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F.J. VARELA

Ich bin heute einzig und allein aus der leidenschaftlichen Überzeugung heraus hierher gekommen, daß wir unsere Erkenntnismodelle, unser Verständnis der Funktionsweise des Gehirns, aus wissenschaftlicher Perspektive neu überprüfen müssen. In den letzten 15 Jahren habe ich mich an Forschung und Denken auf diesem Gebiet beteiligt. Ich möchte Ihnen heute weniger die Ergebnisse präsentie-ren, sondern vorrangig meine Vision von der weiteren Entwicklung dieser For-schung vermitteln. Diese Jahre der ForFor-schung haben in mir den Glauben wach-sen laswach-sen, daß die zukünftige Entwicklung auf vernünftigen wiswach-senschaftlichen Grundlagen aufbauen kann, aber die technischen Details dessen, was ich sagen möchte, würden den zeitlichen Rahmen hier sprengen.

Wenn ich im folgenden von einer Neu-Betrachtung unserer Erkenntnisgrund-lagen spreche, werde ich besonders auf die Wahrnehmung eingehen. Wahrneh-mung ist für viele von Ihnen möglicherweise ein abstrakter Begriff. Tatsächlich verstehe ich darunter eine sehr konkrete Erfahrung. Wissenschaftliche Forschung kann sich mit sehr abstrakten Ideen aus einanders etzen, z. B. mit Elementarteil-chen, weit entfernten Galaxien, der Physiologie der Leber oder was auch immer.

Mein Interesse hat sich jedoch auf die wesentlich einfachere, doch zugleich pro-funde Frage konzentriert, wie es kommt, daß Sie und ich die Welt auf die Art und Weise wahrnehmen, wie wir es tun, nämlich' daß hier ein Podium ist, daß Sie gera-de einer Stimme zuhören, daß Sie Farben unterscheigera-den und Formen benennen können. Diese Dinge, die wir in unserem gewöhnlichen, alltäglichen Erleben für selbstverständlich halten, sind in Wirklichkeit außerordentlich schwer zu verste-hen und haben sich über Jahre hinweg als wunder Punkt der Wissenschaft erwie-sen. Niemand muß Ihnen erklären, was es bedeutet, zu sehen, zu gehen, zu hören.

Aber wenn Sie versuchen, diese Mechanismen zu verstehen, erweisen sie sich als sehr tiefgründig.

Um meine Position darzustellen, muß ich zunächst einen Kontrast aufweisen.

Und dieser Kontrast befindet sich innerhalb des - wie ich es nennen möchte - do-minanten oder vorherrschenden Forschungsparadigmas der kognitiven Wissen-schaften, insbesondere der Neurowissenschaften (d.h. Gehirnforschung). Das ge-genwärtige Paradigma der kognitiven Wissenschaften, einschließlich der Wahr-nehmungsforschung, ist eigentlich relativ leicht zu charakterisieren: es basiert auf

1 Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Klingenspor. Die hier dargestellten Ideen sind mit ei-nigen Varianten bereits in der japanischen Ausgabe des Kongreßbandes "Technology and Tradi-tion in TransiTradi-tion", Kyoto 1986, publiziert worden.

der Vorstellung der Informationsverarbeitung. Der Grundgedanke dabei ist der, daß es eine Welt gibt, eine reale Welt, mit Objekten, die Merkmale aufweisen, und daß solche Merkmale Basisinformationen für das Nervensystem sind. Wahrneh-mung ist daher ein Prozeß, durch den Objekte und deren Eigenschaften auf eine Art und Weise abgebildet oder repräsentiert werden, die uns ein adäquates Verhal-ten erlaubt. Das Paradigma, das den kognitiven WissenschafVerhal-ten und den Neuro-wissenschaften zugrundeliegt, basiert auf einem fundamentalen Grundgedanken:

