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Archiv "Was Tschernobyl uns brachte" (23.07.1986)

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m stärksten betroffen von den Folgen der Reaktorkatastro- phe, die sich am 26. April 1986 in der Ukraine ereignete, war der süddeutsche Raum, während im Rheinland die geringsten Bela- stungen registriert wurden. Um bestehende Ängste in der Bevöl- kerung abzubauen, veranstaltete die Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF) Anfang Juni ein Seminar in Neuherberg bei München. Ausgehend von ih- ren Meßwerten versuchte die GSF, die zusätzliche Strahlenbelastung möglichst realistisch zu bewerten.

Aktivitäten in Luft und Boden

Die von dem Unfall in Tschernobyl freigesetzte Spaltproduktaktivität erreichte, durch widrige Nordost- winde begünstigt, im Münchener

Raum am 30. April und 1. Mai deutlich ausgeprägte Maxima. In- nerhalb einer Woche nahm die Luftaktivität deutlich ab und er- reichte am 5. Mai wieder annä- hernd den natürlichen Normalpe- gel. Dabei halfen starke Gewitter- schauer, die Luft auszuwaschen.

Dies führte allerdings zu hohen Aktivitäten am Boden.

Für die inhalative Aktivitätszufuhr und die daraus resultierende Do- sis sind die Aktivitäten pro m 3 und die Halbwertszeiten der beteilig- ten Radionuklide entscheidend (Tabelle 1): Ohne die Edelgase er- gab sich in Neuherberg eine zeitli- che Summe von knapp 4000 Bq•h/m 3 . Die größten Beiträge lie- ferten Te-132, J-132 und J-131 mit insgesamt 65 Prozent. 12 Prozent stammten von den Rutheniumiso- topen Ru-103 und Ru-106, knapp 8 Prozent von Cs-137 und etwa 4 Prozent von Cs-134.

Nuklidspezifische Messungen der Niederschläge und des trockenen Fallouts zeigten in Neuherberg, daß die in den Meßwannen aufge- fangenen Aktivitäten am 30. April zu etwa 80 Prozent und der Rest in den folgenden Tagen abgeschie- den wurden. Daß die flüchtigen Elemente (Jod, Tellur, Ruthenium, Cäsium) hierbei weitaus überwo- gen, ist für einen Reaktorunfall nicht untypisch. Eine Kernwaffen- explosion hätte wegen einer höher erzielten Temperatur größere Mengen schwerflüchtiger Elemen- te freigesetzt. Dafür sprach auch der sehr niedrige Anteil an Ra- diostrontium.

Nach langwierigen, komplizierten radiochemischen Trennungen, wozu nur wenige Speziallabors weltweit in der Lage sind, konnten winzige Mengen Plutonium im Fallout nachgewiesen werden. Für das Isotop Pu-239 maßen die GSF- Experten 0,04

Bq/m 2 .

Von den überirdischen Kernwaffentests in den fünfziger und sechziger Jah- ren stammen dagegen 108 Bq/m 2 . Also erhöhte der Reaktorunfall die Plutoniummenge in unserer Um- welt um etwa 0,4 Promille.

1966/67 erreichten in Mitteleuropa die von den Kernwaffenversuchen verursachten Aktivitäten von Cs-137 und Sr-90 Maximalwerte.

Wegen der langen Halbwertszei- ten sind die damaligen kumulier- ten Bodenaktivitäten von 4 bzw.

2,5 kBq/m 2 auf etwa 3 bzw. 2 kBq/m 2 abgeklungen. Durch den Reaktorunfall in der Ukraine ver- fünffachte sich bei uns die Aktivi- tät des Cs-137, während sich beim Sr-90 die Aktivität im Fallout nur um etwa ein Zehntel erhöhte.

Nach Messungen der GSF wird die gesamte (3-Aktivität, die am 1. Mai

in Neuherberg ein Maximum von etwa 350 kBq/m 2 erreichte, im nächsten Vierteljahr auf ein Zehn- tel abklingen. Entscheidend für die langfristige Umweltkontamina- tion und somit für die Strahlenex- position der Bevölkerung sind die langlebigen Radioisotope des Cä- siums (Cs-137, Cs-134) und Ruthe- niums (Ru-103, Ru-106). Dagegen spielt Radiostrontium wegen der geringen Mengen nur eine unter- geordnete Rolle, so die GSF-Ex- perten.

