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Frage: Ich möchte mit den einfachsten Fragen anfangen; ich bitte Sie reihum, zu sagen, wie Sie "System" und wie Sie "Realität" definieren?

Luhmann: Als System würde ich einen Komplex von Operationen definieren, der die Fähigkeit hat, sich selbst durch die eigene Reproduktion von der Umwelt abzugrenzen. Also eine Operation, die in der Sequenz des Anschließens weiterer Operationen an zufällig entstandene Anfangsoperationen die Fähigkeit hat, eine Differenz zwischen System und Umwelt zu produzieren. Das mag man in der Bio-logie mit räumlichen Vorstellungen machen, in der SozioBio-logie oder der Psycholo-gie mit Sinn.

Nun zur Realität: Da hab' ich die Tendenz, in diesem Falle ausnahmsweise alt-europäisch zu denken und mir vorzustellen, daß ,res' mit Ding, mit Einheit zu tun hat. Weil aber in der konstruktivistischen ich mag den Ausdruck nicht -Erkenntnistheorie eine Einheit immer relativ ist auf das System, das mit seinen eigenen Operationen etwas als Einheit synthetisieren kann, ist Realität in diesem Sinne des Überziehens von irgendetwas Unbekanntem mit Einheiten, die sich von anderen Einheiten unterscheiden, immer das Produkt eines Systems. Das heißt aber nicht, daß das System solipsistisch operiert und es nur allein auf der Welt ist ohne irgendetwas anderes. Die Emergenz von Realität setzt Systeme voraus, die Einheiten produzieren können.

Systeme wiederum sind definiert als etwas, das sich gegen etwas anderes abgrenzen kann. Das ist kompliziert, aber nach einer langen Tradition philosophi-schen Denkens muß man hier kompliziert sein.

von Foerster: Es sind zwei Fragen. Die eine gilt dem System. System kommt aus dem griechischen, das ursprüngliche Wort lautet ,synhistamein' und ,histamein' heißt stehen, ,syn' heißt zusammen. Synhistamein ist ein Zusammenstehen. Das System ist etwas, was zusammensteht. Aber was zusammensteht, hängt davon ab, wer hinschaut. Es ist also vom Beobachter abhängig, was er als zusammenstehend definiert.

Nun will ich eine Geschichte erzählen: Ein Mullah, ein islamischer Priester, reitet nach Mekka. Auf seinem Kamelritt sieht er eine Gruppe junger Männer, die sehr verzweifelt sind. Er fragt sie: "Warum seid ihr so verzweifelt?" Sie antworten:

1 Die Interviewer waren Marianne Krull, Klaus Deissler und Kurt Ludewig. Die Diskussionsbei-träge Francisco Varelas wurden von Karl-Eugen Graf und Fritz B. Simon aus dem Englischen übersetzt.

96 Kreuzverhör - Fragen an Heinz von Foerster, Niklas Luhmann und Francisco Varela

"Unser Vater ist gestorben." "Allah segne ihn!", entgegnet der Mullah. "Ihr habt doch sicherlich etwas geerbt, so braucht ihr nicht so unglücklich zu sein." "Ja", sagen sie, "wir haben diese 17 Kamele geerbt. Und er hat uns vorgeschrieben, wie wir sie verteilen sollen. Der älteste soll die Hälfte der Kamele bekommen, der mittlere Bruder soll ein Drittel der Kamele bekommen, und der kleinste ein Neun-tel. Nun haben wir also die 17 Kamele und wie immer wir das einteilen, wir kön-nen keine Lösung finden!" Darauf sagt der Mullah: "Ich borge euch mein Kamel.

Jetzt habt ihr 18 Kamele; ein Neuntel, das sind zwei Kamele, erhält der jüngste Bruder; ein Drittel, das sind sechs Kamele, bekommt der mittlere Bruder; und die Hälfte, das sind neun, erhält der älteste. Insgesamt sind das 17 Kamele, so setze ich mich auf mein 18. Kamel und reite weiter." Realität - das ist meine Antwort auf die Frage - ist das 18. Kamel.

