Schwerste Form eines zerebralen Insults ist die intrazerebrale Mas- senblutung. Sie wird bei 10 bis 15 Prozent aller Patienten mit ei- nem Insult diagnostiziert bei Au- topsien sind es über 50 Prozent Todesursache sind primäre Zerstö- rung vitaler Hirnstrukturen und/
oder ihre sekundäre Schädigung durch intrakranielle Drucksteige- rung und Zirkulationsstörungen.
Die Ätiologie spontaner Hirnblutun- gen (Tabelle 1) ist zwar vielgestal- tig, wird aber doch von wenigen allgemeinen und primär intrazere- bralen Erkrankungen bestimmt.
Wichtigste Ursachen sind mit 75 Prozent Hypertonie und Arterio- sklerose. Auf andere Gefäßerkran-
kungen und Blutkrankheiten, ein- schließlich der zunehmenden Zahl von Hämatomen nach Antikoagu- lantien-Therapie, entfallen zehn Prozent. Größere Bedeutung haben ferner intrazerebrale Gefäßmißbil- dungen (Aneurysmen und Angi- ome), eine geringere Hirntumoren.
In gemischten klinischen Zusam- menstellungen nimmt der Anteil der Hypertonie zugunsten von ze- rebralen Gefäßmißbildungen ab, in rein neurochirurgischem Kranken- gut sind letztere mit über 50 Pro- zent führend.
Die Lokalisation der Hirnblutungen ist für das therapeutische Vorge- hen bestimmend. Hypertonische Massenblutungen treten bevorzugt
in den Stammganglien (klassische
„Striatum-Apoplexie") auf; sie nei- gen dazu, in innere Kapsel und Ventrikel einzubrechen (80 bis 90 Prozent der tödlich verlaufenden Fälle). Angiographie und operative Maßnahmen sind bei derartigen Blutungen nicht indiziert.
Der operativen Therapie zugäng- lich sind dagegen die lateralen, au- ßerhalb der inneren Kapsel und die in den Hirnlappen lokalisierten Hämatome (Abbildung 1). Sie tre- ten in 30 Prozent der Hypertonie- blutungen sowie bei Hämatomen anderer Ätiologie auf. Bei einem Teil der „atypischen" Hämatome sind oft schwer nachweisbare Mi- kroangiome die Blutungsquelle.
Der Ventrikeleinbruch (siehe Ab- bildung 2) kommt als tödlich ver- laufende totale Ventrikeltamponade vor. Umschriebene Blutansammlun- gen (partielle Ventrikeltamponade) und intraventrikuläre Hämorrhagien ohne Hämatomcharakter sind pro- gnostisch günstiger und der Be- handlung zugänglich geworden.
Die Altersverteilung erlaubt gewis- se ätiologische Rückschlüsse (Ta- belle 2), Hypertonieblutungen tre- ten vor allem jenseits des 60. Le- bensjahres, Angiomblutungen bis zum 40. Lebensjahr und Aneurys- mablutungen im fünften und sech- sten Dezennium auf. Die zum Teil vorhandenen größeren Abweichun- gen zeigen, daß im Einzelfall das
1) Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer
Die operative Behandlung
der spontanen Massenblutungen des Gehirns
Hans Werner Pia')
Aus der Neurochirurgischen Universitätsklinik Gießen (Direktor: Professor Dr. med. Hans Werner Pia)
Diagnose und Ätiologie spontaner intrazerebraler Hämatome sind klinisch durch Echoenzephalogramm und Angiographie zu sichern.
Die operative Entleerung führt bei Gefäßmißbildungen mit ihrer gleichzeitigen Ausschaltung zur Hämatomheilung. Die operative Be- handlung der Hämatome in den Stammganglien, der klassischen
„Striatum-Apoplexie", ist nicht möglich. Gleiches gilt für Kranke mit irreversibler Schädigung des Hirnstamms; Verlegung. Angiographie und Operation sind kontraindiziert. Nur durch sofortige und perma- nente Kooperation und Koordination von praktizierendem Arzt, In- ternist, Neurologen und bei Hämatomverdacht vom Neurochirurgen.
werden gezielte Verlegung sowie optimale Akut- und Dauertherapie einschließlich operativer Behandlung möglich und die erforderliche Nachbetreuung gewährleistet. Der Aufbau eines derart gestuften diagnostischen und therapeutischen Behandlungsplanes ist, gemes- sen an der großen Zahl zerebraler Gefäßschäden, vordringlich.
