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Ich weiß nicht. Ich habe es mir so noch nie überlegt

Transkript einer Sitzung und Therapieverlauf

B.: Ich weiß nicht. Ich habe es mir so noch nie überlegt

Tb.1 (mit humorvollem Unterton): Und wenn Sie es sich jetzt mal so überlegen?

B.: Das kann schon sein.

Tb. 1: Im Augenblick sind Sie ja dann in einem Kampf, Mutter und Tochter. Die Mutter sagt: "Wenn du mir noch nicht einmal den Sohn abholst, wenn ich im Bett liege, oder dich um mich sorgst, dann sorge ich mich auch nicht um dich." Und Sie kämpfen und sagen: "Solange ich nicht von dir das kriege, was ich haben möchte, solange erbreche ich."

B.: Ja, wenn Sie gerade das Beispiel mit dem Abholen noch anbringen. Ich bin zu Fuß aus der Schule gekommen und habe gefroren. Und Michael hat sich ins Auto setzen können.

M.: Der ist aber erst eine Stunde später gekommen.

B.: Ja, und mittags zum Beispiel: Da ist er mit dem Auto zur Post gefahren, konnte aber nicht einkaufen gehen. Und ich bin dann losgelaufen zu Fuß und bin zum Einkaufen bei der Kälte. Aber das gilt dann auch wieder nichts.

M.: Wobei ich Besuch gehabt habe.

Tb. 1: Sie haben den Eindruck, es wird mehr gesehen, was der Michael macht, als das, was Sie machen? Es wird weniger beachtet, was Sie machen?

B.: Ja, also, so generell kann man das eigentlich nicht sagen, aber so ab und zu fällt es mir dann schon wieder auf.

Tb. 1 : Sie sind jetzt also beide ärgerlich und sagen: "Für dich tue ich nichts mehr."

Die Mutter sagt: "Für dich tue ich auch nichts mehr, und wenn du da ohnmächtig liegst oder Dich zeigst, selbst damit kriegst du mich nicht mehr zu fassen." Wer gewinnt in diesem Kampf? Oder wer geht drauf?

B. (zur Mutter schauend): Von Gewinnen kann man bei keinem reden.

Tb. 1: Aussichtslos, nicht? Aber es wird ja weiter gekämpft.

Tb. 2: Wenn jemand draufgeht, wer geht drauf?

B.: Beide, wahrscheinlich.

Tb.1: Wer ist zäher im Durchhalten?

B.: Gleichstand, würde ich sagen.

78 Transkript einer Sitzung und Therapieverlauf

Th. 1: Wenn Sie jetzt so offen darüber geredet haben und Ihre eigenen neuen Gedanken entwickelt haben, was denken Sie, erzeugt das in der Mutter? Wird die dann auch nachdenklich?

B.: Daß sie nachdenklich wird, ja, das glaube ich schon. Aber irgendwie kann ich mir vorstellen, daß sie bei ihren alten Eindrücken bleibt.

Th.2: Da sind zwei eigenwillige Naturen miteinander zugange. Und jeder will halt dem anderen nicht allzuviel Gutes lassen und doch gleichzeitig soviel haben. In diesem Kampf, von dem Sie sagen, daß es jetzt 1:1 oder 1000:1000 steht, was spie-len die Männer denn da für eine Rolle?

B.: Also der Michael unterstützt die Mutter und Papa steht mehr zwischendrin.

Einerseits klar, daß er seiner Frau hilft, klar, andererseits ist er auch geteilt und steht auch etwas auf meiner Seite ...

