Multimorbidität
Da das der Untersuchung zugrun- de liegende Datenmaterial - wie schon ausgeführt - akute Erkran- kungen praktisch ausschloß, sind diese in der Analyse auch nicht enthalten. Wollte man sie erfassen, wäre eine ganz neue, ebenso um- fangreiche Ausgangsuntersuchung notwendig, was uns aber aus ver- schiedenen Gründen wenig sinn- voll erscheint.
Die Pilot-Untersuchung wird an ähnlichen Datenbeständen unter Erprobung anderer Auswertungs- techniken fortgeführt. Wir legen hier also einen Ausschnitt aus Me- thode und Ergebnissen vor. Es geht uns dabei einmal darum, dar- auf hinzuweisen, daß auch Unter- suchungsergebnisse aus der Allge- meinpraxis der statistischen Aus- wertung zugänglich sind, ja ihrer bedürfen, um unter Umständen neue wissenschaftliche Erkenntnis- se zu eröffnen. Darüber hinaus sollten diese Mitteilungen dazu die- nen, die Kollegen in der Allgemein- praxis zu veranlassen, über die hier dargestellten Gruppen von Krankheiten nachzudenken und nach deren Existenz in ihrer eige- nen Praxis zu suchen.
Literatur bei den Verfassern
(Die Studie erscheint im Frühjahr 1976 in der Schriftenreihe des Zen- tralinstituts für die kassenärztliche Versorgung)
Anschriften der Verfasser:
Privatdozent
Dr. Wilhelm van Eimeren Wissenschaftlicher Rat am Institut
für Medizinische
Informationsverarbeitung Statistik und Biomathematik 8 München 70
Marchioninistraße 15 Professor
Dr. Siegtried Häusler Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin Universität Ulm 7 Stuttgart 70 Jahnstraße 30
Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen THEMEN DER ZEIT
Medizinische Publizistik als Gegenstand
von Forschung und Lehre
J. F. Volrad Deneke
Die ersten deutschsprachigen Ta- geszeitungen, der "Aviso" und die in Straßburg herausgegebene "Re- lation", erschienen im Jahre 1609.
Rund dreieinhalb Jahrhunderte später: Die Tageszeitungen in der Bundesrepublik Deutschland er- scheinen im Jahre 1973 mit einer Gesamtauflage von rund 18,5 Mil- lionen Exemplaren.
Die erste Zeitschrift in Deutschland erschien 1670 in lateinischer Spra- che in Leipzig. Sie hatte einen vor- wiegend naturwissenschaftlich-me- dizinischen Inhalt: "Miscellanea curiosa medico~physica". Die erste Zeitschrift in deutscher Sprache erschien zehn Jahre später 1680 in Hamburg, eine medizinische Zeit- schrift: "Monatliche neu eröffnete Anmerkungen über alle Teile der Arzneikunst". - Im Jahre 1973 hat- ten in der Bundesrepublik Deutsch- land die größten 60 Publikumszeit- schriften, die vorwiegend wöchent- lich, zum Teil monatlich erschei- nen, eine Gesamtauflage von 50 Millionen. Nach einer Berechnung von Bargmann in der "Zeitschrift für Bibliothekswesen" (1969) wird es im Jahre 1980 - also 300 Jahre nach Erscheinen der ersten deutschsprachigen medizinischen Zeitschrift - etwa 12 000 medizini- sche Zeitschriften in der Welt ge- ben mit jährlich ca. 500 000 Origi- nalaufsätzen.
Vor dem Ersten Weltkrieg entstand als Massenmedium neu der Stummfilm, nach dem Ersten Weit- krieg der Hörfunk, dann der Ton- film, und nach dem Zweiten Weit- krieg verbreitete sich das Fernse- hen. Der Hörfunk hatte 1972 in der
Bundesrepublik Deutschland über 19 Millionen Teilnehmer, das Fern- sehen zum gleichen Zeitpunkt na- hezu 17 Millionen Teilnehmer.