Erhöhte ß- und y-Dosen

Normalerweise liegt im Münche- ner Raum die mittlere 7-Dosislei- stung in 2 m Höhe über dem Bo- den infolge der natürlichen, ter- restrischen Strahlung bei 0,065

!ÄGy/h (6,5 ilrd/h). Am 1. Mai stieg jedoch die Dosisleistung auf den Maximalwert vom 0,956 .tGy/h (95,6 mrd/h), was etwa dem 15fa- chen des Normalwertes ent- spricht. Durch den radioaktiven Zerfall der auf dem Boden abge- schiedenen Spaltprodukte nahm die Dosisleistung monoton ab. Ei- nen Monat nach Beginn des Tschernobyl-Fallouts erreichte sie 0,174 fiGy/h, was etwa dem 2,5fa- chen des Normalwertes ent- spricht.

In Nordbayern lagen die gemesse- nen Werte im Durchschnitt niedri- ger als in Südbayern; die Werte schwankten zwischen dem 0,4- und 2,5fachen des Neuherberger Wertes. In den Straßen wiederum lagen die Meßergebnisse um etwa 50 Prozent niedriger als über Wie- sen und Ackerland. Vermutlich wurden die radioaktiven Spaltpro- dukte durch den Regen in die Ka- nalisation fortgespült. In den Häu- sern wurde die externe 7-Strah- lung sogar um den Faktor 10 ab- geschirmt (Tabelle 2).

Bedeutend schwieriger läßt sich die (3-Dosisleistung am Boden ab- schätzen, da die Spaltprodukte mit

dem Regen in den Boden ein- gedrungen sind. Typischerweise

liegt die Reichweite der ß-Strah-

Was Tschernobyl uns brachte

Bericht vom Seminar „Der Reaktorunfall in

Tschernobyl und die Folgen", Neuherberg 1986

(2)

Radio- nuklid

radioaktive Halbwertszeit

Aktivität

Boden Luft

kBq/m 2 Bq•h/m 3 Sr-89**)

Sr-90 - ) Mo-99 Ru-103 Ru-106 J-129**) J-131 Te-132 L. J-132 J-133 Cs-134 Cs-136 Cs-137 Ba-140 L> La-140

Pu-238**) Pu-239**)

50,5 d 29,1 a 66,0 h 39,3 d 368 d 1,57 x 10 7 a

8,04 d 78,2 h 2,3 h 20,8 h 2,06 a 13,1 d 30,0 a 12,7 d 40,3 h 87,7 a 24 065 a

2,2 0,21 9,6 27 6,9

5_

0,02

92 120 3,7 10 4,2 19 12 14 x 10 -6

40 x 10 -6

100 370 90 1080 1500 30 170 60 300 150 130

*) ohne Berücksichtigung des radioaktiven Zerfalls -) nur vom 29. April bis zum 2. Mai 1986

Tabelle 1: Kumulierte, abgeschiedene Aktivitäten am Boden und Summe der Aktivitäten in der bodennahen Luft in Neu- herberg/München (vom 29. April bis 8. Mai 1986)*)

Tabelle 2: Geschätzte zusätzliche 7-Dosis in Luft im ersten Monat infolge des Tschernobyl-Fallouts in mrd (mGy)

München Bayern

und Umgebung Variationsbereich 10-30

(0,1 -0,3) 5 -15 (0,05-0,15)

0,5-2 (0,005 - 0,020)

5-60 (0,05 -0,60)

3 -30 (0,03 -0,30)

0,3 -4 (0,003 - 0,040) len, die von der Energie der emit-

tierten Elektronen abhängt, im Millimeterbereich. Deshalb bela- sten externe (3-Strahlen im wesent- lichen nur die Haut. Oder: Die (3- Strahlen erreichen von außen kaum oder gar nicht strahlenemp- findliches Gewebe.

Deshalb müssen die Meßwerte des externen Strahlenfeldes sorgfältig analysiert werden, um daraus die resultierende Gesundheitsgefähr- dung bewerten zu können.

Bereich

über Wiesen und Feldern über Straßen in Häusern

Aktivitäten im Gras

Am 30. April stieg durch den star- ken Regen im Münchener Raum die spezifische Aktivität im Gras auf etwa 2000 Bq/kg für Cs-137 und 8000 Bq/kg für J-131. Bis zum 2. Mai verdoppelten sich die Wer- te, im wesentlichen durch trocke- nen Fallout. Daraufhin fiel die spe- zifische Aktivität mit einer biologi- schen Halbwertszeit von etwa acht Tagen, was hauptsächlich auf den starken Zuwachs der Biomasse,

aber auch auf das Abwittern exter- ner Radionuklide durch Wind und Wetter zurückzuführen ist.

