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Archiv "HIV/Aids in Russland: Moskaus verlassene Kinder" (27.02.2004)

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as kleine Mädchen in dem Gitter- bett rollt sich monoton hin und her, immer wieder. Es ist still in dem Krankenhauszimmerchen: Drei einjährige Kinder verbringen hier ihre Tage, ihr ganzes Leben schon. „Hallo, ihr Süßen“, sagt Ludmilla Fedotova und schaltet einen Kassettenrecorder an.

Klaviermusik erklingt, und drei Paar große Augen richten sich auf die Mitar- beiterin der Caritas Moskau, die sich gerade Gummihandschuhe überstreift.

Vorsichtig hebt sie eines der Kinder aus dem Metallbettchen und legt es auf eine Matte, um es an Kopf und Ohren zu massieren. Das Kind gluckst fröhlich.

Allzu viele Zärtlichkeiten bekom- men diese Kinder nicht. Sie tragen das HI-Virus in sich, ihre Mütter haben sie im Krankenhaus zurückgelassen. Fedo- tova besucht dreimal wöchentlich die HIV-positiven Kinder im Moskauer Krankenhaus für Infektionskrankhei- ten. Das Personal und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sind die einzigen Bezugspersonen der Kleinen.

35 Kinder leben zurzeit auf der Station, zwei davon sind schon fünf Jahre alt. Sie haben ihr gesamtes Leben hier ver- bracht. Ihre Mütter, meist Drogenab- hängige, ließen sie oft schon nach der Geburt allein. Kinderheime mit Fach- personal, das sich mit der Medikation und Betreuung von HIV-infizierten Kindern auskennt, gibt es bislang nicht.

Nur in Kaliningrad wurde ein solches Haus kürzlich eröffnet. In Moskau wur- de das erste Heim nach wenigen Wo- chen wegen Baumängeln wieder ge- schlossen. Diese sollen jetzt behoben

sein. So werden die Moskauer Kranken- haus-Kinder bald erstmals außerhalb der Klinikmauern leben – für die Stadt ein Präzedenzfall. Denn der Umgang mit HIV-Infizierten und Aidskranken ist für Russland noch neu.

Doch nirgendwo, nicht einmal in Afrika südlich der Sahara, verbreitet sich nach Ansicht von Experten die Epidemie so rasend schnell wie in Ost- europa. Um 70 Prozent sei die Zahl der Infektionen in Russland, der Ukraine und den anderen ehemaligen Staaten der Sowjetunion innerhalb eines Jahres gestiegen, sagt die Aids-Organisation der Vereinten Nationen, UNAIDS. Sie spricht von einer „massiven Aids-Kri- se“. 1998 waren in Russland offiziell knapp 11 000 HIV-Positive registriert.

Heute sind es fast 257 000. Allein in Moskau sind mindestens 15 300 Men- schen infiziert. Wie hoch die Dunkelzif- fer ist, weiß niemand. Viele der oft dro- genabhängigen Infizierten scheuen sich vor der Behandlung, die sie nicht an- onym vornehmen lassen können.Vadim Pokrovsky, Direktor des russischen Zentrums für Aidsprävention, geht von einer Million Infizierten innerhalb der kommenden zwei Jahre aus. Nur in der Ukraine steigt die Zahl an Neuinfektio- nen noch schneller.

Doch die russische Regierung er- kennt nur langsam, dass sie etwas tun muss. Immerhin räumte Präsident Wla- dimir Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation im vergangenen Frühjahr ein, dass Aids ein wachsendes Problem für sein Land sei. Seitdem gibt es einen nationalen Rat zum Thema.

Doch finanziell schlägt sich das noch nicht zugunsten der Aids-Kranken und Infizierten nieder. Nach Angaben der Weltbank gibt Russland zurzeit rund 3,9 Millionen Dollar im Jahr für die Vor- beugung und Behandlung von Aids aus.

Brasilien zum Beispiel hat 300 Millio- nen US-Dollar für den Kampf gegen die Epidemie übrig.

„Bis vor einigen Jahren haben die Russen gedacht, die Sache erledigt sich von allein“, sagt Oksana Dolgih, Mitar- beiterin der Caritas und Leiterin des Betreuungsprojektes für HIV-infizierte Kinder. Aids galt als Problem von Randgruppen: Drogenabhängigen, Pro- stituierten und Homosexuellen. Die Kinder, die in Krankenhäusern dahin- vegetierten, würden sterben, bevor sie das Schulalter erreichten, dachten viele.