die Vorstellung der Repräsentation, - Erkenntnis ist eine, wie hoch auch immer entwickelte Form der Abbildung der Natur. Die Beschreibung des Forschungspro-gramms der kognitiven und der Neurowissenschaften als Informationsverarbei-tung wird sich für viele von Ihnen sehr normal, ja sehr vertraut anhören. In der Tat hat sich diese Idee der Informationsverarbeitung mittlerweile zu einer alltäglichen Vorstellung entwickelt, und wir können in der Zeitung darüber lesen. Sie be-herrscht unseren gesunden Menschenverstand so sehr, daß Menschen auf die Fra-ge: "Wissen wir wirklich, was Information ist?" antworten: "Das ist nur Philoso-phie!" Derartige Fragen über das Fundament, auf dem dieses Paradigma der Neurowissenschaften ruht, zu stellen, wird in der Regel als bloßer philosophischer Zeitvertreib aufgefaßt. Aber ich hoffe, Sie davon überzeugen zu können, daß dem nicht so ist. Um Ihnen eine visuelle Vorstellung dessen zu vermitteln, was ich mit Informationsverarbeitungsprozessen, die auf Repräsentation gründen, meine, möchte ich Ihnen Abb.1 zeigen.

Es ist ein witziger Cartoon des Ansatzes, den wir gerade diskutieren; eine Dar-stellung Cäsars und seines Gehirns, wobei Cäsar gerade sein Lieblingssymbol, ei-nen Adler, betrachtet. Entsprechend dem momentan vorherrschenden Modell der Erkenntnis wird der Wahrnehmungsprozeß in etwa folgendermaßen ablaufen: Zu-nächst ist dort ein Objekt - in diesem Fall ein Adler - mit einigen Merkmalen und Qualitäten, die in eine Art von sensorischem Apparat eingehen. In unserem Bei-spiel wird dieser natürlich durch das Auge als Kamera verkörpert, das Eindrücke auf ~iner Art Film - hier den Nerven - hinterläßt, die dann irgendwie verarbeitet werden. Innerhalb der mutmaßlichen Region des visuellen Cortex im hinteren Teil des Gehirns sehen Sie einen kleinen Mann, der gerade das Bild betrachtet und es dabei auf einen anderen kleinen Mann projiziert, welcher sagt: "Aha! Das ist ein Adler!" Dieser kann dann auf die richtigen Knöpfe drücken und das Wort

"Adler" kommt heraus. Die Idee dabei ist also - auch wenn ich zugeben muß, sie in nicht ganz ernstzunehmender Weise vorzutragen - daß Wahrnehmung aus In-put, Verarbeitung und Output besteht.

Nun, meine Damen und Herren, zu meinem Bedauern muß ich denjenigen von Ihnen, die über diese Vorgänge bisher nicht weiter reflektiert haben, mitteilen, daß diese Sichtweise von Informationsverarbeitung oder Informationsrepräsenta-tion mit sehr ernsten Problemen verbunden ist. Problematisch ist sie nicht nur auf-grund einer Reihe von fundamentalen, logischen Inkonsistenzen - beispielsweise ist es nicht möglich zu sagen, was eigentlich Information alles ist - sondern auch aufgrund dessen, daß diese Vorstellung sich als ziemlich untauglich erwiesen hat, uns ein adäquates Modell der Erkenntnis zu bieten, welches es uns ermöglichen würde, einen Apparat zu konstruieren, der fähig wäre, die gleiche oder eine mit dem Verhalten lebender Systeme vergleichbare Art von Verhalten zu zeigen. Mit anderen Worten: ich behaupte, daß die heute existierenden "künstlich

intelligen-36 Erkenntnis und Leben

Abb.1 (Erklärung im Text)

