die Möglichkeit, Konstrukte bilden zu können, aus denen sich (Be-)Handlungsanweisungen und therapeutische Techniken ableiten lassen. Sie haben nicht die Chance, komplexe Zusammenhänge in aller Ruhe zu durchden-ken und zu analysieren, sondern müssen agieren, schnelle Entscheidungen treffen,

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Fragen stellen, Antworten geben etc. Sie brauchen ein Schema der Komplexitäts-reduktion und Trivialisierung, das ihnen eine grobe Orientierung ermöglicht.

Das darf aber nicht mit der Vorstellung gleichgesetzt werden, der Mensch sei eine triviale Maschine, berechenbar und im Sinne geradlinig-kausaler Zusammen-hänge steuerbar. Wenn die drei Theoretiker, die hier zusammengetroffen sind, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze darin übereinstimmen, daß es ein radikaler Schritt der Theorieentwicklung ist, lebende, psychische und soziale Systeme als operational geschlossen anzusehen und daß damit die Vorstellung einer direkti-ven, geradlinig-kausalen Interaktion über Bord geworfen werden muß, so empört sich der Praktiker natürlich sofort: "Das weiß doch jeder, der schon einmal ver-sucht hat, einem kleinen, schreienden und spuckenden Kind Spinat zu verfüt-tern!" Schließlich ist es seine tägliche, schmerzliche Erfahrung, daß es nicht aus-reicht, einem Patienten, der einen Waschzwang präsentiert, die "Information" zu geben: "Du wäscht dich so häufig, um dich symbolisch von der Schuld, mit deiner Mutter schlafen zu wollen, zu reinigen." Therapeuten - wahrscheinlich doch mehr Künstler als Wissenschaftler - gehen mit diesem Problem meist intuitiv, mal mit größerem, mal mit geringerem Erfolg um. Wenn man Therapeuten der verschiede-nen Schulen bei der Arbeit zuschaut, so zeigen sich mehr Übereinstimmungen als es ihre Therapietheorien erwarten ließen. Ihr Handeln wird offensichtlich eher von situationsbezogenen Ideen und Nützlichkeitserwägungen bestimmt, die theo-retische Begründung der Interventionen erfolgt meist im nachhinein.

Dieser unwissenschaftliche Pragmatismus, das "Künstlertum", schützt offen-sichtlich auch in gewissem Maße vor den Irrtümern der Wissenschaft, deren

"Wahrheiten" - zumindest in dem hier relevanten Bereich - eine relativ kurze Halbwertzeit haben.

Doch dieser schnelle Einwand ist gefährlich und nach dem bekannten Muster gestrickt: "Das haben wir schon immer so gemacht", bzw. "Das haben wir noch nie so gemacht!" Beides sind sehr gute Argumente, sich nicht stören zu lassen; es sind Operationsmuster, welche die bestehenden Operationsmuster erhalten, Stra-tegien zur Verteidigung von "Eigen-Werten", womöglich nichts anders als Aus-druck eines "kognitiven Krampfes". Denn schaut man genauer hin, so zeigt sich, daß sehr viele Therapeuten im geradlinig-kausalen Denken verfangen bleiben und immer wieder irgendwelchen damit verknüpften Allmachts- und Größenphan-tasien erliegen. Da sie letztlich doch davon ausgehen, Patienten seien triviale Maschinen, tun sie sich schwer, ihre Verantwortung zu begrenzen. Eine Verant-wortung, der sie nur gerecht werden könnten, wenn sie ihre Patienten einseitig steuern könnten, wenn sie Ursache für das wären, was die Patienten/die Familien tun.

Das Faszinierende an der Angelegenheit ist, daß ja eigentlich jeder in seinem Alltag die Erfahrung macht, daß seine Mitmenschen nicht zu hundert Prozent berechenbar sind und nicht einmal die Wettervorhersage zufriedenstellend funk-tioniert. Dennoch war dies bislang - auch und gerade in der Psychologie und Psy-chotherapie - kein Grund, die geradlinig-kausalen, Subjekt und Objekt der Erkenntnis trennenden Prämissen der eigenen Theorie und Praxis in Frage zu stel-len. Die Erklärung für die mangelnde Vorhersagbarkeit wurde nicht im Prinzipiel-len gesucht (- der faktischen Unanalysierbarkeit nicht-trivialer Maschinen zum Beispiel, wie sie Heinz von Foerster dargestellt hat), sondern im Speziellen, in

mangelnden, noch nicht ausreichenden Informationen. Wenn die Analyse nur lang, weit und tief genug ausgedehnt wird, so die Annahme, wird sich alles in sei-nen mechanischen Zusammenhängen klären. Doch das Grundproblem wurde dabei übersehen: jede Suche nach Information ist schon wieder Teil der Interak-tion, sie stört das System und stößt es zur Veränderung dessen an, was gerade untersucht wird. Die "Wahrheit" ist in dem Moment, in dem sie formuliert wird schon längst zur" Unwahrheit" geworden.