Anfang Juni war die spezifische Aktivität für J-131 (vor allem durch den radioaktiven Zerfall) auf weni- ger als ein Prozent und für Cs-137 infolge des Verdünnungseffektes auf etwa zehn Prozent zurückge- gangen. Deshalb fressen die Tiere heute deutlich weniger kontami- niertes Gras als Anfang Mai. Fri- sches Gras, das nach dem Abwei- den oder Mähschnitt jetzt nach- wächst, besitzt zur Zeit eine um den Faktor Zehn niedrigere spezi- fische Aktivität als altes Gras, das noch extern kontaminiert wurde.

Aktivitäten in Milch

Bei Kühen, die auf Wiesen weide- ten, die Anfang Mai mit etwa 70 Prozent der in Tabelle 1 angege- benen Werte belastet waren, fan- den die GSF-Experten am 4. Mai in der Milch 1,5 kBq/I für J-131 und 0,4 kBq/I für Cs-137. Durch Abwei- den des Grases und der weit gerin- geren Kontamination des nach- wachsenden Grases war der Jod- wert bis zum 1. Juni um den Faktor 200 gefallen. Dagegen war der Cs- 137-Wert nur um den Faktor 5 zu- rückgegangen.

In der Milch von Kühen, die in der kritischen Zeit nur mit Silofutter ernährt wurden, blieben dagegen die Aktivitäten an J-131 stets unter 100 Bq/I und an Cs-137 unter 10 Bq/1. Die GSF-Experten vermuten, daß die Silage durch den Regen am 30. April geringfügig radioaktiv kontaminiert wurde. Zur Zeit liegt der J-131-Gehalt wieder unter 1 Bq/1.

Zwischen diesen beiden Extremen dürften sich die Werte der in den Molkereien angelieferten Milch bewegt haben, da viele Bauern mangels eines ausreichenden Vor- rates an Trockenfutter zu Frisch- futter übergegangen sind. Da nach der Empfehlung der Strah- lenschutzkommission Milch mit J- 131-Gehalten über 500 Bq/I nicht

(3)

40-50 30-40

30

2,5 —3,0 2,0-2,5 1,5— 2,0 Tabelle 3: Geschätzte Inhalationsdosen durch Spaltprodukte vom Tschernobyl-Unfall in München-Neuherberg

Kinder 0-10 a Jugendliche 10 —17 a Erwachsene

Altersgruppe Äquivalentdosen in mrem Schilddrüse effektive Dosis*)

*) Die Dosiswerte für das Knochenmark und die Gonaden entspre- chen annähernd den angegebenen Werten der effektiven Dosis

Tabelle 4: Abgeschätzte effektive Folgedosen im ersten und für die folgenden 49 Jahre durch Ingestion kontaminierter Nahrungsmittel in mrem

1. Jahr 20 20

Rest 3 3

Cs-134

ungefähre Summe Summe (Schwankungs- bereich)

1. Jahr Rest

50 Jahre 120

(50-200)

160 (100 —300)

Radionuklid Erwachsene

J-131 1. Jahr

Rest

4 50

1. Jahr Rest

0,1 0,3

2 3

Sr-90

60

60

Zeitraum Kleinkinder

Cs-137 1. Jahr 35

Rest

30

50 50

100

60 als Frischmilch verkauft werden

durfte, lagen bei den untersuchten Molkereimilchproben Mitte Mai die Werte zwischen 200 und 300 Bq/1. Inzwischen ist der Mittelwert unter 100 Bq/1 abgefallen. Milch mit J-131-Gehalten über 500 Bq/1 wurde dagegen zu lagerfähigen Produkten weiterverarbeitet, die nach dem Abklingen der Aktivität dann in den Handel gebracht wer- den können.

