A 334 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 7|
18. Februar 2011 Dass ein Patient mehr ist als dieSumme von Messwerten und Un- tersuchungsergebnissen, ist ei- gentlich ein alter Hut. Und trotz- dem: In der täglichen ärztlichen Arbeit geht dieser Gedanke oft un- ter – sei es nun aus Zeitmangel oder weil es den „Fall“ kompli- ziert macht. Die Implementierung eines bio-psycho-sozialen Krank- heitsmodells halten viele Ärzte unter den jetzigen Rahmenbedin- gungen ohnehin für nicht realis- tisch. Gleichzeitig bestreitet aber kaum jemand den Einfluss psy- chischer Faktoren auf Krankheit.
Ein Paradebeispiel dafür dürfte der Rückenschmerz sein.
Seitdem der „Uexküll“ – das Standardwerk psychosomatischer Medizin – 1979 erstmals erschien, ist viel passiert. Zwischenzeitlich war schon von einer „Helicobakte- risierung psychosomatischer Kon- PSYCHOSOMATIK
Keine Angst vor der Komplexität
zepte“ die Rede. Zugleich ist aber in den vergangenen Jahren die Ak- zeptanz von Psychotherapie enorm gestiegen. Und Thure von Uexkülls († 2004) Konzept einer „Integrier- ten Heilkunde“ hat nicht an Aktua- lität verloren.
In der nun erschienenen siebten Auflage zeigt sich der „Uexküll“
mit einem neuen Gesicht. 75 der 108 Kapitel wurden neu verfasst.
Viele Themen wurden erstmals auf- genommen – zum Beispiel Epige- netik, Gendermedizin und Palliativ- medizin. Der Bereich Diagnostik einschließlich psychologischer Testverfahren ist differenzierter und ausführlicher. Auch der Abschnitt zur Therapie wurde erheblich er- weitert und überarbeitet.
Der „Uexküll“ richtet sich nicht nur an Ärzte, die psychotherapeu- tisch arbeiten, sondern im Prinzip an alle in der Patientenversorgung.
Thure von Uexküll:
Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Mit Zugang zum Elsevier-Portal.
7. Auflage. Urban &
Fischer, Elsevier GmbH, München 2011, 1352 Seiten, gebunden, 176 Euro
Claudia Witt (Hrsg.):
Der gute Arzt aus interdisziplinärer Sicht. Ergebnisse eines Expertentreffens.
KVC Verlag, Essen 2010, 257 Seiten, kartoniert, 19,80 Euro
Das unterstreicht die Aufteilung der Kapitel im Abschnitt Klinik, zum einen in Krank- heitsbilder – von Anore- xie über Herzinsuffi- zienz bis HIV –, zum an- deren in Fächer – von Onkologie über Hals- Nasen-Ohren-Heilkunde bis Intensivmedizin.
Das Buch schafft den Spagat, einerseits neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu integrieren, ande- rerseits auch dem Thema Subjek- tivität Raum zu lassen. Das spie- gelt den Anspruch wider, auf dem neuesten Stand der Forschung zu sein, zugleich aber auch patien- tenzentriert zu arbeiten. Damit könnte der „Uexküll“ sogar dem, der sich manchmal nicht mehr daran erinnern kann, warum der Arztberuf so spannend ist, bei der Suche nach Antworten helfen.
Birgit Hibbeler Das Buch ist aus mehreren Gründen
bemerkenswert. Nur ganz wenige Artikel sind von Ärztinnen oder Ärzten verfasst – das Thema, das für die Akzeptanz des medizini- schen Systems so wichtig ist und in der medizinischen Ausbildung merkwürdigerweise immer etwas im Schatten steht, ist offensichtlich ein primär sozialwissenschaftliches geworden. Da Claudia Witt, selbst studierte Ärztin, an der Charité ei- nen Stiftungslehrstuhl für Kom - plementärmedizin hat und das Buch in einem homöopathieorientierten Verlag erschien, ist es nicht ver- wunderlich, dass in vielen Beiträ- gen alternative Therapiekonzepte und Medizinkonzepte als absolut gleichwertige, in jedem Fall positi- ve Beispiele für all das gesehen werden, was in der positivistisch- technisch akzentuierten „Schulme- dizin“ zu kurz kommt. Hier werden sich die Geister scheiden. „Schul- medizinern“ – der umstrittene Be- ÄRZTLICHE GRUNDHALTUNG
Breite Unzufriedenheit
griff sei hier erlaubt – dürfte hier klarwerden, dass die Ökonomisie- rung der Medizin, die auch sie nicht wollten, aus Patientensicht vor al- lem die ärztliche Empa- thie und Dialogkultur er- schweren. Hier ist der Punkt, wo alle im Ge- sundheitssystem Tätigen am gleichen Strang zie- hen sollten.
Das Thema und die Diskussion über den guten Arzt sind nicht neu. Doch lohnt es, im- mer wieder an diese Schwachstel- len des Systems zu erinnern, Ge- fahren in beiden Richtungen zu verdeutlichen und die strukturel- len Voraussetzungen für einen würdigen Dialog zwischen Arzt und Patient einzufordern. Fachli- che Kompetenz ohne „Selbstver- gewisserung“ ist, wie der Präsi- dent der Bundesärztekammer, der zunehmend Sympathien für alter- nativmedizinische Modelle zeigt, im Vorwort unterstreicht, proble-
matisch. Der Nukleus der Medizin ist eben nicht das Labor, sondern die Begegnung zwischen einem fä- higen Arzt und einem hilfesuchen- den, oft verzweifelten Patienten, der eben kein Kunde ist, wie im- mer wieder suggeriert wird. Es ist wahrscheinlich, dass eine be- stimmte Arztpersönlichkeit – neue- re Studien deuten dies an – Hei- lungsprozesse, zumindest aber das subjektive Wohlbefinden von Kranken fördert.
Das Buch gibt, von nützlichen Wiederholungen alter Forderungen abgesehen, viele Anregungen und Informationen und dokumentiert nicht zuletzt eine breite Unzufrie- denheit, was die äußere Form, aber auch Inhalte medizinischer Be- handlungen betrifft. Keine Frage:
Kommunikativen und psychosozia- len Fähigkeiten kommt neben der naturwissenschaftlichen Fachkom- petenz eine entscheidende Bedeu- tung zu. Die Frage ist nur, auf wel- cher wissenschaftsideologischen Basis man die Situation bessern will. Klaus Bergdolt