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H.STIERLIN

Realitätskonstruktionen und Muster

In der Entwicklung der systemischen Therapie während der letzten Jahrzehnte las-sen sich zwei Prozesse unterscheiden: Einmal ein Prozeß des Angeregtwerdens durch, der Aneignung von und der Auseinandersetzung mit Modellen und Theo-rien, die gleichsam der wissenschaftliche und philosophische Zeitgeist anlieferte.

Dazu rechnen etwa Modelle aus dem Bereich der Kybernetik, der allgemeinen Systemtheorie, der Informations-, Kommunikations- und Spieltheorie, aber auch des radikalen Konstruktivismus. Zum anderen ein Prozeß des Lernens in der Pra-xis. Darin wurden die genannten Modelle immer wieder auf ihre therapeutische Relevanz überprüft und, falls notwendig, modifiziert. Dieser Prozeß führte und führt zu Ansätzen einer Theorie der systemischen Therapie, die uns im folgenden beschäftigen soll. Beide Prozesse verweben sich, wie gerade dieses Symposium zeigt. Dennoch scheint eine gesonderte Darstellung sinnvoll.

Um Gesichtspunkte für die Praxis der systemischen Therapie zu gewinnen, läßt sich von dem ausgehen, was Fritz Simon in seiner Einleitung beschrieb: Mit-glieder menschlicher Systeme beheimaten sich jeweils in bestimmten Wirklich-keitskonstruktionen. In diesen Konstruktionen spiegeln sich Vorannahmen - oder wenn man will: Ideen - darüber wider, wie man sich verhalten soll (z. B. so, daß man sich nicht mehr gönnt als die anderen, daß man niemanden all eine zurück-läßt, daß man sich nicht scheiden lassen darf etc.), ob und wie man sich zu bestimmten Aufgaben, Lernerfahrungen, Lebensmöglichkeiten (z. B. alleine zu leben, ein Studium einzuschlagen, sich zu verlieben etc.) befähigt und berechtigt fühlt, ob und wie man sich zukünftige Entwicklungen vorstellt oder nicht vorstellt, ob und wie man sich selbst als Zentrum eigener Initiative und sich (für eigenes Verhalten und selbst für eigene Symptome) verantwortlich erlebt, wie man Kausal-zusammenhänge konstruiert und damit möglicherweise sich selbst und andere mit Schuld be- oder von Schuld entlastet.

Solche Ideen sind gleichsam die Aufhänger (oder Pfeiler) der jeweiligen Reali-tätskonstruktionen oder, wenn man will: der inneren Landkarten. Diese Konstruk-tionen gehen wieder mit bestimmten Mustern der InterakKonstruk-tionen einher, die - so zeigt es sich zumindest dem Außenstehenden - nach Regeln ablaufen. Diese

regel-1 Die hier referierten Prinzipien' wurden in der alltäglichen Praxis unseres Heidelberger Teams (G. Schmidt, F. B. Simon, H. Stierlin, G. Weber) in den letzten Jahren entwickelt und erprobt.

Wesentliche Anregungen verdanken wir dabei dem Mailänder Team, insbesondere G. Cecchin und L. Boscolo, mit denen wir in dieser Zeit in einem regelmäßigem Austausch standen.

haften Muster wirken wieder auf die Realitätskonstruktion zurück. Man kann sagen: Muster und Realitätskonstruktionen bedingen/bestätigen/erhalten sich in einem rekursiven Prozeß.

In diesem Prozeß lassen sich im einzelnen unterscheiden (wenn auch in der Beobachter-Praxis oft nur schwer voneinander trennen):2

1. Die Realitätskonstruktionen bzw. Landkarten der einzelnen Familienmitglieder.

Sie begründen jeweils eine bestimmte individuelle Motivationsdynamik.

2. Die Realitätskonstruktionen bzw. Landkarten, die von den Mitgliedern eines Systems geteilt werden. Wir sprechen auch von der Landkarte, Ideologie, dem Paradigma oder Codex einer Familie oder eines Paares.

3. Die Verhaltensmuster einzelner Mitglieder, die sich als Ausdruck und Folge ihrer individuellen Motivationsdynamik beschreiben lassen.