Wenn man berücksichtigt, daß die Hörfunk- und Fernsehapparate in großer Zahl von mehr als einer Person benutzt werden, dann ist in der Bundesrepublik für Hörfunk und Fernsehen eine "totale Publizi- tät" erreicht. Das gleiche gilt für Tageszeitungen; für Publikumszeit- schriften gilt, daß in der Regel je- der Bundesbürger, der lesen kann, mehr als nur eine Zeitschrift in der Woche bzw. im Monat liest. Die Frequenz der Filmbesuche - Un- terhaltungsfilm als Massenmedium - ging mit dem Aufkommen des Fernsehens stark zurück, scheint sich jedoch nun zu stabilisieren.
Mit diesen wenigen Zahlen und Da- ten ist die Größenordnung des Phänomens angedeutet, das Ge- genstand der Untersuchungen der Publizistik als Wissenschaft und damit auch der "Medizinischen Pu- blizistik" ist.
Arbeitsgebiete
der Medizinischen Publizistik Die wichtigsten Tätigkeitsfelder der Medizinischen Publizistik als Wis- senschaft lassen sich mit der von Harold Dwight Lassweil 1947 erst- mals vorgetragenen und 1948 erst- mals publizierten "Kommunika- tions-Formel" erfassen:
..,.. "Wer sagt was mit welchen Mit- teln zu wem und mit welcher Wir-
kung?" {>
DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 2 vom 8. Januar 1976 73
Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen Medizinische Publizistik
Die Formel geht auf antike Modelle der Rhetorik als einer antiken Pu-
blizistik-Wissenschaft zurück. Sie
läßt sich schematisch wie folgt darstellen (nach Wilmont Haacke, Publizistik und Gesellschaft, Stutt- gart 1970, Seite 81):
Who says what in which channel to whom with what effect control analysis
=
Kommunikator-Forschung content analysis
=
Aussageanalyse
media analysis =
Trägerforschung effect analysis =
Rezipientenforschung effect analysis =
Wirkungsforschung.
ln der Publizistik als Wissenschaft wird diese Kommunikationsformel auf die "Öffentliche" Kommunika- tion angewandt. Publizistikwissen- schaft ist danach ein Teilgebiet der Kommunikationswissenschaft, die sich mit den kommunikativen Wechselwirkungen und Kommuni-
kationsprozessen ("Dialog der Ge- sellschaft") beschäftigt. "Kommu- nikation bezeichnet das Miteinan- der von Mensch zu Mensch" (Karl Jaspers, Philosophie, 2. Auflage, Berlin - Göttingen - Heidelberg 1948, 2. Buch, 3. Kapitel: Kommuni- kation, Seite 338 bis 396). Nach einfacheren Definitionen bedeutet Kommunikation soviel wie "Ver- ständigung" durch Übermittlung von Information.
Kommunikationswissenschaft ist mit der Psychologie und Soziologie durch Grenzgebiete und Beobach- tungsverfahren engstens verbun- den. Dementsprechend ist "Medizi-
nische Publizistik" als Wissen- schaft engstens verbunden mit der
"Medizinischen Psychologie" und
der "Medizinischen Soziologie":
..,.. Medizinische Publizistik als Wis- senschaft ist die Forschung und Lehre von der öffentlichen Interak- tion medizinischer Bewußtseinsin- halte durch Massenkommunika- tionsmittel in Geschichte und Ge- genwart.
Enge Nachbarschaftsgebiete sind Informationstheorie, -psychologie und -verarbeitung sowie Pädagogik und Andragogik (Erwachsenenbil- dung) bis hin zur Linguistik und zur medizinischen Didaktik. Die Medi- zinische Publizistik als Wissen- schaft kann aber auch beachtliche Beiträge zur Medizingeschichte lei- sten.
1. Trägerforschung
Die "Trägerforschung" (in which
channel) beschäftigt sich mit ..,.. allen Presseerzeugnissen (Flug- blatt, Flugschrift, Buch, Zeitschrift, Zeitung und allen Zwischenformen und Variationen),
..,.. Hörfunk und Fernsehen, ..,.. Film,
..,.. Tonplatte, Tonband, Bildplatte und anderen audiovisuellen Trä- gern,
..,.. allen Formen des Medienver- bunds.