Wir zeigen uns am Ende dieser Sitzung beeindruckt von der Bereitschaft der Familie zur Auseinandersetzung und darüber, sich auf unsere teilweise ungewöhn-lichen Fragen einzulassen. Dies gäbe uns Anlaß zur Hoffnung. Normalerweise würden wir in diesem Stadium von Familiengesprächen, in dem deutlich würde, daß unerfüllte Bedürfnisse von Mutter und Tochter in negative Gefechte einge-mündet sind, folgende Aufgabe geben: Mutter und Tochter sollten pro Woche einen Mutter-Tochter-/Tochter-Mutter-Tag haben, an dem sie mindestens vier Stunden zusammen sind. Und auch dem Vater und den Söhnen würden wir eine solche gemeinsame Zeit verschreiben. Bei ihnen seien wir aber noch nicht sicher, ob wir ihnen die Aufgabe schon zumuten könnten, und würden deshalb vorläufig davon absehen.

Zur nächsten Sitzung luden wir nur die Eltern ein und erfuhren, daß beide (Vater und Mutter) sich in ihren Familien gegenüber den älteren Brüdern zurück-gesetzt fühlten, andererseits aber besonders zuständig waren, für die Eltern zu sor-gen, und auch von diesen lange Zeit in Anspruch genommen wurden. Die Mutter der Mutter zeigte vom 8. Lebensjahr der Mutter an oft Herzanfälle und veranlaßte ihre Tochter (Frau Paul) so, sich ihren Wünschen anzupassen, und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Die Mutter fühlte sich also auch von ihrer eigenen Mutter in ihrer Familie tyrannisiert.

Am Ende der Sitzung verschreiben wir dem Ehepaar ein Ritual mit der Inten-tion, die Generationsgrenzen in der Familie zu stärken.

In der letzten Sitzung, sechs Monate nach Beginn der Gespräche, sehen wir noch einmal die Mutter und Birgit und fokussieren in diesem Gespräch durch hypothetische Fragen hauptsächlich auf die Zukunft beider und ihrer Beziehung.

Am Ende des Gespräches zeigen sich die beiden Therapeuten uneinig. Bernd Schmid äußert, er spüre immer wieder, wie Hoffnung aufkeime, und er spüre, wie aufgrund dieser Hoffnung Enttäuschung, Schmerz und Ärger darüber entstünden, daß das, was er Mutter und Tochter aufgrund ihrer Beziehung durchaus zutraue, nicht zustande komme. Von daher verstehe er jetzt besser die Resignation von

Mutter und Tochter. Sie diene vielleicht dazu, die oft aufkeimende Hoffnung, die durch die Trotzigkeit beider immer wieder zerstört würde, in Grenzen zu halten.

Beide würden seiner Meinung nach bei genügend angesammelter Resignation in absehbarer Zeit doch ihre eigenen unverwechselbaren Wege gehen können.

Der andere Therapeut, Gunthard Weber, widerspricht ihm. Er glaube nicht daran, daß Mutter und Tochter sich auf diese Weise voneinander lösen könnten.

Beide hätten eine Menge Kraft. Ihr Trotz sei jedoch zur Zeit stärker als sie selbst und auch stärker als die Therapeuten. Daher nehme er an, daß Mutter und Toch-ter noch einige Zeit in der bisherigen Weise miteinander verklammert blieben.

Unter diesen Umständen halte er Therapie deshalb im Augenblick für noch nicht möglich.

Beide Therapeuten erklären, sie hätten sich jedoch darauf geeinigt, der Familie auch weiterhin zur Verfügung zu stehen und sie eine Weile zu begleiten, auch wenn sie sich drüber uneinig seien, ob schon in absehbarer Zeit Veränderungen möglich wären. Es wird kein neuer Termin angeboten. Die Familie solle es sich gut überlegen und im Bedarfsfalle wieder anrufen.

Ein Telefongespräch mit dem Vater acht Monate nach dem letzten Familiengespräch

Herr Paul berichtet, daß sich der Zustand und das Verhalten von Birgit in der Zwi-schenzeit entscheidend gebessert hätten. Sie habe vier Kilogramm zugenommen.