4. Die Muster der Interaktion innerhalb des Systems. Hier sprechen wir auch von der interpersonellen oder interaktionellen Dynamik.

Allerdings: es hängt weitgehend vom Beobachter ab, welche dieser Perspektiven er hervorhebt oder als relevant erachtet.

Das Zusammenspiel der genannten Wirklichkeitskonstruktionen und Muster bringt sich in der jeweiligen Beziehungsrealität, genauer: der jeweils von den Systemmitgliedern konstruierten und gestalteten Realität zum Ausdruck. Diese läßt sich dann von einem außenstehenden Beobachter als eher hart oder eher weich beschreiben.

Verschiedene Beziehungsrealitäten

Im ersten Fall zeigen sich Ideen und Muster von oft extremer Starre. Sie scheinen von den einzelnen Mitgliedern wie auch der ganzen Familie Besitz ergriffen zu haben. Es besteht nur wenig oder kein Spielraum für Austausch und Verhandlung sowie für jene Veränderungen und Entwicklungen, die im Rahmen des Lebens-zyklus eines einzelnen oder einer Familie immer wieder fällig werden. Es besteht auch wenig oder kein Spielraum für ein Hinterfragen der Ideen und Muster und somit wenig oder kein Spielraum für ein Verhalten, in dem sich der einzelne zugleich autonom - also initiativereich und eigenverantwortlich - und zugleich abhängig von und verbunden mit den anderen Mitgliedern des Systems zu erleben vermag - ein Verhalten, das sich als Ausdruck und Folge einer fortschreitenden

"bezogenen Individuation" bzw. einer Ko-Individuation und Ko-Evolution verste-hen läßt.

Im anderen Falle - dem einer zu weichen Realität - erweisen sich die (offen oder verdeckt) kommunizierten Ideen, die Handeln anleiten und Erwartungen prägen, als wenig verbindlich und verläßlich, eben als weich. Somit läßt sich nur schwer oder überhaupt nicht eine Einigung darüber erzielen, welche Werte und Abmachungen gelten und mit welchem Verhalten zu rechnen ist. Hier scheint

2 in Anlehnung an das didaktische Schema bei: Weber G, Schmidt B (1986) Systemische Therapie.

In: Schmidt B (Hrsg) Systemische Transaktionsanalyse. Typoskript. Auch bei der Darstellung der praktisch-therapeutischen Methodik hat dieses Paper zum Teil als Vorlage gedient.

56 Prinzipien der systemischen Therapie

dann im Extremfall nur die Regel zu gelten, daß keine Regel gilt. Auch hier fehlt die Basis für eine fortschreitende bezogene Individuation und stagniert somit ebenfalls die Entwicklung. Denn es fehlen jene klaren, von allen Mitgliedern geteilten Fixpunkte des Verständnisses, Definitionen und Abmachungen, die erlauben würden, sich vom anderen abzugrenzen, eigene Ziele und Werte zu defi-nieren und damit - bei sich selbst und anderen - neue Entwicklungen in Gang zu setzen.

Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen

Fragen wir nun nach den Folgerungen, die sich aus dem Gesagten für die thera-peutische Praxis ergeben, so bleibt zunächst festzuhalten : Der Therapeut/Intervie-wer ist als Beobachter und Intervenierender stets auch Teilhaber und Mitkonstruk-teur der jeweiligen Beziehungswirklichkeit. Er kann sich nicht anmaßen, im Besitz der richtigen oder einzig guten Lösung für einen Klienten oder die Familie zu sein.

Dennoch darf/muß er es als seinen Auftrag ansehen, etwas zu verändern.

Dabei läßt er sich zum einen von dem leiten, was einzelne oder alle Mitglieder des Systems als ihre Beschwerde, ihr Problem definieren, zum anderen von dem, was sich ihm im Lichte seiner Erfahrung als Ausdruck und Folge problematischer Wirklichkeitskonstruktionen und Muster zeigt. Somit versucht er, Veränderungen anzuregen, indem er die von ihm als dysfunktional gesehenen Muster oder als ein-schränkend gesehenen Ideen "stört" und Ideen und Perspektiven einführt, die neue Optionen schaffen, neue Entwicklungen in Gang setzen und individuell und systemweit den Spielraum der Freiheit erweitern könnten. Somit hilft er dem System, sich in neuer Weise zu organisieren. Dabei zeigen sich die jeweiligen Wirklichkeitskonstruktionen und Interaktionsmuster nicht nur als Quelle von Stö-rungen, Blockaden der Entwicklungen und Symptombildungen, sondern auch als Ressourcen. Die Frage ist dann stets: Wie lassen sich diese therapeutisch nutzen?