Abbildung 1: Capsulo-laterale Hypertonie-Massenblutung
Abbildung 2: Angiographischer Befund bei einem atypischen Hypertonie-Hämatom des Okzipitallappens. Auf dem Karotis-Angiogramm (oben) und dem Vertebralis- Angiogramm (unten) bleibt jeweils ein dreieckiger Bezirk gefäßfrei
Lebensalter für den Verlauf der Krankheit ebensowenig bestim- mend ist wie ihre Ätiologie und Lo- kalisation.
Angriffspunkt für die operative Be- handlung sind die umschriebenen, raumverdrängend wirkenden Hä- matome in der Marksubstanz, be-
ziehungsweise in den Hirnlappen.
Ihre Entleerung verringert das Vo- lumen in der Schädelhöhle, besei- tigt die intrakranielle Drucksteige- rung und verhindert die Ausbil- dung sekundärer Hirnstammschä- den. Operative Maßnahmen sind in allen Fällen mit primärer Zerstö- rung oder sekundärer irreversibler
Schädigung der vitalen Hirnstamm- strukturen kontraindiziert.
Vordringliche Maßnahmen
Bei jedem Insult ist die Feststel- lung eines Hämatoms, seiner Loka- lisation, Ausdehnung und Ätiologie vordringlich. Nach den in der Gie- ßener Klinik gesammelten Erfah- rungen ist die gemeinsame, mög- lichst gleichzeitige konsiliarische Untersuchung am Krankenbett von Internisten und Neurologen, und bei Hämatom-Verdacht vom Neu- rochirurgen wichtig. Klinik und Dif- ferentialdiagnose zerebraler Insulte wurden bereits besprochen e).
Die Echoenzephalographie (Abbil- dung 3) sichert mit einer Verlage- rung des Mittelechos (M) den raumverdrängenden Prozeß im Be- reich des Großhirns und die befal- lene Seite. Der erfahrene Untersu- cher kann in besonders günstig ge- lagerten Fällen aus zusätzlichen pathologischen Schallreflexionen (H) auf ein Hämatom und seine Ausdehnung schließen. Da die sehr seltenen Kleinhirnblutungen früh- zeitig zu einem Verschlußhydroze- phalus führen, ist eine Erweiterung des dritten Ventrikels im Echoen- zephalogramm zusammen mit den klinischen Befunden wichtiges In- diz, das weitere Spezialuntersu- chungen veranlassen muß. Jeder- zeit mögliche Kontrolluntersuchun- gen des Echoenzephalogramms geben Aufschluß über Entstehung, Verstärkung und Rückbildung von Hämatomen und sind zur Abgren- zung von Erweichungen und Hä- matomen von Nutzen.
Zerebrale Angiographie
Wurde ein raumverdrängender Pro- zeß gesichert und liegen keine Zei- chen einer irreversiblen Schädi- gung vor, muß die zerebrale Angio- graphie sofort angeschlossen wer- den. Mit ihr kann auch in atypi- schen Fällen (Abbildung 4) an ei-
2) DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 13/1973, Seite 828
47 26 75
Allgemeine Hypertonie/
extrazerebrale Arteriosklerose
Sammelstatistik Autopsien
N 1200
Sammelstatistik Klinisches Krankengut
N 1100
Krankengut der Neurochirurgischen
Universitätsklinik Gießen
N 251
Erkrankungen Andere Gefäß-
krankheiten 2,5 0,5
Blutkrankheiten andere/unbekannt
6 2
Intrazerebrale Erkrankungen
Aneurysmen Angiome Tumoren
19 35 11 65 19
1 42 22 9
3,5 2,2 14,7
2 6 35 8,5
58 1,8
85,3 Tabelle 1: Ätiologie spontaner Hirnblutungen
Tabelle 2: Altersverteilung spontaner Hirnblutungen
bis 40 Jahre bis 60 Jahre über 60 Jahre
Hypertonie 4 35 60
Aneurysmen
9 30 20
Angiome 69 13 4
Tumoren
10 12 10
Andere 8 10 6
ner Gefäßverlagerung und einem gefäßfreien Raum ein Hämatom er- kannt und seine Lokalisation und Ausdehnung bestimmt werden. Bei Gefäßmißbildungen, Angiomen (Ab- bildung 5) und Aneurysmen so- wie Gefäßerkrankungen — wie Ar- teriosklerose, Gefäßverschlüsse — kann man zugleich die Ursache klären.
Operation
Die operative Behandlung bei Hirn- massenblutung stellt keine beson- deren technischen Anforderungen;
die Letalitätsquote ist daher bei diesen Eingriffen sehr niedrig.
