DEUTSCHES lm.ZTEBLATT
J
eder friedliebende Arzt kann die Entschließungen unterschreiben, die der 89. Deutsche Ärztetag gefaßt hat: die Verurteilung von Ge- walt zur Durchsetzung politi- scher Ziele; die Warnung vor den Auswirkungen eines Krieges, insbesondere eines Atomkrieges; die Mahnung zu Katastrophen- und Zivil- schutz sowie zur Fortbildung in Notfall- und Katastrophen- medizin; die Forderung nach einem Stopp von Atomwaf- fentests; die Besorgnis um die Gesundheitsschäden infolge des Reaktorunfalls von Tschernobyl, der auf makabre Weise erwiesen hat, wie drin- gend erforderlich Katastro- phenschutzmaßnahmen und deren gesetzliche Regelung auch in Friedenszeiten sind!Hingegen ist es, gelinde ge- sagt, mehr als befremdlich, daß diese wahrhaft gesund- heitspolitische Grundhaltung auch .,nach Tschernobyl" von jener Organisation nicht ge- teilt wird, die sich allgemein- politisch nur für die Verhü- tung eines Atomkrieges pro- pagandistisch engagiert, zu- mindest nicht von deren .,bundesdeutscher" Sektion.
Eines ihrer Vorstandsmitglie- der warnte in der .,Ärzte-Zeit- ung" unmittelbar nach der .,Havarie" in Tschernobyl er- neut vor Zivilschutzgesetzen.
Viel dringender als der von der Bundesärztekammer an- gestrebte Schutz der Zivilbe- völkerung und auch viel drin- gender als eine vorsorg liehe Aus- und Fortbildung aller Ärzte in Katastrophenmedizin bis hin zum Verteidigungsfall, der für ihn nur ein , ,soge- nannter'· ist, erscheinen ihm die Ziele seiner Vereinigung. Kein Wort in diesem .,Gast- kommentar" der .,Ärzte-Zei- tung" zu der akuten Gesund- heitsgefährdung auch der .,bundesdeutschen" Bevölke- rung durch die radioaktive Strahlung aus dem sowjeti- schen Reaktor. Keine Forde- rung etwa nach konsequenter Abschaltung der anderen,
Friedensliebe - dialektisch
ebenso unsicheren sowjeti- schen Reaktoren gleichen Typs. Stattdessen malt das IPPNW-Vorstandsmitglied ( .. Jetzt setzen Angst und Ka- tastrophenstimmung bei den Menschen ein ... ") ein Schreckensbild davon, wie das alles erst im Krieg aussä- he. Die Katastrophe von Tschernobyl als Agens, als .. Agitans" für eine Politik, die des Zivilschutzes als illusio- när spottet!
Zu diesem propagandisti- schen Dreh haben sowjetische Politiker und Wissenschafts- funktionäre erst Wochen spä- ter gefunden. So schob der Leiter des Moskauer Ameri- ka-Instituts die Sorgen der westlichen Welt um die Fol- gen des Desasters sowjeti- scher Atom, ,Sicherheits· 'poli- tik schlicht als .,Antisowjetis- mus" beiseite und gab der Zuversicht Ausdruck, daß sich .,Tschernobyl" letztlich nur zugunsten sowjetischer .. Frie- denspolitik" auswirken wer- de: weil nämlich nicht etwa die Katastrophe, sondern die Reaktion westlicher .. Propa- gandisten" - zitiert aus der FAZ- .,die Leute zum Nach- denken über die Gefahren ei- ner wirklichen Atomkatastro- phe gebracht" habe. Das ist ein wahrlich .,dialektischer"
Versuch - ebenfalls zitiert nach der F AZ -: , ,das Desaster von Tschernobyl in ein Instru- ment zur Mobilisierung west- licher ,Friedensbewegungen' umzumünzen.
S
o wird auch der selbe Mann, der als erster De- tails zur Lage im Kern- kraftwerk Tschernobyl be- kanntgab (wiedergegeben im SED-Organ .,Neues Deutsch- land" vom 12. Mai), der Vize- präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR,Jewgeni Welichow (auch Mit- glied des Beratungsgremiums der Organisation für Lizenz- handel .,Lizensintorg" des Außenhandelsministeriums der UdSSR), bei dem IPPNW- Kongreß nicht etwa über .. Tschernobyl und die Konse- quenzen" sprechen, sondern über SDI - die .. Nutzung des Weltraums''.
So offenbart auch dieses De- tail die allgemeinpolitische Ausrichtung und bestätigt ak- tuell die Richtigkeit des Be- schlusses von Bundesärzte- kammer und Deutschem Ärz- tetag, keinen Vertreter zu Veranstaltungen dieses Kon- gresses zu entsenden. . Die Kernsätze im Absagebrief Dr.
med. Karsten Viimars an das Kongreßkomitee haben ihre Gültigkeit behalten:
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eit 1958 haben sich die Deutschen Ärztetage ge- gen jegliche Verwen- dung von nuklearen Waffen gewandt und darüber hinaus in vielen Entschließungen, Stellungnahmen und Publika- tionen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die deut- schen Ärzte gegen jede krie- gerische Auseinandersetzung sind, gleichgültig, ob mit kon- ventionellen, biologischen, chemischen oder nuklearen Waffen. Im Gegensatz dazu berücksichtigen die von Ih- nen geplanten Veranstaltun- gen die schwerwiegenden Gefahren unterschiedlicher Waffen- und Gewaltanwen- dung auf den Menschen und seine Gesundheit überhaupt nicht, sondern richten sich ausschließlich gegen die Ge- fahr der Anwendung von Nuklearwaffen als Teilprob- lem eines Krieges...,. Ihre geplante Kongreßge- staltung stellt somit im we- sentlichen darauf ab, daß eine allgemeinpolitische Ausein- andersetzung geführt wird.
Das jedoch gehört nicht zu den Aufgaben der Bundesärz- tekammer als Arbeitsgemein- schaft der westdeutschen Ärz-
tekammern.·' roe
i I.
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 21 vom 21. Mai 1986 (1) 1485