Varela: Ich möchte sagen, daß grundsätzlich jede operationale Unterscheidung ein System darstellt. Wenn Sie eine Unterscheidung haben, dann haben Sie ein System. Es ist ausreichend, über ein Kriterium zu verfügen, das es erlaubt, etwas von seinem Hintergrund zu trennen. Will man etwas mehr ins Detail gehen, so kann man sagen, daß man auch zumindest eine Idee davon haben muß, was die Struktur des Systems oder seine Organisation ist, sobald eine Unterscheidung voll-zogen ist. Das heißt: was ist in diesem System drin, wie ist es gebaut, und wie ist der Zusammenhang der Beziehungen, die es zu einem bestimmten Typ von System machen? So gefaßt, kann man den Begriff des Systems verwenden, ohne Gefahr zu laufen, es als etwas zu beschreiben, das über Inputs und Outputs verfügt oder diese oder jene Qualitäten aufweist. Also ganz einfach gesprochen: ein System ist eine Unterscheidung, die mit der Intention weiterer Unterscheidungen gemacht wird.

Realität ist etwas, das mit der Kopplung eines Systems entsteht. Ich habe ver-sucht, dies in meinem Vortrag zu illustrieren. Sobald man ein System in ein Medium setzt, wird das System im Laufe seiner Geschichte bestimmte Dimensio-nen hervorbringen und gestalten, die für seine eigene Dynamik und seine eigeDimensio-nen Funktionen eine Bedeutung haben. Dieses Zusammenkommen von Relevanz, Bedeutung und der Geschichte der Kopplung, das ist Realität, oder: das ist eine Realität. So ist Realität nichts anderes als das, was während der Geschichte der strukturellen Kopplung hervorgebracht wird.

Frage (an Varela): Was würde Ihrer Ansicht nach Niklas Luhmann sagen, wenn ich ihn frage, was er von Heinz von Foersters radikalem Konstruktivismus hält?

Varela: Ich möchte mich zunächst in die Position von Herrn Luhmann versetzen und sagen, was Herrn von Foersters Konstruktivismus ist: "Ich denke, daß von Foersters Konstruktivismus in erster Linie die Wiedereinführung einer Sichtweise ist, die eine natürliche Begründung eines synthetischen und/oder analytischen a priori innerhalb der Naturwissenschaften sucht." Das war es, was Luhmann sagen würde.

Nun meine Gedanken dazu: Ich denke, daß diese synethischen oder analyti-schen apriori, die man in der Geschiche der Naturwissenschaften findet, zum Teil den Grundstock einer soziologischen Theorie ausmachen; sie reichen aber nicht

aus. Sie sind (sozusagen) noch zu sehr an einem psychischen Ort lokalisiert und müssen ihre Grundlage in der Gesamtheit der sozialen Erscheinungen finden.

Frage (an Luhmann): Was würde wohl Heinz von Foerster sagen, wenn ich ihn nach der Ethik, dem Ethikbegriff, von Varela und Maturana fragen würde?

Luhmann: Ich würde vermuten, daß sich auf der Grundlage der Nichtauseinan-dersetzung mit der ethischen Tradition, wie sie in der Philosophie vorliegt, eine rasche Übereinstimmung zwischen Herrn von Foerster und Herrn Varela herstel-len würde; auf grund einer Vereinfachung, die die Ethisierung moralischer Fragen ausblendet. Sie beide haben mit ihren Theorien gute Absichten und wissen es, sich einander zu bestätigen. Für mich entsteht dabei das Problem, wie man das in eine Form bringen kann, die auch europäische Philosophen vom Zuschnitt von Haber-mas oder so überzeugen könnte.