Gelingt solche Nutzung, lassen sich häufig durch vergleichsweise geringfügige Anstöße schnelle und diskontinuierliche Veränderungen bewirken.

Fragen wir nun, wo jeweils eine Intervention anzusetzen hat, dann lassen sich im Lichte des eben Gesagten vier miteinander vernetzte Bereiche unterscheiden:

die inneren "Landkarten" einzelner Mitglieder, die "Familienideologie", die indi-viduellen und die interaktionellen Verhaltensmuster. Teilen etwa die Mitglieder einer Familie die Überzeugung, "das Leben ist ein Kampf, in dem man aufpassen muß, nicht die Kontrolle zu verlieren", so zeigt sich das, wenn auch auf unter-schiedliche Weise, in allen vier genannten Bereichen. Systemische Interventionen können dann etwa darauf abzielen in Abstimmung auf die innere Landkarte ein-zelner Mitglieder, deren Motivationsdynamik anzusprechen. Beispielsweise kann man einen Jugendlichen herausfordern, dem Therapeuten durch sein verändertes Verhalten zu beweisen, daß dessen skeptische Zukunftsperspektive nicht berech-tigt ist (dabei ließe sich zugleich die Kampfideologie des Jugendlichen therapeu-tisch nutzen). Oder man könnte eine ähnliche Herausforderung an die ganze Familie richten und damit deren Kampfideologie nutzen. Oder der Therapeut kann durch das Stellen einer Aufgabe oder die Verschreibung eines Rituals an

einem individuellen Verhaltens- oder einem bestimmten Interaktionsmuster "rüt-teln" (z. B indem er den Partnern einmal in der Woche ein aggressiv-kämpferisches Verhalten verschreibt, wenn diesen gar nicht nach Kampf und Sich-durchsetzen zumute ist). Oder, vielleicht am besten: Er kann durch eine Kombination von Umdeutung, Herausforderung und Verhaltensverschreibung an allen vier Ansatz-punkten - der individuellen und kollektiven Landkarte, dem individuellen und interaktionellen Verhaltensmuster - Veränderungen zu bewirken suchen.

Insgesamt lassen sich dabei drei für Exploration und Intervention wichtige Beziehungsfelder unterscheiden:

1. Das Feld des Klientensystems, also etwa einer Familie oder eines Paares.

2. Das Feld der unmittelbaren Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten 3. Das weitere Umfeld der Therapie, zu dem etwa überweisende Ärzte,

Institutio-nen, Einzeltherapeuten, Sozialarbeiter etc. gehören.

Nehmen wir also wieder an, das zentrale, die jeweiligen Landkarten prägende und musterbestimmende Thema sei der Überlebenskampf um Kontrolle der Bezie-hung. Dieses Thema wird sich nun nicht nur innerhalb der Familie widerspiegeln, sondern auch in der Weise zeigen, wie die Mitglieder mit dem Therapeuten um die

"richtige" Vorgehensweise oder Interpretation kämpfen. Und es wird möglicher-weise auch in ein Szenarium einfließen, worin die Therapeuten, falls sie nicht auf der Hut sind, mit anderen Betreuern wie Einzeltherapeuten, Hausärzten etc. -um die "richtige" Therapie konkurrieren.

Doch weiter: Hat z. B. eine überweisende Sozialarbeiterin seit Jahren mit der Mutter der Familie einen regelmäßigen und intensiven Kontakt wegen eines "Pro-blemkindes", müssen wir uns fragen, welche Folgen es für diese Beziehung hätte, wenn das Problem des Kindes nach wenigen Gesprächen verschwände.