ten" Apparate nur eine billige Nachahmung der Intelligenz sind, da sie lediglich manche Formen menschlichen Verhaltens imitieren oder nachäffen. Aber alle, ein-schließlich einiger Ingenieure, die sie gebaut haben, wissen, daß dies nur eine N achäffung ist, und daß solche Maschinen mit grundsätzlich anderen Prozessen operieren als Sie und ich im alltäglichen Leben es tun. Damit meine ich, daß es heute keine wirklich intelligenten Apparate in dem Sinne gibt, daß sie kreativ sein könnten. Daß wir nicht in der Lage waren, solche Apparate zu konstruieren, biete ich Ihnen als Beleg dafür, daß die traditionelle Theorie nicht die geeigneten Er-gebnisse hervorbringen konnte. Dies entspricht dem englischen Sprichwort: "The proof of the cake is in the eating." In diesem Falle hatten wir bis jetzt lausige Ku-chen.

Was ich bis jetzt dargelegt habe, soll den Ausgangspunkt bilden. Ich will damit nicht 20 oder 30 Jahre Forschungsarbeit sehr engagierter und intelligenter Perso-nen abwerten, sondern nur sagen, daß diese 20 oder 30 Jahre nun unter dem As-pekt, daß sie uns auf eine neue Entwicklungsstufe bringen, betrachtet werden kön-nen. Wir haben gelernt, daß dieses Modell von Input/Output-Prozessen emst-zunehmende Begrenzungen aufweist (wobei ich hier noch gar nicht über die Sackgassen gesprochen habe, in die es die Neurowissenschaften geführt hat). Es ist Zeit, daß wir sie revidieren.

Was meine ich mit revidieren? Nun, gelegentlich meinen Wissenschaftler, daß die Theorie auf die eine oder andere Art und Weise erweitert werden sollte, wenn sie sagen, wir müssen die Theorie revidieren. Dies meine ich nicht, wenn ich von einer Revision der Theorie der Informationsverarbeitung und Repräsentation spreche. Unter Revision verstehe ich, eine tiefere Ebene zu beleuchten: die Grund-lagen einer solchen Erkenntnistheorie und die Wurzeln, auf welche sich diese Vor-stellung von Erkenntnis-als-Spiegeln stützt.

Ich behaupte, daß diese Theorie auf einem Phänomen basiert, das als Cartesia-nische Angst beschrieben werden kann. Ich verwende den Begriff Angst hier im Freud'schen Sinne. Die Cartesianische Angst sieht in etwa folgendermaßen aus:

Man ist Gefangener einer Entweder-oder-Situation. Entweder hat man ein solides und objektives Erkenntnisfundament oder man kann einer Art von Chaos, Fin-sternis und Anarchie nicht entfliehen. Entweder solides Fundament oder Chaos.

Man kann dies als Cartesianische Angst bezeichnen, weil Descartes der erste Den-ker war, der sein gesamtes Programm klar darauf baute, derartige Grundlagen zu finden. Dennoch hat er dieses fundament-orientierte Denken nicht erfunden. Es existierte bereits lange Zeit vorher und es existiert weiterhin. Der arme. Descartes wird gewöhnlich beschimpft, die Trennung von Leib und Seele erfunden zu ha-ben, als wenn er etwas furchtbar Schlimmes eingeführt hätte. Es ist möglich, so zu argumentieren. Aber für mich ist Descartes vielmehr ein Opfer einer Tradition, die ständig bestrebt war, einen soliden Bezugspunkt der Erkenntnis zu finden, sei es außerhalb oder innerhalb ihrer selbst.

Beachten Sie bitte, daß ich nicht sage, daß die Suche nach einem Fundament außerhalb stattfinden müßte, wie es die moderne Wissenschaft gewöhnlich be-hauptet. Es kann auch drinnen gesucht werden. Um Ihnen ein Beispiel dazu zu geben, möchte ich Kant, der der größte Philosoph seiner Zeit war, zitieren. Er

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schreibt in seiner "Kritik der reinen Vernunft" im dritten Teil der transzendentalen Analysen, nachdem er bereits einiges von seiner Erkenntnistheorie aufgebaut hat:2

"Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf dem-selben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unver-änderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Ne-belbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdek-kungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann."