Es kam anders.

Unwissenheit und Vorurteile

„Ich werde bald fünf“, ruft Igor und streckt seine Finger in die Höhe. „Dann feiern wir Geburtstag.“ Gern hätte der Junge eine der riesigen Plastikpistolen, mit denen er am liebsten spielt. Da könn- te auch Anja mitmachen, die bereits fünf Jahre alt ist und nach Igors Ansicht viel zu oft bloß aus dem Fenster sieht. Für beide sind die dunkelgelben Kranken- hausflure und das kleine Spielzimmer des Krankenhauses seit jeher ihr Le- bensmittelpunkt. Da Moskau kostenfrei Kombinationstherapien an HIV-Infi- zierte vergibt, geht es den beiden gut.

„Das Virus ist in ihrem Blut nicht mehr T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 927. Februar 2004 AA559

HIV/Aids in Russland

Moskaus verlassene Kinder

Erst allmählich wächst ein Bewusstsein für das Ausmaß

der Aids-Epidemie.

Fotos:

Ann Kathrin Sost

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nachzuweisen“, sagt Vladskaya Julia Fe- dorovna, Leiterin der Abteilung für Vi- rologie. Die beiden könnten ein norma- les Leben führen, wenn ein Erwachsener auf die regelmäßige Einnahme der Me- dikamente achtet. Auch um die psychi- sche Gesundheit machen sich die Ärzte nicht allzu viele Sorgen. „Sie sprechen etwas einfachere Sätze als andere Kin- der in dem Alter, weil sie keine gleich- altrigen Freunde hier haben“, sagt Fe- dorovna. „Aber sie sind kommunikativ und neugierig, die wichtigste Vorausset- zung, um im Leben außerhalb des Kran- kenhauses zu bestehen.“ Ohne Hilfe wie vonseiten der Caritas hätte das viel be- schäftigte Krankenhauspersonal das nicht erreicht. „Wir haben gezielt darauf hingearbeitet, dass die Kinder ihre Schüchternheit verlieren und lernen, Neuem gegenüber offen zu sein“, sagt Caritas-Projektleiterin Dolgih. Es bleibt die Angst, dass ihnen das im Le- ben draußen wenig nützen wird.

Denn die meisten Russen sind al- les andere als aufgeschlossen ge- genüber HIV-Infizierten. „Das Wissen über Aids ist nicht allzu gut, die meisten fürchten eine An- steckung“, sagt Ärztin Fedorov- na. Das neue Heim für die infi- zierten Kinder wurde abgelegen in einen Moskauer Park hinein- gebaut. Zuvor hatte es massive Beschwerden von Anwohnern gegeben, die keine HIV-positiven Kinder in der Nachbarschaft ha- ben wollten.

Der Eiserne Vorhang schloss bis Anfang der 90er-Jahre auch das tödliche Virus weitgehend aus. Mit dem Ende des Kommunismus kamen jedoch Unsicherheit, Identitätskrisen, vielfach Arbeitslosigkeit und Armut.

Infolgedessen nahmen „soziale“ Krank- heiten zu: Tuberkulose, Hepatitis und auch HIV/Aids. Der größte Beschleuni- ger dafür war die rasante Verbreitung harter Drogen in Russland – auch diese ein post-kommunistisches Phänomen.

Ebenso nahm die Prostitution in den letzten Jahren rapide zu. Heute haben sich die Russen an den Anblick der leicht bekleideten Frauen gewöhnt, die sich nachts am Moskauer Tverskaja- Boulevard in teure Autos beugen. Auch der Gefahren, die der intime Kontakt mit diesen Frauen mit sich bringen

kann, sind sie sich meist bewusst. Doch dass sich Aids auch anderweitig aus- breitet, dämmert ihnen erst langsam.

Pedro Chequer von UNAIDS in Mos- kau spricht von einem „neuen Profil“

der Epidemie. „Die meisten Russen denken noch, für sie bestehe kein Risi- ko.“ Dabei sind schon lange nicht mehr nur Drogenabhängige und Prostituierte betroffen. Immer mehr infizieren sich beim Geschlechtsverkehr mit Partnern, die nicht zu diesen Milieus gehören.