Zusätzliche Inhalationsdosis Die zusätzliche Strahlenbelastung der Bundesbürger durch diesen Reaktorunfall kann man in Modell- rechnungen bestimmen oder so- gar durch komplizierte Messun- gen mit Ganzkörperzählern expe- rimentell abschätzen. Das Modell muß den Verbleib und Transport relevanter Radionuklide in der Umwelt (Luft, Wasser, Boden) und den Nahrungsketten möglichst realistisch und zeit- und altersab- hängig beschreiben. Mitberück- sichtigt werden müssen auch die jeweiligen mittleren Aufenthalts- und Verzehrgewohnheiten der Bundesbürger. Bei der Berech- nung der Inhalationsdosis setzte die GSF verschiedene mittlere Atemraten ein, die von 4 m 3/d bei Kleinkindern bis zu 20 m 3/d bei Er- wachsenen reichten. Weiterhin wurde angenommen, daß sich die integralen Luftaktivitäten im Frei- en und in Innenräumen kaum un- terscheiden. In Tabelle 3 sind die Inhalationsdosen zusammenge- stellt, die sich aus der Summe über alle Spaltprodukte aus der Tabelle 1 ergaben.

Die Werte der Schilddrüsendosis resultieren fast ausschließlich aus der Inhalation der kurzlebigen Jodisotope, und zwar zu 85 Pro- zent auf J-131 und zu 15 Prozent auf Te-132 und J-132. Bei den ef- fektiven Äquivalentdosen entfallen 40 bis 45 Prozent auf J-131, 15 bis 25 Prozent auf Te-132 und J-132, 20 Prozent auf Ru-103 und Ru-106 und etwa 5 (Kinder) bis 20 Prozent (Erwachsene) auf die Inhalation von Cs-134 und Cs-137.

Zusätzliche Hautdosis

Praktisch alle bei uns deponierten Radionuklide sind ß- und ?-Strah- ler. Während die emittierte ?- Strahlung durch geringes Eindif- fundieren der Radionuklide in den Boden oder durch das Tragen von Kleidung kaum beeinflußt wird, kann dadurch die (3-Strahlung stark oder sogar vollkommen ab- geschirmt werden. So schirmt ei- ne 1 mm dicke Sand- oder Erd- schicht die (3-Strahlen von J-131 und den beiden Cäsiumisotopen

sehr effektiv ab. Dennoch kann bei großflächigem direkten Hautkon- takt die geschätzte Hautdosislei- stung Anfang Juni an vielen Orten noch einige iSv/h betragen.

Bei Erwachsenen, die sich größ- tenteils in geschlossenen Räumen aufhalten, schätzt die GSF eine ef- fektive Dosis von etwa 0,2 mSv (20 mrem) für das erste Jahr und 1,3 mSv für die folgenden 49 Jahre in- folge der vom Boden ausgehen- den y-Strahlung. Dagegen liegen bei Kindern die entsprechenden

(4)

30 —70 30 —50 60-120 Erwachsene

Ingestion externe y-Strahlen

insgesamt

50 —200 10 — 30 60 —250

30-60 10 —30 40-100

40 —80 10 — 30 50-110 Äquivalentdosis für 1. Folgejahr in rarem Gruppe Schilddrüse Knochenmark

Gonaden

effektiv

Kinder (0 —10 a) lngestion externe y-Strahlen

insgesamt

300 —1000 30 —50 300 —1000

40-100 30-50 70-150

effektive Lebenszeit-Äquivalentdosis in mrem Kinder

(0 —10 a) Erwachsene

Ingestion:

externe y-Strahlen:

Ingestion:

externe y-Strahlen:

100-300 } 200 —300 1

50 — 200 00— 200

300 —600 150 —400

Tabelle 5: Erwartete Strahlenexposition infolge des Tscherno- byl-Unfalls, bezogen auf die Falloutwerte im Raum München

Werte bei 0,5 bzw. 2,1 mSv. Die

Hauptbeiträge stammen von Cs-134 und Cs-137.

Zusätzliche Ingestionsdosis Die Strahlenexposition durch kon- taminierte Lebensmittel ergibt sich aus dem Produkt der spezifi- schen Aktivitäten und den Ver- zehrmengen der Lebensmittel so- wie aus den nuklidspezifischen Organdosen. Bei den Schätzun- gen berücksichtigte die GSF auch die Altersabhängigkeit bei den Verzehrmengen einzelner Lebens- mittel und bei den Dosisfaktoren.

Auch Auswirkungen der Empfeh- lungen der Strahlenschutzkom- mission fanden Eingang in die Mo- dellrechnung.

Gegenüber dem kurzlebigen J-131 kann man wegen der langen Halb- wertszeit von Cs-137 für einige Le- bensmittel einen Wiederanstieg der Cs-137-Aktivitäten im kom- menden Winter erwarten, wenn das im Mai stark kontaminierte Gras als Heu verfüttert wird. Doch in den folgenden Jahren dürften die Lebensmittel wieder „norma- le" Cs-137-Werte aufweisen. In Ta- belle 4 sind die mit der Nahrung aufgenommenen Dosen aufge- führt.