Fragen, die sich der Therapeut zu stellen hat

Mit den obigen Überlegungen vor Augen, treten wir als Therapeuten an ein System (eine Familie, ein Paar etc.) mit folgenden Fragen heran:

1. Wer gehört zum Problemsystem ?

Definieren wir ein System als eine aus Elementen gebildete geordnete "Ganzheit", dann haben wir uns als Interviewer und Therapeuten zunächst zu fragen, was jeweils als behandlungsrelevante Ganzheit zu sehen ist bzw. wo die Grenzen des Behandlungs- bzw. Interventionsfeldes zu ziehen sind. Wir haben somit zu fragen:

Wer gehört zu dem System, in dem ein Problem erlebt wird, bzw. wer gestaltet das Problem mit? Als Problemmitgestalter kommen etwa in Frage: Eltern, Kinder, Großeltern, Hausärzte, Sozialarbeiter, Lehrer, Rechtsanwälte etc. Sie alle bei den Sitzungen dabei zu haben, ist jedoch weder sinnvoll noch möglich; wir müssen sie aber in unsere therapeutische Überlegungen und Interventionen miteinbeziehen.

Sind Mitglieder der helfenden Berufe dem Problemsystem zuzurechnen, müssen wir uns insbesondere fragen, welche Erwartungen, Ziele, Krankheitsmodelle etc.

sie einzelnen oder allen Mitgliedern des Systems offen oder verdeckt vermittelt haben.

58 Prinzipien der systemischen Therapie

2. Wie wird das Problem von den Betroffenen definiert, welche Erwartungen haben sie?

Nicht weniger wichtiger als unsere Sicht des Problems und Problemfeldes ist die der Systemmitglieder selbst. Oft zeigt sich: deren Problemdefinition, Erwartungen und Motivation für gemeinsame Gespräche sind häufig unterschiedlich (der eine Partner etwa möchte die Ehe retten, der/die andere erhofft sich dadurch Schüt-zenhilfe für eine Scheidung) und/oder unklar. Die möglichst frühe Klärung dieser Fragen des Behandlungskontextes zeigt sich somit als ein wichtiger - vielleicht der wichtigste, weil die folgende Entwicklung am meisten beeinflussende - Teil der therapeutischen Intervention.

3. Wie kann ich als Therapeut Neutralität wahren?

Gerade weil wir davon auszugehen haben, daß die Systemmitglieder unterschied-lich zu Gesprächen motiviert sind, unterschiedunterschied-liche Erwartungen hegen und unterschiedliche Ziele verfolgen, für die sie (offen oder verdeckt) den Beistand des Therapeuten suchen, stellt sich diesem immer wieder die Aufgabe, sich neutral zu verhalten. Er muß daher seine Interventionen so anzusetzen und seine Fragen so zu stellen suchen, daß die Betroffenen daraus keine Parteinahme für oder gegen ein Mitglied oder Subsystem ablesen können.

4. Wie kann ich als Therapeut möglichst schnell eine tragende Beziehung zu allen Mitgliedern des Systems herstellen?

Die Wirksamkeit all unserer Interventionen hängt letztlich davon ab, ob und wie es gelingt, solch tragende Beziehung zu realisieren. Nach unserer Erfahrung wer-den hier von seiten des Therapeuten vor allem drei Dinge verlangt:

1. Dessen Neutralität, wie eben beschrieben.

2. Dessen Fähigkeit und Bereitschaft, den Mitgliedern zu vermitteln, daß ihre wesentlichen Probleme erkannt und in einer Weise angesprochen werden, die . neu ist, eine Herausforderung darstellt und von Angst, Scham und Schuld

befreit.

3. Zur Erreichung dieses Zieles die möglichst positive Konnotation der von der Familie gezeigten Wirldichkeitskonstruktion und Muster. (Von dieser wie auch den meisten anderen Regeln gibt es Ausnahmen: z. B. wenn sich in einer Fami-lie ein lang geübtes positives Konnotieren als Teil eines problematischen Musters zeigt).

5. Wie vermag ich als Therapeut, sowohl Teil des Systems als auch Außenstehender zu sein?

In unserem Verständnis wird ein Interviewer, der ein System beobachtet und mit diesem kommuniziert, selbst - mehr oder weniger - Teil dieses Systems. Damit droht ihm jedoch der Verlust des Überblicks sowie der Möglichkeit, von einer Außenposition her effektiv im System zu intervenieren. Bleibt er andererseits zu sehr außerhalb des Systems, schränken sich seine Möglichkeiten, Informationen zu gewinnen und effektiv zu intervenieren, ebenfalls ein. Die jeweils angemessene Balance zwischen Teilhabe und Abstand zu finden bzw. wiederzufinden, gestaltet sich in der systemischen Therapie sowohl besonders schwierig als auch wichtig.