Es ist eine Fortsetzung des Spiels mit anderen Mitteln. Zum Beispiel ist die ganze Paradoxieproblematik ja auch eine immanente Problematik der Ethik, die in den ethischen Theorien ausgeblendet wird, insofern als keine Ethik eine Theo-rie hat, die vor Moral warnen könnte, weil gute Absichten schlechte Folgen haben könnten. Diese ganze Problematik ist in der ethischen Diskussion, die bei Kant gelaufen ist über Homogenisierung und Verschönerungen der Prinzipien ausge-blendet worden.

Die Systemtheorie an sich böte eine Möglichkeit, die Paradoxie von Ethik oder die schlimmen Folgen von Moral zu behandeln. Ich vermisse bei Herrn von Foer-ster wie bei Herrn Varela einen Zugang zu diesen Fragen, die sich nur innerhalb einer kritischen Diskussion der ethischen Theorien der Tradition ergibt. Das alles ist zunächst einmal nicht berührt, wenn man sagt, ich habe das Prinzip, mehr Möglichkeiten zu eröffnen.

Frage (an von Foerster): Was würde wohl Francisco Varela sagen, wenn ich ihn nach Herrn Luhmanns Übernahme des Autopoiesis-Begriffs fragen würde?

von Foerster: Francisco Varela würde natürlich das folgende sagen, ... nein, es würde sich eine Szene wiederholen, die ich schon einmal gesehen habe; als Hum-berto Maturana Erich Jantsch bat, nicht "Autopoiesis" für die Interpretation sozialer Phänomene zu verwenden. Die Bitte Maturanas an Jantsch war sehr dra-matisch. Es war während eines Abendessens, wir sind alle zusammengesessen und haben über die Möglichkeiten der Autopoiesis gesprochen. Jantsch war sehr geneigt, Autpoiesis für alles anzuwenden, wo irgend eine Rekursion nur vor-kommt, wo man sie nur riechen kann.2 Und Maturana sagte: "Bitte, lieber Erich Jantsch, tun Sie das nicht!" Und Jantsch sagte: "Lieber Humberto Maturana, Sie verstehen ja Autopoiesis nicht, ich weiß es besser!" Darauf hat sich Maturana vor Jantsch niedergekniet und gesagt: "Ich flehe Sie an, mir zuliebe, verwenden Sie den Begriff nicht!"

2 Anmerkung des Herausgebers:vgl. Jantsch E (11975,1982) Die Selbstorganisation des Universums.

dtv, München

98 Kreuzverhör - Fragen an Heinz von Foerster, Niklas Luhmann und Francisco Varela

Übertragen auf die Varela-Luhmann-Interpretation: Ich würde sagen, Varela würde wahrscheinlich Luhmann bitten: "Verwenden Sie den Autopoiesis-Begriff nicht in diesem Zusammenhang, da er in unseren Originalideen in ein ganz ande-res Gebiet gehört." Das ist es, was Varela sagen würde.

Frage (an von Foerster, Luhmann und Varela): Wenn man davon ausgeht, daß Familientherapeuten die Vorstellung haben, es gäbe eine Realität der Familie, wel-cher theoretische Ansatz - der eigene oder der der beiden anderen - ist am ehe-sten in der Lage, diese Vorstellung der Familientherapeuten zu zertrümmern? Bil-den Sie eine Rangfolge, welche am besten, am zweitbesten usw. geeignet ist.

Luhmann: Von mir aus gesehen, sind die Theorieansätze in diesem Punkte nahezu übereinstimmend, weil sie gemeinsam die Möglichkeit besitzen, auf eine andere Theorie Bezug zu nehmen. Und zwar denke ich an das Spencer-Brown'sche Kon-zept des "re-entry".3 Wir alle drei könnten sagen, es gibt ein re-entry der Unter-scheidung von System und Umwelt in das System, so daß in dem System selbst die Differenz von System und Umwelt, also die Aussage, es gibt eine Familie, als Aus-sage des familientherapeutischen Diskurses oder des familientherapeutischen Systems möglich ist, ohne daß man wissen muß, ob draußen wirklich eine Familie existiert. Aber zur Sicherung der internen Konsistenz der eigenen Operationen in einem geschlossenen System ist es nützlich, in dieses System als Schema der Infor-mationsgewinnung und -verarbeitung die Differenz von System und Umwelt wie-der einzuführen. Und ich vermute, daß meine Nachbarn keine großen Wiwie-der- Wider-stände zeigen würden, wenn ich vorschlage, daß wir gemeinsam mit diesem re-entry Konzept dieses Problem beantworten.