Welch ein Fall von Paranoia. Sie haben hier den Ausdruck von "Entweder ich ha-be eine sorgfältige Zeichnung dieses ha-bezauha-bernden Landes der Wahrheit oder ich bin für immer in einer Nebelbank verloren, in der die Illusion wild wuchert". Die-se Suche nach einem Fundament, ob nun innen oder außen, begleitet uns Die-seit lan-ger Zeit. Kant suchte selbstverständlich nach einer internalen Grundlage, dem Apriori. Für uns heute ist es viel naheliegender, daß ein derartiges, fundament-orientiertes Denken nach objektiver Erkenntnis als Ausdruck davon, wie die Din-ge in der Natur draußen sind, sucht. Dies ist der Hintergrund der Vorstellung, daß Erkenntnis das, was da draußen ist, in irgend einer - mehr oder weniger verfeiner-ten - Form angemessen wiederspiegeln muß.

Das offensichtliche Gegenstück zu solch einem fundament-orientierten Den-ken ist natürlich das, was - aus der Perspektive des Denk-Fundamentalismus be-trachtet - die Nebelbank der Illusion ist. Sie wird zutreffend als eine Form des Ni-hilismus beschrieben, eine Form der völligen Relativität, innerhalb der es nicht möglich ist, ein den Weg weisendes Licht zu finden. Innerhalb der Wissenschaft ist diese Denkart, die sich für eine Form von völliger Relativität entscheidet, keine lebendige Option. In Wirklichkeit basiert der größte Teil der modemen Wissen-schaft auf der Suche nach einem objektiven Fundament.

Ich habe Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Dreh- und Angelpunkt gelenkt, weil die Orientierung, die ich Ihnen heute anbieten möchte, am besten als "Mittelweg"

bezeichnet wird. Ein Mittelweg, der sagt: Laßt uns das Wesen dieser zugrundelie-genden Angst erkennen, aber laßt uns aufbören so zu tun, als ob wir nach 20 Jahr-hunderten noch ein Fundament finden würden. Laßt uns die Hoffnung, doch noch ein solides Fundament - sei es nun innen oder außen - zu finden, aufgeben.

Gleichzeitig sollten wir nicht glauben, deswegen auf direktem Weg in einer Art breiiger Relativität zu landen. Wenn wir es richtig betrachten, gibt es vielleicht ei-nen Mittelweg, der über das Entweder-Oder hinausgeht. Metaphorisch ausge-drückt: ich möchte den bösen Geist dieser Cartesianischen Angst aus unseren Er-kenntnismodellen vertreiben.

Ich sage damit, daß die Zukunft der kognitiven Wissenschaften - unser heuti-ges Thema - weder darin liegen wird, zu verstehen, wie wir eine Repräsentation der Welt entwickeln, noch darin, die Welt, die wir wahrnehmen, für eine Art will-kürlicher Kreation des Denkens zu halten. Statt dessen würde ich sagen, daß

Ko-2 Kant I (11781, 1974) Kritik der reinen Vernunft. A 236. Suhrkamp, Frankfurt, S. 267/268.

gnition eine Geschichte von Kopplungen ist, die eine Welt hervorbringt. Ich weiß, daß dieser Satz noch keinen Sinn ergibt, aber behalten Sie ihn bitte noch eine Zeit lang in Gedanken und er wird, so hoffe ich, bis zum Ende meiner Rede etwas mehr Gehalt bekommen.

Man kann dies auf eine andere Art zum Ausdruck bringen und sagen, daß der Erkennende und das Erkannte in einem Zirkel der wechselseitigen Ko-Spezifizie-rung und des ko-abhängigen Entstehens gebunden sind. Dieses wegen jenem, je-nes wegen diesem ... ko-abhängiges Entstehen. Das bedeutet logischerweise: es gibt keinen Bezugspunkt, weder innen noch außen, d. h. es gibt keinen Bezugs-punkt jUr ein Fundament. Also liegt der Mittelweg in der Mitte eines Zirkels. Es gibt eine stabile Welt, wo Sie und ich uns einig sind, daß hier ein Podium steht und dort ein Teppich liegt, eine Welt, die stabil zu sein scheint, bis etwas Interes-santes passiert, bis sie zusammenbricht, bis wir nicht mehr einer Meinung sind.