Unsere Bemühungen, den tödli- chen Verlauf von schweren, per-
akuten Blutungen durch Bohrloch- trepanation in Lokalanästhesie, Punktion, Drainage und Spülung des Hämatoms zu verhindern, blie- ben, abgesehen von Einzelfällen bei Angiomblutungen, erfolglos.
Methode der Wahl ist die breite osteoplastische Trepanation mit Spaltung des Hirnmantels über dem Hämatom und seine Entlee- rung (Abbildung 6 a). Liegt ein Ventrikeleinbruch mit Teiltampona- de vor, sind Ventrikelriß sowie Hämatom darzustellen (Abbildung 6 b) und das Hämatom auszuspü- len (Abbildung 6 c).
Der Eingriff schließt bei Aneurys- ma- und Angiomblutungen das Ausschalten der Gefäßmißbildung
durch einen Silberclip-Verschluß des Aneurysmahalses 3 ) oder eine Totalexstirpation des Angioms ein.
Dieser Eingriff ist technisch schwierig und nicht ohne Risiko.
Für den Kranken bedeutet die er- folgreiche Ausschaltung zugleich die Heilung von seinem Gefäßlei- den. In allen übrigen Fällen, vor al- lem bei Hypertonieblutungen, wer- den mit der Hämatomentleerung nur die Folgen der Gefäßerkran- kung beseitigt.
Prognose
Die Prognose der operativen Be- handlung von Hämatomen wird von
3) DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 43/1967, Seite 2265
Abbildung 3: Echoenzephalogramm der Massenblutung von Abbildung 1. Oben rechts: Verschiebung des Mittelechos (M) von links nach rechts um einen Zenti- meter. Auf der linken Seite erscheinen bei Beschallung von rechts (R) und links (L) jeweils auf .der linken Seite, dem Hämaton entsprechend, Reflexionen, Häma- tomkomplex-Echos (H), die mit einer Tiefe von etwa drei bis vier Zentimeter die Ausdehnung des Hämatoms anzeigen
Abbildung 4: Angiogramm eines arteriovenösen Rankenangioms parietal mit riesi- ger Massenblutung, die sich in Form eines großen rundlichen gefäßarmen Bezir- kes, besonders auf den venösen Bildern darstellt
Sitz, Ausdehnung und Akuität und weniger von Ätiologie und Lebens- alter des Kranken bestimmt. Ver- schlechtert wird die Prognose, wenn zentrale vegetative und me- tabolische Dysregulationen beste- hen oder wenn Herz-Kreislauf-Sy- stem, Lungen und Nieren vorge- schädigt sind.
Vergleicht man Auftreten sowie Schwere des zerebralen Allgemein- syndroms (Bewußtseinsstörung, Pupillenreaktion, Tonus, zentrale Regulationen) mit dem Lokalsyn- drom (Halbseitenlähmung, Apha- sie, Hemianopsie) in einer Zusam- menstellung (Tabelle 3), wird deut- lich, daß die Prognose bei perakut auftretenden (innerhalb von 24 Stunden) Hypertonie- und Aneurys- mahämatomen infaust ist. Wir konnten nur ein Kind retten, bei dem ein Aneurysma rupturierte und sich während der Operation ein Hämatom im Frontallappen mit Ventrikeleinbruch entwickelte. Eine verhältnismäßig günstige Prognose haben nur die jüngeren Angiom- patienten.
Bei akuten Verlaufsformen (zwei bis sieben Tage) ist die Prognose besser. Die Hälfte der Kranken mit Hypertonieblutungen und die mei- sten mit Angiomblutungen werden erfolgreich behandelt. Bei letzteren wird, wie bei den Aneurysmen, gleichzeitig die Gefäßmißbildung ausgeschaltet.
Subakute und chronische Verlaufs- formen (über zwei Wochen) mit apoplektiformer oder pseudotumo- raler Entstehung und Entwicklung sind im Sinne des klassischen In- sults eher atypisch; ihre Frequenz in allen Gruppen unseres Kranken- gutes belegt aber ihre praktische Bedeutung. Die Prognose ist — ge- messen an den Grundleiden — be- friedigend bis gut, am günstigsten bei Angiomen.
Die Bedeutung von Sitz, Ausdeh-
nung und Ätiologie, gleichzeitig
aber auch einer gezielten operati-
ven Behandlung ergibt sich bei den
Ventrikelblutungen. I>
nach Stabili- + sierung
2. Woche
Ende 1. Woche 2. Woche
++
sofort sofortBlutung + +
Allgemein- Lokal- syndrom syndrom Jede Ätiologie + + +
Echo- enzephalogramm
Mittelecho
Angiogramm Operation Zeitpunkt Zeitpunkt
Sub-
arachnoidal-
2. bis 3.