Ko-Therapie, Teamarbeit sowie die Nutzung von Einwegscheibe und Video auf-zeichnung erweisen sich hier hilfreich.

6. Wie lassen sich Eigenschaften und Verhaltenssequenzen " verflüssigen H?

Wir versuchen eine Sicht zu vermitteln, worin nicht isolierte Phänomene, sondern Wechselbeziehungen hervortreten. Damit steuern wir haufig sowohl dem her-kömmlichen Sprachgebrauch wie auch den von den Familienmitgliedern benütz-ten Etikettierungen entgegen. Individuelle Eigenschafbenütz-ten (sich z. B. in einem Sprachgebrauch wie "Franz ist egoistisch", "Mutter ist unterwürfig", "Vater ist dominierend" etc. ausdrückend) verflüssigen sich nunmehr gleichsam in Bezie-hungsdynamik. Sie zeigen sich jetzt als Verhaltensbeiträge zur Organisation eines Systems wie auch als Ausdruck und Folge bestimmter Etikettierungen bzw.

Zuschreibungen. Also: "Franz' Egoismus", systemisch neu bedacht und formu-liert, könnte bedeuten: "Wenn Franz durch immer neue Forderungen Kontakt mit dem Vater herstellt, werfen ihm die Frauen in der Familie Egoismus vor".

7. Wie läßt sich Gegenwart und Zukunft zu ihrem Recht verhelfen?

Es geht eher darum, Optionen in der Gegenwart und Zukunft zu eröffnen als einen "Kampf um die Erinnerung" zu ermöglichen oder zu begleiten. Beschäfti-gung mit der Vergangenheit bedeutet häufig Suche nach Ursachen und, damit ein-hergehend, oft Suche nach Schuld. Unser Ziel bleibt auch hier, den häufig unan-gemessenen und festgefahrenen einseitigen Ursache-Wirkungs-Vorstellungen ent-gegenzuwirken und den sich damit verbindenden - und sich nicht selten tragisch auswirkenden - Schuldzuweisungen den Boden zu entziehen. (Das griechische Aitia bedeutet ursprünglich sowohl Ursache als auch Schuld. Gerade in den modemen Wissenschaften zeigt sich der Begriff Ursache zunehmend als proble-matisch, wenn nicht gar unwissenschaftlich).3

8. Welches sind die wesentlichen, neue Lösungen verhindernden Muster und wie läßt sich darin intervenieren?

Ein einfaches in einer Paarbeziehung auftretendes Muster wäre etwa das der nör-gelnden Frau und des sich zurückziehenden Mannes: Je mehr sie nörgelt, umso mehr zieht er sich zurück, umso mehr nörgelt sie, umso mehr zieht er sich zurück usw., wobei sich die Partner wiederum als Gefangene eines eingleisigen Ursache-Wirkungs-Verständnisses nach dem Schema: ich verhalte mich so, weil der andere ... zeigen. Hier bestätigen sich dann die Wahrnehmungen gegenseitig in einem rekursiven Prozeß. Andere Muster sind komplizierter und schließen mehr als zwei Personen ein. In jedem Falle ergibt sich dem Therapeuten als Konsequenz, die jeweils mit Symptomen verbundenen Muster möglichst rasch zu erkennen und möglichst ebenso rasch und effektiv zu beeinflussen. Die klinische Erfahrung zeigt, daß dies am ehesten gelingt, wenn man entweder das Muster verschreibt, dabei aber seine Bedeutung verändert oder die Aufgabe stellt, das Muster gerade dann zu produzieren, wenn einem am wenigsten danach zumute ist. (Sich etwa zumindest einmal die Woche abweisend zu zeigen, wenn man sich dem Partner

3 vgl. Simon FB (1987) Unterschiede, die Unterschiede machen. Springer, Heidelberg

60 Prinzipien der systemischen Therapie

eher freundschaftlich verbunden fühlt. Der Partner bekommt dann eine entspre-chende Aufgabe. Beiden Partnern wird weiter aufgetragen, das "So-tun-als-ob-Verhalten" des anderen zu registrieren und, ohne dies dem anderen mitzuteilen, für einen späteren Bericht an den Therapeuten zu vermerken).