Welche Möglichkeiten hat nun aber ein Therapeut, auf ein operational geschlossenes System - sei es ein Kommunikationssystem oder ein psychisches System -, das sich autonom, seiner eigenen internen Struktur entsprechend ver-hält, Einfluß zu nehmen? Die Voraussetzung jeglicher Therapie ist irgendeine Form der Kopplung, das Entstehen eines Kommunikationssystems. Ein solches Zusammentreffen von Therapeut und Patient bzw. Familie ergibt sich nicht zufäl-lig. Beide Seiten versprechen sich irgendetwas davon, anderenfalls würden sie den Kontakt abbrechen. Doch was sie sich davon versprechen, muß nicht immer Ver-änderung sein. VerVer-änderung - und damit Therapie - ergibt sich nur dort, wo eine Form der Kopplung gelingt, welche die internen Strukturen des Patienten in einer Weise stört, daß Reorganisation nötig wird. Die Interaktion zwischen Therapeut und Patient oder Familie muß also so sein, daß beide sich nicht lediglich in ihren Eigen-Strukturen gegenseitig bestätigen. In einem solchen Falle würde sich das therapeutische System schließen und erstarren.

Der Therapeut gestaltet das therapeutische System ohne seine Gestalt bestim-men zu können - das ist sein Dilemma, hier liegt seine Verantwortung, hier findet sie ihre Grenzen.

Aus der Sicht der Kybernetik zweiter Ordnung kann ja keiner der Beteiligten als Herr über die Entwicklung der Strukturen des therapeutischen Systems betrachtet werden, keiner ist in der Lage zu sagen, welche Mitteilungen er dem Anderen macht, und niemand kann das gegenseitige Verstehen, die gegenseitige Veränderung oder Nicht-Veränderung in einem deterministischen Sinne steuern.

Die Situation des Therapeuten ist also viel eher mit der eines Kapitäns auf hoher See oder auch - um den Luhmannschen Vergleich aufzunehmen - der eines Bör-senmaklers als mit der eines Fernsehmechanikers zu vergleichen: Er driftet in stür-mischen Wassern, er spielt mit in einem Spiel, dessen Regeln keine Aussage dar-über zulassen, was passieren wird und welche Folgen die Spielzüge in diesem hochkomplexen Monopoly-Spiel für alle Mitspieler haben werden.

Aber alle Beteiligten können - bezogen auf das Interaktionssystem - ihr Veto gegenüber den sich entwickelnden Strukturen und Spielregeln einlegen. Hier liegt der Unterschied zur Börse und wahrscheinlich auch zum Hochseesegeln. Man kann als Therapeut die Spielregeln dadurch verändern, daß man bestimmte Spiel-züge nicht mehr ausführt und stattdessen andere vollzieht. So bietet sich eine Möglichkeit, Veränderung zu forcieren, "kognitive Krämpfe" zu lösen und Fami-lien aus ihrem "Eigen-Verhalten" zu schubsen. Allerdings, so muß man wohl ein-wendend fragen, ist Störung schon Therapie? Ist jede Form gleich sinnvoll? Ist es beliebig, wie gestört wird? Hier ist der Punkt, an dem der Therapeut nun doch eine Theorie braucht. Im Unterschied zum Nachbarn oder Friseur des Patienten, der am Zaun stehend oder bei der Zubereitung einer Dauerwelle Ratschläge gibt, agiert der Therapeut nicht als Privatperson. Er und der Patient koppeln sich nicht

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aufgrund eines gemeinsamen Gartenzauns, auch nicht wie Familienmitglieder auf-grund biologischer Bedingungen, sondern aufauf-grund gesellschaftlicher Rollendefi-nitionen. Der Therapeut braucht seine Theorie, um sein (Be-)Handeln sich selbst und den gesellschaftlichen Kontrollinstitutionen gegenüber als sinnvoll zu recht-fertigen. Es ist für ihn eine der Bedingungen seines persönlichen und rollenmäßi-gen Identitätserhalts.

Eine Theorie der Therapie wird also den sozialen Kontext der Therapie, sowie die Wirklichkeitskonstruktionen von Patienten wie auch Therapeuten gleicherma-ßen miteinbeziehen müssen. Beide sind Beobachter, die einen Beobachter beob-achten, der sie selbst als Beobachter beobachtet usw. Auf diese Weise bringen sie das Kommunikationssystem hervor, das man dann Therapie nennt. Eine systemi-sche Therapie wird eine konsistente Theorie wie auch pragmatisystemi-sche Behandlungs-rezepte nur entwickeln können, wenn sie sich als klinische Epistemologie versteht, in der es gilt die Entwicklung, Veränderung und Aufrechterhaltung der Erkennt-nisstrukturen von Patienten und ihren Familienmitgliedern wie auch von Thera-peuten in der Interaktion - sei es der therapeutischen oder nicht-therapeutischen - zu studieren.1 Nur so ist es möglich, interpersonell zu überprüfen, welche Mög-lichkeiten der gemeinsamen Wirklichkeitserfindung in der Therapie sinnvoll oder nicht-sinnvoll sind, ob die Begründungen, welche Therapeuten für ihr Handeln geben, nur just-so-Geschichten sind oder logisch kohärent. Das gibt uns dann zwar auch nicht die Sicherheit einer objektiven Wahrheit und Wirklichkeit wieder, aber im logischen Denken finden wir zumindest eine gute, wenn nicht die einzige Spielregel, die einen - sicher zeitlich begrenzten - interpersonellen Konsens dar-über ermöglicht, was wir (bis auf Widerruf) als sinnvolles therapeutisches Handeln ansehen wollen.

1 vgl. Simon FB (1987) Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grund-lage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Springer, Heidelberg.