Frage: Sie harmonisieren jetzt. Ich möchte Sie also doch bitten, eine Rangfolge anzugeben, welche Theorie am ehesten geeignet ist, diese Vorstellungen zu zer-trümmern.

Luhmann: Ich muß zurückfragen. Würden Sie die Spencer-Brown'sche Taktik als eine Zertrümmerung akzeptieren? Denn davon hängt das alles ab. Ich beantworte dann nämlich die Frage im Sinne des tangled-hierarchy-Konzepts4, daß man,

3 Anmerkung des Herausgebers: G. Spencer-Brown zeigt, daß alle Erkenntnisprozesse und logische Strukturen auf Innen-Außen-Unterscheidungen zurückgeführt werden können. Der Raum, der durch irgendeine Unterscheidung geteilt ist, wird von ihm zusammen mit dem gesamten Inhalt des Raums "form" genannt. Wird nun ein Zeichen oder eine Markierung (- was selbst wiederum eine Unterscheidung ist) für die Unterscheidung in die Form eingeführt (re-entry into the form), so kann zwischen der ursprünglichen, ersten Unterscheidung und dem Zeichen nicht unterschieden werden; vgl. Spencer-Brown G (11969, 1979) Laws of Form. Dutton, New York, S. 69-76 und 102-106.

4 Anmerkung des Herausgebers: Mit "tangled hierarchy" ("verwickelte Hierachie") bezeichnet D. R.

Hofstadter ein Phänomen, welches dadurch charakterisiert ist, daß man sich Stufe für Stufe in einem hierarchischen System emporarbeitet und sich plötzlich wieder am Ausgangspunkt findet.

Die Grafiken M. C. Eschers illustrieren dieses Phänomen vielfältig. Handelt es sich um logische Hierarchien, so entstehen sogenannte "seltsame Schleifen" ("strange loops"), die Paradoxien zur Folge haben; vgl. Hofstadter DR (11979, 1985) Gödel, Escher, Bach. Ein endloses geflochtenes Band. Klett-Cotta, Stuttgart, S.12.

wenn 'man oben ist, ebenso unten wieder herauskommen könnte. Daher sage ich:

"Oben stehe natürlich ich, da ich diesen Vorschlag gemacht habe und jetzt erst mal sehen muß, ob da Verbesserungen typisch von Foersterscher Prägung oder typisch Varelascher Prägung herauskommen, so daß der der erste ist, der diese Vorschläge gemacht hat." Das würde mir dann natürlich wieder die Möglichkeit geben, on the top zu gehen, indem ich wieder etwas noch besseres finde. Aber wie gesagt, im Moment bin ich oben.

von Foerster: Da bin ich sehr froh, daß er oben ist. Da kann ich ja ruhig unten bleiben, da ich sowieso wieder oben herauskomme. Aber allen Ernstes möchte ich sagen, als Zertrümmerungsstrategie für eine Familienrealität würde ich auch die Luhmannsche Theorie nach ganz oben setzen. Sie hat die begrifflichen Hebel, um eine solche Konzeptualisierung zu zertrümmern. Ich wäre eher geneigt, mich als den schwächsten Partner in dieser Zertrümmerungsaktion zu bezeichnen. Meine Reihenfolge wäre also: Luhmann, Varela, von Foerster.