Und was passiert dann? Es passiert folgendes: Diese vermeintlich stabile Welt er-scheint wieder, wird hervorgebracht, taucht auf diese ko-abhängige Art und Weise wieder auf.

Viele von Ihnen werden jetzt denken, das ist interessant, vielversprechend in-teressant, aber lediglich philosophisch. Es ist nicht nur das. Sie müssen sich über Ihren persönlichen Standpunkt im klaren sein. Aber lassen Sie mich jetzt damit fortfahren, Ihnen anhand eines Beispiels zu illustrieren, auf welche Weise dies bei einem wissenschaftlichen Problem funktioniert. Ich habe viele Jahre lang unter-sucht, wie wir Farben wahrnehmen, und auch wie Vögel und Insekten Farben wahrnehmen.

Farbe ist wirklich eine faszinierende Dimension unserer Alltagswelt. Lassen Sie mich daher an dieser Stelle Farbe als paradigmatisches Beispiel für das, was ich meine, verwenden. Ich möchte Ihnen zwei einfache, kurze Experimente vor-stellen - oder mit Ihnen durchführen. Das eine ist ein klassisches Experiment, das zweite neueren Datums.

Um das erste Experiment vorzustellen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit zu-nächst auf Ihren gesunden Menschenverstand lenken. Er sagt Ihnen, getreu dem repräsentationalen Denken, daß Farbe ein Merkmal eines Objekts ist. Wenn ich etwas als grün erkenne, würde der gesunde Menschenverstand sagen, daß dem so ist, weil grüne Wellenlängen von dem Objekt ausgehen und ein Bild in meinem Gehirn entstehen lassen. In meinen Lehrbüchern steht tatsächlich geschrieben, daß Farbe Licht mit einer bestimmten Wellenlänge ist. Ich muß Ihnen nun leider berichten, daß dies nicht nur irreführend, sondern grundlegend falsch ist. Meine Behauptung lautet: Es gibt keine notwendige Relation zwischen Wellenlänge und Farbe. Das heißt, wenn Sie eine Farbe wahrnehmen, haben Sie keine Möglichkeit zu sagen, welche Wellenlänge gerade auf Ihr Auge einwirkt. Nun mag diese Aus-sage für Sie seltsam klingen. Damit Sie mich nicht beschuldigen, bloß "just-so"-Geschichten3 zu erzählen, gestatten Sie mir bitte, Ihnen diesen Sachverhalt zu veranschaulichen.

3 Anmerkung des Herausgebers: Welchen Stellenwert er "just-so-stories" gibt, erläutert Varela spä-ter in der Diskussion (siehe S. 114). Er versteht darunspä-ter mehr oder weniger beliebige Geschichten, die zur Erklärung irgend eines Sachverhalts erfunden werden.

40 Erkenntnis und Leben

Stellen Sie sich zwei Diaprojektoren vor: Der eine hat weißes Licht, beim an-deren wird der Lichtstrahl durch eine rote Glasscheibe abgedeckt, um rotes Licht herzustellen. Wenn beide Projektionen auf der Leinwand zusammentreffen, wird das, was Sie sehen - das entspricht ganz dem gesunden Menschenverstand - rosa sein, weil wir weiß plus rot addieren. Lassen Sie uns jetzt ein Objekt so anordnen, daß das weiße Licht verdeckt wird. Wenn man das weiße Licht mit einer Hand verdeckt, wird natürlich ein Schatten entstehen, der durch die rote Seite beleuchtet wird; daher sehen wir dann - wieder in Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand - einen roten Schatten. Stellen Sie sich jetzt bitte vor, daß wir auf der anderen Seite einen Schatten hervorrufen. Da wir jetzt das rote Licht ver-decken, werden Sie erwarten, daß der Schatten der Hand gänzlich von der wei-ßen Seite beleuchtet wird. Daher sollte man einen weiwei-ßen Schatten auf einem rosa Hintergrund zu sehen bekommen. Welche Farbe hat er tatsächlich? Er ist grün.