Woche
++
sofort
+ +
sofort wenn mög- lich nach Stabili- sierung 2. bis 3.
Woche Hypertonie
Arterio- sklerose
Hohes Lebensalter Kinder und Patienten mittleren Lebensalters
2. Woche
+ 1. Woche
Tabelle 3: Prognose von 174 Patienten mit Hirnblutungen. Aus der Neurochirurgischen Universitätsklinik Gießen
Perakut Akut Subakut und chronisch
N
Hypertonie 17 17
Aneurysmen 20 19
Angiome 6 2
N 21 3 22
11 1 3
N 26 24 35
9 12 5
Tabelle 4: Indikation und Kontraindikation
Alle 32 Patienten mit totalem Hä- matozephalus jeder Ätiologie star- ben. Von 38 Kranken mit Hyperto- nie- und Aneurysma-Hämatomen und partiellem Hämatozephalus und Ventrikelhämorrhagie konnten 18 gerettet werden. Am günstigsten war die Prognose bei Angiomblu- tungen: hier überlebten von 44 Kranken 38.
Die Spätprognose hängt vom Grundleiden und einem etwaig vor- handenen Defektsyndrom ab. Sie ist bei Angiomen und Aneurysmen sehr gut, bei Hypertonieblutungen mit mehrjährigem Überleben be- friedigend.
Indikation und Kontraindikation zur operativen Behandlung der intraze-
rebralen Hämatome sind nach den eigenen Erfahrungen ziemlich gut zu beurteilen (Tabelle 4).
Der perakute und akute Insult mit sehr schwerem Allgemeinsyndrom (Koma, herabgesetzter oder fehlen- der Pupillenreaktion, Atonie, zen- tralen Kreislauf- und Atemstörun- gen) und Halbseitenausfall ist un-
• Stammganglien 21%
**
Parieta-temporo -occipital 21%Abbildung 5: Lokafisation und Verteilung spontaner intrazerebraler Hämato- me
Intraventrikuläre Blutungen
A f1aematocephalus totalis (komplette intraventrrkulare
Tamponade)
Aneurysma der A. comm. ant.
B Haematocephalus partialis
partielle intraventrikuläre C Intraventrikuläre
Tamponade Hämmorhagie
Plexus- tamponade
Intrazerebrales
Hämatom arterie-venöses
Angiom
Abbildungen 6 a bis c: Intrazerebrales und intraventrikuläres Hämatom:
Nach Kortexspaltung Vorquellung der Hämatommassen (a). Nach Entlee- rung des intrazerebralen Hämatoms und Darstellung des Ventrikelrisses wird das Hämatom im Seitenventrikel sichtbar (b). Nach Entleerung des Hämatoms ist der Seitenventrikel frei. Medial der sich in den Vefltrikel vor- wölbende Thalamusteil (c)
beeinflußbar. Für diese Patienten gilt:
..,.. kein Transport, ..,.. keine Angiographie, ..,.. keine Operation.
Bei Insulten alter Menschen mit er- wiesener Hypertonie und Arterio- sklerose sind Spezialuntersuchun- gen und Operation nur bei stabilen oder stabilisierten zentralen Regu- lationen und nachgewiesener intra- kranieller Drucksteigerung ange- zeigt; sie dürfen nicht vor Ablauf der ersten Woche nach Eintreten des Insults vorgenommen werden.
Für sie gilt:
..,.. nach telefonischem Konsilium baldige Einweisung in die Medizini- sche oder Neurologische Klinik.
..,.. Konsilium mit Echoenzephalo- gramm,
..,.. Arteriographie in der zweiten Woche nach dem Insult,
..,.. Operation bei lokalisiertem Lap- penhämatom.
Kinder und Erwachsene mit Insult gehören sofort - außer bei äu- ßerst schwerem Allgemeinsyndrom - in klinische Behandlung! Für sie gilt:
..,.. telefonisches Konsilium und so- fortige Einweisung in die Neurolo- gische und/oder Neurochirurgi- sche Klinik,
..,.. sofortige Arteriographie und ge- gebenenfalls Operation.
Kranke mit Subarachnoidalblutun- gen (60 Prozent Gefäßmißbildun- gen) sind immer möglichst bald in die Klinik einzuweisen. Für sie gilt:
..,.. telefonisches Konsilium und baldige Einweisung zu Arteriogra- phie und Operation in die Neuro- chirurgische Klinik.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Hans Werner Pia 6300 Gießen
Klinikstraße 37