Varela: Ich möchte die Frage damit beantworten, daß wir alle drei auf einem unmöglichen Niveau sind, das weit unterhalb einer jeden Hierarchie liegt. Ich denke, wir sind noch weit unter dem Fußboden. Damit will ich sagen, daß wir noch gar keine Theorie besitzen. Es gibt eine Menge von Hoffnung, eine Menge Untersuchungen, aber ich denke nicht, daß bis jetzt jemand wirklich hätte belegen können, daß sich aus irgend einer unserer konzeptuellen Entwicklungen relevante Unterschiede ergeben würden. Ein echter Unterschied wäre für mich die Einfüh-rung eines neuen Verständnisses dessen, was ein soziales System ist; und zwar im Blick auf den praktischen Umgang, sei es nun in der Familientherapie oder in einem Management-Konzept oder was immer Sie wollen.

Der Grund, den ich dafür sehe, ist das Prinzip des "observer in - system out". 5 Was ich damit sagen will ist, daß man immer, wenn man ein operational geschlos-senes System wie z. B. das Nervensystem studiert, auf das Phänomen des Eigen-verhaltens oder der internen Kohärenzen und das Hervorbringen einer Welt stößt.

Unsere Werkzeuge, die wir für unsere Arbeit mit derartigen Phänomenen verwen-den, bestehen in erster Linie in der Klassifikation dieser Eigenverhalten. Sobald man aber Teil des Systems ist - und das ist man, wenn man es mit menschlichen Systemen zu tun hat -, kann man nicht mehr selbst außerhalb des Systems stehen.

Meine Hypothese ist deshalb, daß man dann nicht länger solche Kohärenzen, sol-che Eigenverhalten klassifizieren kann. Die Zahl der möglisol-chen Eigenverhalten explodiert buchstäblich, so daß sie die Rechenkapazität eines jeden Computers übersteigt. Daher wird das Werkzeug der Klassifikation vollständig unnütz. Man ist ähnlich dem, was man in der Evolution der Spezies findet, mit einer enormen Variationsbreite, die nicht mehr klassifizierbar ist, konfrontiert. Es ist nicht der Fall, daß ein Elefant oder eine Ameise ein Eigenverhalten einer fixierten

dynami-5 Anmerkung des Herausgebers: Leider ist es im Deutschen schwer, eine Übersetzung zu finden, die den Sachverhalt mit gleicher sprachlicher Prägnanz und Kürze wiedergibt. Am ehesten scheinen Formulierungen wie "Beobachter drinnen System verschwunden" oder "Beobachter rein -System raus" zu passen, womit gesagt sein soll, daß ein Beobachter ein -System stets nur aus der Außenperspektive konstruieren kann.

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schen Landschaft ist. Sie sind lediglich einige von vielen Wegen, die durch die Evolution führen. Die auftretende Vielfalt ist nicht mehr klassifizierbar.

Das ist es, was ich mit "observer in - system out" meine, weil in dem Moment, in dem man Beobachter wird, das System zu einem Phantasma wird. Das soll nicht heißen, daß unsere Konzepte über das, was Systeme sein können, und was operationelle Geschlossenheit bewirken kann, unnütz sind. Sie geben uns zumin-desten ein Gespür dafür, wo sie nicht mehr taugen, an welchem Punkt wir genötigt sind, mit einer neuen Art von Werkzeug zu arbeiten, das sich nicht mehr auf die Klassifikation von Eigenverhalten konzentriert, sondern statt dessen auf die Natur der Kopplung. Dies ist die Schnittstelle, die all diese unendlich variablen Realitä-ten entstehen läßt. Und wenn wir die Dimension der Kopplung verstehen werden, dann werden wir zumindest ein Werkzeug haben, das uns Möglichkeiten eröffnet.