Sie nehme an den gemeinsamen Familienessen teil und esse normal. Der ältere Sohn erwäge zwar noch, daß sie eventuell selten heimlich erbreche. Darüber gebe es aber keinerlei familiäre Auseinandersetzungen mehr. Von Zeit zu Zeit spüre man aber noch mal Spannungen in der Familie. Birgits Monatsblutung sei in der Zwischenzeit wieder aufgetreten. Ihre Zufriedenheit sei sichtbar und spürbar. Sie habe jetzt einen 22 Jahre alten Freund. Er, der Vater, sehe diese Beziehung sehr positiv und habe sich gewundert, daß Birgit so schnell einen Freund bekommen habe. Außerdem sei sie Gruppenleiterin in einer Jugendgruppe.

Die Eltern seien mit der momentanen Entwicklung sehr zufrieden und es gehe ihnen daher auch entsprechend gut. Seine Frau sei jetzt berufstätig, arbeite 3 - 5 Stunden am Tag als Sekretärin und sei sehr froh über diese Tätigkeit. Dadurch bleibe zwar anderes liegen, und er sei durch den Haushalt auch etwas mehr bean-sprucht, aber das gehöre wohl dazu. Wichtig sei, daß seine Frau mal "rausgekom-men" sei und draußen Bestätigung und Anerkennung bekomme.

Er nimmt dann noch einmal rückblickend auf die gemeinsamen Familienge-spräche Bezug. Die Art und Weise, wie wir die Gespräche geführt hätten, sei für die Familie sehr neu gewesen. Sie hätten sich wohl nicht immer in den Gesprä-chen als gute Partner gezeigt. Manchmal sei auch Herr Schmid etwas zu provozie-rend gewesen, wähprovozie-rend Herr Weber öfters "händereichend" gewesen sei. Sie hät-ten aber alle Nutzen daraus gezogen und wären in der Zwischenzeit auch darüber einer Meinung gewesen, daß sie sich, wenn es nötig gewesen wäre, noch einmal an die Therapeuten gewandt hätten. Im Augenblick sehe er keinen Anlaß zu neuen Gesprächen. Er sehe der Zukunft sehr zuversichtlich entgegen.

80 Transkript einer Sitzung und Therapieverlauf

Fragestellungen zum vorgestellten Fallbeispiel

Wenn wir postulieren, daß in der Familie eine Änderung eingetreten ist, die einen Unterschied macht, und daß unsere therapeutischen Maßnahmen dazu beigetra-gen haben, dann konzipieren wir zwei Bereiche:

1. Wir haben eine Reihe neuer Ansichten über die Situation, neue Bedeutungen der Verhaltensweisen, insbesondere des Symptomverhaltens, und neue Ideen über die interaktionellen Zusammenhänge, in die das Symptom eingebettet ist, eingeführt. Durch hypothetische Fragen haben wir Spuren für eine Reorganisa-tion der Ideen, der InterakReorganisa-tionsmuster und des inneren Erlebens der Familie gelegt und besonders bezüglich der Zukunft mögliche alternative Entwicklun-gen angestoßen.

2. Durch gezielt es Uns-Zurücknehmen und durch die Herausforderung der Wider-spruchsbereitschaft der Familie (insbesondere der Frauen) haben wir dysfunk-tionale repetitiv symmetrische Interaktionen zwischen Mutter und Tochter erschwert. Durch unsere Wirklichkeitskonstruktion, die das Muster zwischen Mutter und Tochter als zur Zeit unveränderbar definiert hat, haben wir beigetra-gen, dieses Muster zu blockieren und alternative Interaktionen angeregt.

3. Wie sonst, außer der von uns vorgetragenen Weise, kann man das Geschehen konzeptualisieren?

H. von FOERSTER, N. LUHMANN, B. SCHMID, H. STIERLIN und G. WEBER

von Foerster: Ich habe ja, Gott sei Dank, schon vorher eine kleine Übersicht, um was es sich bei dieser ganzen Sache handelt, bekommen. Die Idee der Therapeu-ten, die ich beim Beobachten der Sitzung herausgekriegt habe, ist mir nicht fremd.