Nach einer Studie der Yale-Universität sind in den Wohnheimen von St. Peters- burg bereits ein Prozent der Studenten HIV-positiv. In den Gefängnissen sollen etwa zwei Prozent infiziert sein.

Das Ausmaß des Problems wird Russland in seiner Dramatik wohl erst deutlich werden, wenn Tausende an Aids sterben. „Wir haben noch etwa zehn Jahre Zeit“, sagt Ilona van der

Braak von der Aids-Stiftung Ost-West.

Dann aber wird Aids zum unkalkulier- baren Problem für Russland.

Igor und Anja ist nicht bewusst, dass ihr Lebensweg ein besonderer ist. „Alle sind nett zu mir, mir geht es gut“, sagt Igor, während er mit Buntstiften auf Pa- pier kritzelt. Die Kinder in Moskau ha- ben Glück: In der Hauptstadt werden 80 Prozent des Bruttosozialprodukts er- wirtschaftet, Moskau ist reich. Die Klei- nen müssen sich keine Sorgen machen, dass sie keine Medikamente erhalten.

Außerhalb Moskaus sieht die Lage anders aus. 150 Kilometer nordwestlich, in der 500 000-Einwohner-Stadt Tver, kann man davon nur träumen. „Wir ma- chen hier eigentlich nur Bluttests und

sagen, positiv oder nicht“, gibt ein Arzt zu. Geld für antiretrovirale Mittel, etwa 9 000 Euro jährlich je Patient, ist nicht vorhanden. Es reicht nicht einmal für die normalen medizinischen Geräte.

Ständig hoffen die Ärzte hier auf aus- rangierte Tomographen, Röntgenappa- rate oder Ultraschallgeräte aus dem Westen, denn ihr Budget reicht nicht für das Nötigste – schon gar nicht für anti- retrovirale Mittel. Dabei hat nach russi- scher Gesetzeslage jeder HIV-Positive ein Recht auf kostenfreie Behandlung.

„So ist das mit Russland: Gesetze sind das eine, die Umsetzung das andere“, betont der Arzt aus Tver.

Doch auch der Reichtum in Moskau ist begrenzt: Wo es noch für Medika- mente und Essen für die Kinder reicht, da wird an Kleidung, vitaminreicher Kost und vor allem an Zuwendung ge- spart. Windeln, Obst oder Winterstiefel werden von der Caritas gestellt.

Nebenbei sammeln Oksana Dol- gih und ihre Mitarbeiter Zeich- nungen, Fotos und Informatio- nen über jedes Kind. „Wir wol- len, dass jedes von ihnen eine in- dividuelle Vergangenheit hat, und wenn es noch so wenig zu berichten gibt“, sagt Dolgih. Sie sorgt sich, dass all das in dem neuen Kinderheim nicht mehr zählt. Denn Heime werden im- mer noch nach alter Sowjet-Art geführt: Es zählt das Kollektiv, das sich benehmen kann. Eigene Wünsche werden nicht gehört, Geburtstage monatlich an einem Tag abgefeiert. Dolgih hofft des- halb auf Familien, die ihre Schützlinge adoptieren: „Eine Familie ist das Beste, was einem Kind passieren kann.“

Ludmilla Fedotova hat die drei Babys massiert. Sie sind jetzt ruhiger, rollen sich nicht mehr hin und her. „Es tut gut zu se- hen, dass ich etwas für sie tun kann“, sagt sie. Ihren Sohn, einen Psychologen, hat sie auch überzeugen können, ohne Be- zahlung einen Teil seiner Freizeit mit den Kindern zu verbringen. Dass dies kein Ersatz für Eltern sein kann, weiß sie auch, und es macht sie jedes Mal traurig.

Wenn sie die Tür hinter sich schließt, wird wieder Stille sein um die drei in ihren Git- terbetten. Bis der nächste Freiwillige kommt, der sich für eine halbe Stunde ih- rer annehmen kann. Ann Kathrin Sost T H E M E N D E R Z E I T

A

A560 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 927. Februar 2004

Den Mangel an Zuwendung für die HIV-infizierten Kinder ver- sucht Ludmilla Fedotova durch ihre Besuche auszugleichen.

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