Nun, woher kommt dieses grün? Angeblich soll doch grün etwas mit grünen Wellenlängen zu tun haben. In dieser Konstruktion gibt es jedoch kein grün. Es gibt rot und weiß, also ergeben rot und weiß grün. Wenn Sie die Wellenlängen messen, die von dem grünen Schatten ausgehen, werden Sie in Übereinstimmung mit der Physik keine grünen Wellenlängen finden. Sie werden das vorfinden, was erwartet wird: ein weißes Spektrum.

Ich biete Ihnen dieses kleine Experiment als sehr einfaches, aber dennoch be-eindruckendes Beispiel für das an, was Kuhn als "Paradigma-Anomalie" bezeich-net. Dieses Experiment wurde 1672 zum erstenmal von einem deutschen Wissen-schaftler durchgeführt und wird heute das Experiment mit den "farbigen Schatten" genannt. Normalerweise wird gefragt: "Welche Farbe ist es wirklich?"

Nun, offensichtlich ist es grün. Wir tendieren dazu - mit unserem gesunden Men-schenverstand -, Farben bestimmten Wellenlängen zuzuschreiben, so daß wir, wenn wir grün sehen und weiß erwarten, fragen: "Welche Farbe ist es wirklich?"

Diese Erfahrung verstößt gegen unsere Grundannahme, daß es eine Beziehung zwischen dem hereinkommenden Licht und der wahrgenommenen Farbe geben soll. Die Farbe, die wir wahrnehmen, kann tatsächlich nur dadurch erklärt wer-den, daß im Nervensystem interne Beziehungen gefunden werwer-den, die konstant bleiben, wann immer wir eine Farbe benennen, und nicht dadurch, daß ein be-stimmtes Licht empfangen wird. Mit anderen Worten, es ist als ob dieses Nerven-system etwas hervorbringen kann, das wir als Farbe wahrnehmen können, wenn eine Lichtquelle vorhanden ist. Dies ist also die erste Überraschung in bezug auf das Phänomen Farbe.

Nun, ich halte eine weitere für Sie bereit. Es gibt ein interessantes Experiment, das folgendermaßen abläuft: Angenommen eine Person trägt eine Brille, die so konstruiert ist, daß jedes Glas geteilt ist: auf der rechten Seite ist es rot, auf der lin-ken Seite grün. Das Experiment besteht darin, daß diese Person gebeten wird, die Brille ein oder zwei Monate lang zu tragen, ohne sie abzunehmen, selbst dann nicht, wenn sie zu Bett geht. Wenn die Brille das erste Mal aufgesetzt wird, pas-siert folgendes: Die Welt sieht geteilt aus, und zwar mit einer rötlichen Färbung auf der rechten Seite und einer grünlichen Färbung links. Dies war zu erwarten.

Nun, ich halte eine weitere für Sie bereit. Es gibt ein interessantes Experiment, das folgendermaßen abläuft: Angenommen eine Person trägt eine Brille, die so konstruiert ist, daß jedes Glas geteilt ist: auf der rechten Seite ist es rot, auf der lin-ken Seite grün. Das Experiment besteht darin, daß diese Person gebeten wird, die Brille ein oder zwei Monate lang zu tragen, ohne sie abzunehmen, selbst dann nicht, wenn sie zu Bett geht. Wenn die Brille das erste Mal aufgesetzt wird, pas-siert folgendes: Die Welt sieht geteilt aus, und zwar mit einer rötlichen Färbung auf der rechten Seite und einer grünlichen Färbung links. Dies war zu erwarten.