Es ist die Idee, daß in der Therapie gemeinsam eine Realität erzeugt wird. Die Familie kommt natürlich schon mit einer Realität; und die ist in dieser Familie völlig eingefroren. Wie ein Eigenverhalten ist sie von außerordentlicher Stabilität.

Ich war tief beeindruckt, wie stabil eine Familie dem unerhörten Meißeln und Hämmern der Therapeuten trotzen kann.

Ich glaube, daß das teilweise ein sprachliches Problem ist. Es gibt dafür meh-rere Gründe: Wir haben - wenn ich wir sage, dann meine ich wirklich wir, ich bin da eingeschlossen - noch keine Sprache entwickelt, die dieser Realitätserfindungs-prozedur gerecht wird. Das Teuflische ist, daß die Sprache diese starke denota-tive Komponente hat. Wenn ich von dem Mikrofon rede, dann weiß jeder, ich rede jetzt von diesem Mikrofon; das ist denotativ. Wenn ich aber tatsächlich die Sprache, so wie sie abläuft, untersuche, dann ist dies eine konnotative Opera-tion.

Ich habe jetzt den Unterschied zwischen denotativ und konnotativ genommen, weil ich glaube, daß Luhmann darauf abzielt, besonders das Konnotative heraus-zustellen: Die Sprache aus der Sprache entstehen zu lassen und gar nicht erst über Objekte. Die Sprache entsteht aus der Adressierung an die anderen sprachlichen Individuen. Weil wir uns immer sprachlich auf die Objektsprache einlassen, glau-ben wir ja immer ganz selbstverständlich, daß Sprache denotativ ist.

Nehmen Sie zum Beispiel Margaret Mead, die unglaublich schnell Sprachen gelernt hat und dazu folgende Strategie entwickelt hatte: Wenn sie in eine Gegend kam, deren Sprache sie nicht konnte, zeigte sie immer mit dem Finger auf irgend-ein Objekt und fragte: "Was heißt dies und dies und dies?". Die Antwort war dann: "Puhuma, japampa" oder so ähnlich. Einmal kam sie jedoch zu einem Stamm, da wurde ihr, worauf sie auch zeigte, immer dasselbe geantwortet:

"lubumbu" (oder irgendetwas in der Art). Da dachte sie zunächst, "das ist ja eine furchtbar primitive Sprache". Als sie die Sprache dann lernte, erfuhr sie, daß

"lubumbu" heißt: "mit dem Finger wohin zeigen". Das kann passieren, wenn wir uns auf die denotative Sprache verlassen. Und das ist es, was der Herr Luhmann -wie ich denke - vermeiden möchte. Das ist aber nicht leicht.

Schauen wir nun die Sprache in dieser Familientherapie an. Ich habe den Ein-druck, daß die Struktur der Frage von den Therapeuten in der naiven Form als Möglichkeit des Informationen Einholens interpretiert worden ist, und nicht in der Form, daß die Frage ein Katalysator für eine Realitätserfindung sein soll. So

82 Diskussion des Fallbeispiels

habe ich zum Beispiel gehört: "Wir haben gefragt, um zu klären, um zu präzisie-ren, was die anderen meinen." Die Familie meint ja gar nichts. Die Familie sitzt ja da und wartet, daß sie etwas erfinden darf. Dafür zahlt sie ja.

Das Faszinierende am zirkulären Fragen ist für mich diese Notwendigkeit, etwas zu erfinden. Man fragt: "Sag' einmal, was glaubst Du, hält Dein Mann von Dir?" Natürlich hat die Frau niemals darüber nachgedacht. Sie muß also sofort etwas erfinden, und man kann diese Erfindung benützen, um alle möglichen ande-ren Sachen mit zu erfinden. Man darf aber nicht glauben, das habe etwas mit der Präzisierung der Relation zu tun. Damit hat es natürlich überhaupt nichts zu tun.