Natürlicher Strahlenpegel

Die vorliegenden Meßwerte aus anderen Regionen der Bundesre- publik zeigten, daß die Fallout-Ak- tivitäten nach der Reaktorkata- strophe zwischen dem 0,3- und 2,0fachen des Münchener Wertes schwankten. In Bayern wird der Tschernobyl-Unfall nach den Mo- dellrechnungen der GSF im ersten Jahr die Schilddrüse mit 3 bis 10 mSv (300 bis 1000 rarem) bei Kin- dern mit etwa 0,5 bis 2,0 mSv bei Erwachsenen belasten (Tabelle 5).

Da es sich hierbei im wesentlichen um die kurzlebigen Radiojod-lso- tope handelte, fielen diese Dosis- beiträge zum größten Teil in den ersten Wochen nach dem Unfall an. Infolge des in der ersten Mai-

hälfte eingeschränkten Ver- brauchs von Frischmilch dürfte die tatsächliche Schilddrüsendo- sis im unteren Teil des Bereiches liegen. Für die langfristige Exposi- tion sind die langlebigen Cäsium- isotope in der Nahrung sowie die externe Dosis der y-Strahlung ent- scheidend; beide Dosisbeiträge sind vergleichbar.

Dagegen sind die Bundesbürger durch natürliche Strahlenquellen mit etwa 2 mSv (200 mrem) pro Jahr belastet, also eine Lebenzeit- dosis vom 150 mSv. Je nach Re- gion schwankt diese Dosis zwi- schen 75 und 450 mSv. Fast die Hälfte davon steuert die natürliche Radioaktivität in den Häusern bei.

Für den Münchener Raum wird der Tschernobyl-Fallout im ersten Jahr zwischen 30 und 70 Prozent der natürlichen Strahlenexposi- tion liegen. Dagegen entspricht die durch diesen Unfall kumulierte zusätzliche Lebenszeitdosis etwa ein bis fünf Prozent der natür- lichen Exposition während der ge-

samten Lebenszeit. Für die Ge- samtbevölkerung dürfte der relati- ve Zuwachs im unteren Teil des Bereiches liegen, wie die GSF-Ex- perten vermuten.

Gesundheitliche Folgen

Epidemiologische Studien können in diesem Dosisbereich nichts Zu- verlässiges über die Wahrschein- lichkeit aussagen, an strahlenin- duziertem Krebs zu erkranken.

Wenn man dennoch von hohen Dosen auf solch niedrige Werte li- near extrapoliert, ein fragwürdiges Unterfangen, durfte das rechneri- sche Krebsrisiko (Mortalität) bei etwa 1 : 10 000 liegen.

Auf der anderen Seite stirbt jeder fünfte Bundesbürger an Krebs, so daß sich das Krebsrisiko durch Tschernobyl um 0,01 Prozent er- höhen würde. Diese Änderung wä- re aber kleiner als die zeitliche und regionale Variation der Krebshäu- figkeit.

(5)

Auch der direkte Nachweis einer erhöhten Mutationsrate infolge des Tschernobyl-Fallouts dürfte, so vermuten die GSF-Experten, nicht möglich sein, zumal strah- leninduzierte Ereignisse sehr sel- ten auftreten und von der sponta- nen Mutabilität überdeckt werden.

Denn: Wenn die Keimzellen der El- tern einer Generationsdosis von je 5 mSv ausgesetzt sind, werden 15 strahleninduzierte dominante Mu- tationen bei einer Million Gebur- ten vorausgesagt. Nach dieser Schätzung würden sich anderer- seits bei einer Million Geburten et-

wa 1500 spontane dominante Mu- tationen manifestieren. Hinzu kä- men weitere 8500 Mutationen, die in den vorhergegangenen Genera- tionen spontan auftraten und noch nicht selektioniert wurden.

Trotz dieser auf den ersten Blick beschwichtigenden Aussagen des Seminars gilt es weiterhin, aus Vorsorge, wie es bereits bei medi- zinischen Anwendungen ge- schieht, die zivilisatorische Strah- lenbelastung möglichst niedrig zu halten. Denn über die radiobiolo- gischen Wirkungen niedriger Do-

sen weiß man noch recht wenig.