Medizinische Publizistik als Wis- senschaft hat dabei sowohl diejeni- gen publizistischen Träger zu er- forschen, die ausschließlich medi- zinisch·e Inhalte wiedergeben, wie zum Beispiel medizinische Fach- zeitschriften, als auch diejenigen Träger, die unter anderen Themen auch medizinische Themen behan-
deln. "Bei Untersuchungen des
Mittels oder Mediums selbst wer- den die sozialen, ökonomischen, juristischen und kulturellen Struk- turen der die Medien leitenden und bestimmenden Associationen und
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Organisationen und Institutionen erforscht" (Aifons Silbermann).
2. Kommunikatorforschung
"Die Untersuchungen des Kommu-
nikators sind darauf ausgerichtet, festzustellen, wer die Menschen
sind, die hinter den Medien stehen,
wie diese Gruppen sich strukturie-
ren, welchen Motivationen und wel-
chen ideologischen, geschmackli- chen oder künstlerischen Diktaten sie gehorchen" (Aifons Silber- mann).
Die Kommunikatorforschung hat sowohl die "Publizisten", die Auto- ren, Journalisten, Herausgeber und Verleger zu beobachten als auch die Personen und Institutionen, die als Politiker oder als politische Verbände Kommunikatorfunktio- nen erfüllen, als schließlich nicht zuletzt auch die gewerblichen Un- ternehmen, die durch Anzeigen publizistisch wirken.
Für die Kommunikatorforschung der Medizinischen Publizistik ist daher zum Beispiel auch die Phar- mazeutische Industrie in ihrer Rol- le als informierender und werben- der (meinungsbildender) Kornmuni- kater wichtiges Forschungsobjekt
3. Aussageanalyse
Eine zentrale Position in der Publi- zistik als Wissenschaft und dem- nach auch in der Medizinischen Publizistik nimmt die Inhaltsanaly- se ein. Hierbei gilt es zu erkunden
C> was die Medien thematisch ent-
halten,
C> woher der Anstoß kam, welcher
von den verbreiteten Inhalten aus- geht,
C> wie die umgebende, d. h. bereits
vorhandene, öffentliche Meinung beschaffen ist, auf die Einfluß ge- nommen werden soll,
C> welcher Art die Ursprünge von
Publikumsgeschmack und Vorur-
teilen sind, C>
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Medizinische Publizistik
1> welche Reizreaktionen auf expe- rimentalpsychologischem Wege er- kennbar sind (nach Wilmont Haacke, Publizistik und Gesell- schaft, Stuttgart 1970, Seite 94).
4. Rezipientenforschung
In diesem Bereich gilt es, das Ver- halten der „Empfänger von Medien- inhalten" zu untersuchen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß „Öffent- lichkeit" sehr differenziert ist. So unterscheidet beispielsweise die Informationspolitik der Bundesärz- tekammer und der Kassenärztli- chen Bundesvereinigung zwischen der
> allgemeinen Öffentlichkeit,
> Patienten-Öffentlichkeit,
> politisch interessierten Öffent- lichkeit (insbesondere sozial- und gesundheitspolitisch interessierten Öffentlichkeit),
I> ärztlichen Öffentlichkeit.
Dabei wird beachtet, daß Patienten sowohl quantitativ als auch qualita- tiv eine „Auslese" aus der allge- meinen Öffentlichkeit darstellen.
Spricht man zum Beispiel „die Öf- fentlichkeit" über die Wartezimmer der niedergelassenen Ärzte für All- gemeinmedizin an, so muß man wissen, daß hier im Vergleich zur Gesamtbevölkerung vorwiegend äl- tere Menschen angesprochen wer- den.
Bei der politisch interessierten Öf- fentlichkeit handelt es sich nicht nur um Parlamentarier, sondern auch um Verbandspolitiker und um solche Personen, die sich sachver- ständig mit bestimmten politischen Fragen beschäftigen.