Es hat lediglich damit zu tun, daß diese Frau durch diesen Trick in eine Stimmung versetzt wird, eine schöne Relation zu erfinden.

Wenn man eine Frage so auffaßt, als diene sie der Präzisierung, so folgt man der denotativen Sprachinterpretation. Wenn man Fragen so auffaßt, daß dadurch Erfindungen erlaubt werden, so befördert man eine konnotative Struktur der Spra-che. Es ist dann ein Teil einer Strategie, mit der man solche Erfindungen produzie-ren kann.

Ich möchte eine kleine Geschichte erzählen, die man vielleicht auf die Situa-tion der Familientherapie übertragen kann: Im Ersten Weltkrieg hatten die alliierten Soldaalliierten keine gualliierten Stahlhelme. Die deutschen Stahlhelme waren damals -1914/15 - schon erfunden, während die Alliierten eigentlich nur mit geprägten Blechhelmen in die Schlachten gekommen sind. Die Projektile sind daher sofort durch die Helme durchgedrungen und haben Kopfverletzungen verursacht. Im ersten Jahr - 1914/15 - gab es zahlreiche solcher Kopfverletzungen unter den Alliierten. Viele heilten äußerlich relativ schnell, besonders wenn es keine Splitter-verletzungen waren. Die Verletzten wurden nach Haus geschickt. Nach einer oder zwei Wochen, vielleicht auch nach ein oder zwei Monaten entwickelten sie plötz-lich merkwürdige motorische Störungen. Die Leute konnten den Arm nicht aufhe-ben, mußten den anderen Arm zu Hilfe nehmen, um den gelähmten auf den Tisch zu legen, oder sie gingen mit einem schleppenden Fuß und konnten ihn nicht bewegen. Sie kehrten also ins Spital zurück und ließen sich untersuchen. In den meisten Fällen ließen sich überhaupt keine motorischen Störungen feststellen. Das motorische System war in Ordnung, man wußte nicht, was da los war.

Bei einer zufälligen Gelegenheit bot nun ein amerikanischer Arzt einem der verletzten französischen Soldaten eine Zigarette an. Der reagierte aber gar nicht auf die geöffnete Schachtel. Vielleicht - sagte sich daraufhin dieser amerikanische Arzt - fehlt ihm gar nichts motorisch, vielleicht kann er nicht sehen. Der Soldat wurde sofort zur Ophthalmologie geschickt, um sein Sehfeld untersuchen zu lassen.

In der folgenden Abbildung sehen Sie zwei Köpfe, die einmal nach rechts und nach links schauen. Das Bild zeigt das Sehfeld nach dem Durchschuß eines Pro-jektils durch den Schädel und durch das Hirn. Der visuelle Cortex ist in diesem Fall durchlöchert, und das übriggebliebene Sehfeld ist das helle Feld auf diesen beiden Bildern. Dieser Hirnverletzte hatte einen riesigen blinden Fleck mit einer ganz geringen peripheren Sehfähigkeit. Er hat nicht gewußt, daß er blind ist. Er hat keine Ahnung gehabt, daß er nicht sehen konnte. Man hat ihn dann gefragt:

"Sag', ist Dir das nicht aufgefallen?" Darauf antwortete er: "Ja, von Zeit zu Zeit, wenn ich mit meinen Freunden im Cafehaus gesessen bin, ist plötzlich der Kopf

Abb.1

meines Freundes verschwunden. Aber da hab' ich immer ein bißchen nach links geschaut und da war er wieder da."

Das Verfahren, um die Lähmungen zu beseitigen, war dann folgendes: Irgend-ein genialer Mensch hat diesem Menschen für zwei, drei Monate die Augen ver-bunden, so daß er überhaupt nichts sehen konnte. Dadurch, daß er dann über-haupt nichts sah, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf das propriozeptive System zu verlassen. Man weiß ja genau, wie man steht, auch wenn man die Augen zumacht. Aber wenn man sich darauf verläßt, sein Aufrechtstehen visuell zu überprüfen und zu gewährleisten, dann fällt man mit geschlossenen Augen um.