9. Wie lassen sich Regeln erkennen und verändern?

Es lassen sich zwei Arten von Regeln unterscheiden: Einmal Anleitungen zum Verhalten, deren sich die Akteure in einem System bewußt sind. Zum anderen Regeln der Interaktion, die ein außenstehender Beobachter auf Grund der von ihm wahrgenommenen Handlungssequenzen erschließt. Beide Arten von Regeln sind nicht notwendigerweise identisch. Als jemand, der zwar zum Teil des Systems wird, aber auch immer wieder um eine Außenperspektive bemüht ist, nimmt der Interviewer als Beobachter zunächst die letztgenannten Regeln wahr.

Wo regelhaftes Verhalten zu beobachten ist, liegt es nahe, von einem Spiel zu sprechen. So wie das Verhalten von Fußballspielern auf dem Fußballplatz erst durch die Kenntnis der Regeln einen Sinn ergibt, denen das Verhalten der Spieler unterliegt, gibt auch das als neurotisch, anorektisch, psychotisch, psychosomatisch und wie auch immer etikettierte Verhalten in einer Familie einen Sinn, wenn man es als regelunterworfen versteht. Es läßt sich auch hier sinnvoll von Spiel-Regeln und dementsprechend von einem in der Familie (bzw. sonstigem sozialen System) ablaufenden Spiel sprechen. Allerdings muß man hier den Begriff "Spiel" nicht im Sinne von unernst und spielerisch, sondern in einem wertfreien bzw. in dem Sinn, daß durch die Menge der Verhaltensregeln die Interaktion beschreibbar ist, ver-wenden. Auf einem großen Kongreß der American Association of Marital and Family Therapy in New York im Oktober 1985 sprach Frau Selvini Palazzoli dem-entsprechend von typischen schizophrenen Familienspielen, von denen sie inzwi-schen etwa ein Dutzend identifiziert zu haben meint.4 Machen wir uns solche Sicht zu eigen, ergibt sich als therapeutische Konsequenz, das schizophrene - oder genauer: das mit schizophrener Symptomatik einhergehende - Spiel in ein ver-gleichsweise harmloseres Spiel, d. h. in ein Spiel mit anderen Regeln zu verwan-deln.

10. Wie lassen sich Eigeninitiative und Eigenverantwortung aktivieren?

Während wir Landkarten, Muster und Regeln zu erkennen bzw. anhand von Interaktionssequenzen zu erfragen suchen, versuchen wir stets auch - und dies nicht zuletzt durch die Weise, wie wir unsere Fragen stellen - die Verantwortung für eigenes (und damit letztlich auch für eigenes symptomatisches) Verhalten zu aktivieren. Wir huldigen also keinem mechanistischen Systempurismus, der Eigen-motivation und Eigenverantwortung ausklammert. Im Gegenteil: die Erwartung und das Ansprechen von Eigenverantwortung sind Teil unseres systemischen Vor-gehens. So fragen wir bei einer Familie mit einer anorektischen Tochter nicht etwa: "Wann bekam Maria ihre Anorexie?", sondern: "Wann entschloß sich Maria das erste Mal, in den Hungerstreik zu treten?" Oder wir formulieren in

4 Selvini Palazzoli M (1986) Towards a general model ofpsychotic games. J. Marit. Farn. Therap. 12, 339-349.

einer Familie, in der beim Indexpatient eine Depression diagnostiziert wurde:

"Seit der Scheidung seiner Eltern bringt sich Otto häufig durch Selbstvorwürfe in eine hoffnungslose Stimmung. Er zeigt sich dann der Mutter gegenüber fürsorge-bedürftig, insbesondere an den Wochenenden, die die Mutter alleine zuhause ver-bringt", usw.

11. Wie lassen sich neue Ideen/Bedeutungen einfUhren, die einen Unterschied machen?

Ideen bzw. Bedeutungsgebungen sind die Aufhänger/Bausteine/Pfeiler unserer

Ideen bzw. Bedeutungsgebungen sind die Aufhänger/Bausteine/Pfeiler unserer