Die „ärztliche Öffentlichkeit" ist beispielsweise besonders zu be- rücksichtigen, wenn es um Leser- analysen medizinischer Zeitschrif- ten geht. Hierbei kann es sich bei den Lesern hochspezialisierter Zeitschriften für eng umgrenzte Fachgebiete um eine sehr begrenz- te Öffentlichkeit handeln, während
beispielsweise allgemeine Fortbil- dungszeitschriften oder das DEUT- SCHE ÄRZTEBLATT alle zur Zeit rund 136 000 Ärzte in der Bundes- republik ansprechen.
Die Öffentlichkeitsbereiche greifen oft auch ineinander: Ärzte sind Teilgruppen der allgemeinen Öf- fentlichkeit, und die politisch inter- essierte Öffentlichkeit empfängt bedeutsame Impulse zum Beispiel aus fachspezifischen Öffentlichkei- ten.
5. Wirkungsforschung
Schließlich ist nach den Wirkungen der Massenkommunikation und ih- rer Medien zu fragen. Dabei ist im einzelnen immer zu unterscheiden zwischen
> Unterrichtung (Information),
> Meinungsbildung,
> Unterhaltung,
> soziale Orientierung (Sozialisa- tion).
Information ist Einprägen von Be- wußtseinsinhalten, und zwar sich selbst und anderen (Übertragung von Bewußtseinsinhalten); Informa- tion ist neben Materie und Energie ein Tertium sui generis. Art und Auswahl der Information steuert
bereits die Meinungsbildung.
Unterhaltung ist stets wesentliches Element der Publizistik; sie ent- scheidet darüber, ob „etwas an- kommt" oder nicht. In der Medizi- nischen Publizistik für Laien hat u. a. das Phänomen der medizini- schen Sensationsberichterstattung hier eine bedeutsame Wurzel.
Wesentliche Wirkung der Publizi- stik als öffentliche Kommunikation ist ihre gemeinschaftsbildende Kraft einerseits und andererseits das Einprägen sozialer Gesichts- punkte in die Persönlichkeitsstruk- tur der Leser, Hörer und sonstigen Medienempfänger. Die Sozialisa- tion durch öffentliche Kommunika- tion ist damit eine Wechselbezie- hung Individuum—Gesellschaft.
Zwischen den Kommunikatoren und den Medienempfängern findet Interaktion (Wechselwirkung) statt, wechselseitige Beeinflussung.
Journalisten bilden nicht nur Mei- nung, sondern geben auch öffentli- che Meinung wieder.
Zur Methodik der Medizinischen Publizistik als Wissenschaft
Die wichtigsten Forschungsmetho- den der Medizinischen Publizistik als Wissenschaft sind
1> Inhaltsanalysen,
> Meinungsforschung, Didaktik.
Innerhalb der Medizinischen Publi- zistik als Wissenschaft müssen die Inhaltsanalysen vor allen Dingen den medizinischen Inhalten quanti- tativ und qualitativ nachgehen.
Unter „medizinisch" wird dabei al- les verstanden, was „gesundheit- lich bedeutungsvoll" ist. Die Medi- zinische Publizistik kann sich inso- weit die Weiterentwicklung des Ge- sundheitsbegriffes der WHO durch den Deutschen Ärztetag 1974 zu ei- gen machen.
Die Methoden der Meinungsfor- schung sind nicht zuletzt von ge- werblichen Unternehmen entwik- kelt worden. Als Methoden der Marktforschung haben sie sich auch für die Wissenschaft von der Publizistik bewährt.
Bei der Didaktik ergeben sich enge Berührungspunkte zu Forschungs- ergebnissen und Lehrgegenstän- den der Pädagogik. Die neu ent- wickelte medizinische Didaktik kann insoweit auf reiches Erfah- rungsgut zurückgreifen, das es für Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung zu nutzen gilt.
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Professor J. F. Volrad Deneke 5 Köln 41 (Lindenthai)
Haedenkampstraße 1
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