Dann vertraut man nicht seinen Propriozeptoren, sondern nur seinen Augen, und dann kann man auch seinen Arm nicht bewegen, wenn man nicht sieht. Dem Mann wurden also für zwei, drei Monate die Augen verbunden und er lernte wie-der das Gehen; danach hat er die Augen wiewie-der aufgemacht und konnte etwas sehen und gehen.

Ich erwähne das deshalb, weil das ja vielleicht als eine der Strategien in die Therapie einbezogen werden könnte. Ich nenne das "uncoupling", also "Auskup-peIn". Wenn man die Situation, die die Schwierigkeit herbeiführt, auskuppelt, so daß die Leute die Schwierigkeit nicht mehr ununterbrochen in derselben Weise sehen, könnte man das vielleicht strategisch nutzen, um dieser Familie eine neue Realitätskonstruktion zu erlauben.

Das sprachliche Problem ist natürlich fundamental. Wenn es möglich wäre, eine Sprache zu entwickeln, die sich nur minimal auf Objekte und sogenannte Tatsa-chen und Fakten bezieht, so wäre das ein großer Vorteil. Ich möchte Ihnen einige kurze Zeilen von Piaget dazu vorlesen, wie er über Fakten und Tatsachen spricht:

,,50 Jahre von Erfahrung haben uns gelehrt, daß Kenntnis, Wissen, Verstehen nicht lediglich aus einem Registrieren von Beobachtung erwächst," - er meint, so als ob man eine Videokamera wäre - "ohne daß nicht gleichzeitig eine strukturierende Aktivität des Subjekts stattfindet ... Eine Epi-stemologie, wie sie mit den Daten der Psychogenese übereinstimmt, kann sich weder auf einen

84 Diskussion des Fallbeispiels

Empirismus noch auf einen Präformismus stützen, sondern kann nur auf einem Konstruktivismus basieren mit einer sich stets erneuernden Auswertung neuer Operationen und Strukturen. Keine Erkenntnis kommt allein durch Perzeptionen. Diese sind immer von Aktionsschemata begleitet."

Erkenntnis entsteht also durch Aktion. Das ist sehr wichtig. Ich könnte mir vor-stellen, daß man in einer therapeutischen Situation - wie das ja auch tatsächlich der Fall ist - Vorschläge macht, was die Familie tun soll, beispielsweise die Ver-ordnung eines Rituals.

"Immer ist eine Beobachtung, ein Faktum, vom Moment der Beobachtung an interpretiert. Der Gesamtprozeß der Konzipierung von seiten des Subjekts schließt die Existenz reiner Fakten als völlig außerhalb des Subjektes aus, umso mehr als ja das Subjekt die Phänomene verändern muß, um sie zu assimilieren. "1

Natürlich können wir uns daran erinnern, was Faktum heißt. Es kommt vom Lateinischen "facere", und das heißt "machen". Also ein Faktum ist etwas, was wir gemacht, d. h. erfunden haben. Fiktion kommt von "fingere", das heißt auch

"etwas erfinden". Der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen ist: Fakten sind erfunden, aber man kann sie prüfen und man kann sie bezweifeln; Fiktionen sind dagegen erfunden, aber wir bezweifeln sie nicht.

Luhmann: Ich muß zunächst sagen, daß ich, nachdem ich die Video-Aufnahme

g~sehen habe, das Gefühl habe, einen falschen Vortrag gehalten zu haben. Anders gesagt: Ich hätte völlig andere Themen ausgewählt, wenn es mir zentral darauf

g~sehen habe, das Gefühl habe, einen falschen Vortrag gehalten zu haben. Anders gesagt: Ich hätte völlig andere Themen ausgewählt, wenn es mir zentral darauf