Eines hat die Katastrophe im fer- nen Tschernobyl doch aufgezeigt:

Auch in der Bundesrepublik wür- de bei einer ähnlichen Katastro- phe die medizinische Infrastruktur nicht ausreichen, einer großen An- zahl von Strahlenopfern sofort zu helfen. Zudem wurde gefordert, die Katastrophenschutzpläne zu überprüfen.

Dr. rer. nat. Jürgen Vogt Mommsenstraße 46 5000 Köln 41

NOTIZ

Ist der Heilschlaf noch aktuell?

Die im allgemeinen absolut be- rechtigte Scheu vor dem Griff nach Betäubungsmitteln in der Alltagspraxis erlaubt eine Ausnah- me: die Schlaftherapie, in der Fachliteratur auch als Zweipha- senheilschlaf beschrieben. Sie ist auch heute noch bei zwei häufi- gen Viruskrankheiten besonders bei älteren und geschwächten Pa- tienten indiziert, wo ein gefähr- licher Verlauf zu befürchten ist.

Das trifft für die echte Grippe und für den Herpes zoster, besonders im Gesichtsbereich zu. Die An- wendung von Interferon oder Aciclovir kommt höchstens in Aus- nahmefällen und in der Klinik in Betracht. Gammaglobulin gilt we- gen einer befürchteten AIDS-Über- tragung kaum als Therapie der Wahl. Die Verabreichung von Anti- biotika und Sulfonamiden ist nur bei drohender bakterieller Zusatz- infektion sinnvoll. Der Hausarzt sieht sich daher fast ausschließ- lich auf symptomatische oder Pla- cebo-Behandlung beschränkt.

Eine jahrzehntelange günstige Er- fahrung mit dem Zweiphasenheil- schlaf spricht für dessen Anwen- dung im Anfangsstadium der Vi- rusgrippe und des Herpes zoster.

An letzteren sollte bei halbseitig lokalisiertem Nervenschmerz und erhöhter Körpertemperatur schon vor dem Auftreten von Hauter- scheinungen gedacht werden.

Die Schlaftherapie geht dann fol- gendermaßen vor sich: Nach Ent- leerung von Blase und Darm so- fortiger Beginn einer vollständi- gen Nahrungskarenz. Als Geträn- ke sind nur Fruchtsäfte und Tee erlaubt. Alkoholika sind ganz zu vermeiden.

Der entscheidende medikamentö- se Eingriff besteht in einer intra- muskulären Injektion von 0,02 Gramm Morphinum hydrochlo- ricum und 0,0005 Gramm Atropi- num sulfuricum. Das Kombina- tionspräparat befindet sich als Amphiolen „Merck" im Handel. Es empfiehlt sich, für den Praxisbe- darf eine Originalpackung mit zehn Amphiolen vorrätig zu hal- ten. Die Injektion läßt in einem ab- gedunkelten, geräuschgeschütz- ten Raum den natürlicherweise schlafbedürftigen Kranken schnell einschlafen. Da die Schlaftherapie möglichst am Abend eingeleitet werden soll, erfolgt das Erwachen meist erst in den Morgenstunden.

Obwohl ein suchterzeugendes Lustgefühl nicht eintritt, werden grundsätzlich suchtgefährdete Personen vom Heilschlaf ausge-

schlossen. Das gleiche gilt für Kin- der unter 14 Jahren. Nach einer kurzen Pflegepause und Flüssig- keitsaufnahme erhält der Patient eine zweite Injektion an derselben Körperstelle, jedoch dieses Mal ohne Wirkstoff nur als physiologi- sche Kochsalzlösung oder injizier- bares Vitaminpräparat. Diese Maß- nahme dient zur Einspielung eines bedingten Schlafreflexes. Am Abend findet die zweite und letzte Morphin-Atropin-lnjektion wieder an derselben Körperstelle statt.

Wegen ihrer schmerz- und husten- reizlindernden Wirkung sichert sie wiederum einen heilsamen Schlaf bis zum nächsten Morgen.

Wer sicherstellen will, daß auch bei Tage noch einige Stunden wei- tergeschlafen wird, kann die Be- handlung mit einer Kochsalz- oder Vitamin-Injektion wiederum an der gleichen Körperstelle abschließen und damit den bedingten Reflex ausklingen lassen.

Die Erfolgsquote dieser Schlaf- therapie ist hoch, wenn sie mit wachsender persönlicher Erfah- rung des Hausarztes individuell modifiziert wird.

Dr. med. Kurt Weidner Lechnerstraße 31 8026 Ebenhausen

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