Ein Beispiel: Nehmen wir den Fall eines Unternehmens. Flores und Wino-grad6 entdeckten, daß bereits bei Verwendung nur weniger Dimensionen von Kopplung, den Sprechakten der Bekanntmachung, der Aufforderung und des Ver-sprechens, die Vielfalt eines Büros hergestellt werden kann. Indem man sich mit der Natur der Kopplung beschäftigt, kann man ein differenziertes Verständnis dafür gewinnen, wie neue Möglichkeiten eröffnet werden können. Es ist nicht der Versuch zu verstehen, was ein Büro als ein System ist. Sie sehen die Differenz. Es ist nicht die systematische Thematisierung' dessen, was ein Büro ist, sondern das Verstehen der Natur der Kopplung, die all die unendlichen Möglichkeiten des Verhaltens erzeugt.

Ich vermute, daß die Suche nach der Logik, sagen wir einer schizophrenen oder einer anorektischen Familie, zum Mißlingen verurteilt ist. Was hingegen wirklich helfen würde, wäre das Verständnis der Basisdimensionen von Kopplung, die all diese kollektiven Realitäten entstehen lassen.

In dem Fallbeispiel der Videoaufzeichnung, die wir sahen, wurde in der Inter-vention mit einer bestimmten' Art der Interaktion, der linguistischen, gearbeitet.

Aber es gibt eine Menge anderer Formen von Kopplung wie z. B. Körperinterak-tion, die sicher bis zu einem gewissen Grad auch analysiert wurden. Ich konnte da dieses dünne, fragile, kleine Kind sehen, das zwischen zwei sehr fetten Eltern saß.

Dies sprach zu mir viel deutlicher über den gemeinschaftlichen Körper der Fami-lie als irgend etwas, das gesagt worden ist. Ich will damit nicht sagen, daß ich die Antwort hätte. Aber ich denke, daß Forschung zum Verstehen der grundsätzlichen Dimensionen, die eine Kopplung entstehen lassen, notwendig ist. Eine solche For-schung ist den Versuchen, mögliches Eigenverhalten zu klassifizieren, vorzuziehen.

In diesem Sinne, um noch einmal kurz das Prinzip "observer in - system out"

zusammenzufassen, möchte ich sagen, daß keiner von uns in eine Hierarchie gestellt werden kann, denn wir haben noch gar nicht den Punkt erreicht, wo wir miteinander verglichen werden könnten.

Frage: Daraus leitet sich direkt die Frage nach der Ethik ab. Es geht darum, daß man fragt, was machen diese Ansichten mit demjenigen, der sie vertritt. Oder noch

6 Winograd T, Flores F (1986) Understandig Computers and Cognition. Ablex Publishing Corpora-tion, Norwood.

anders gefragt: Geschieht nicht vor dem konstruktivistischen Denken etwas, das mich überhaupt veranlaßt, den Konstruktivismus für mich als Theorie zu akzeptie-ren? Der Hinweis darauf, daß es erforderlich ist, die Verantwortung für unsere Konstruktionen zu übernehmen, wenn wir die Welt als konstruiert erleben, ist mir nicht genug. Ich meine nämlich, daß ich, bevor ich zum konstruktivistischen Den-ken komme, ganz bestimmte ethisch-moralische Entscheidungen gefällt habe. Sie kommen aus meinem Lebenszusammenhang und meinen politischen Überzeu-gungen, die mich dahin lenken, jetzt diesen ganz radikalen Sprung vorzunehmen.

Wenn ich das tue, so ist das für mich eine ethisch-moralische Entscheidung, die für meine Begriffe ganz gewaltige Implikationen hat. Für mich hat das konstrukti-vistische Denken ein ungeheures revolutionäres Potential. Die Frage ist also:

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie die Individuen als Personen an ihr Denken gekommen sind; wie Sie selbst als Individuen an Ihr Denken gekommen sind. Ich selbst sehe das mehr in einem biografischen, lebensgeschichtlichen Zusammen-hang.

Luhmann: Ich will zunächst einmal sagen, daß die biografisch-motivationale Seite

Luhmann: Ich will zunächst einmal sagen, daß die biografisch-motivationale Seite