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Archiv "Medizinische Forschung und Klinik: Von Menschenbild und Menschenwürde" (11.02.2000)

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ie medizinische Forschung stellt uns vor ethische und rechtliche Fragen, die nicht erst, wenn es um die klinische Anwen- dung geht, eine Antwort verlangen.

Die folgenden Ausführungen sollen sich auf die Frage konzentrieren, wo in der biomedizinischen Forschung das Menschenbild und die Menschen- würde eine Rolle spielen.

Wer heute eine Zeitung auf- schlägt, wird mit Meldungen konfron- tiert, die zum Beispiel lauten: „Das Humangenom – Spielball der For- scher“, „Herz aus der Retorte“ oder auch „Klinikärzte protestieren gegen das Klonen von Embryonen“.

Die wohl frappierendste Schlag- zeile der letzten Zeit lautete: „Mensch- liche Samenzellen von Ratten“. Ei- nem Forscher in Japan war es erstmals gelungen, Ratten und Mäuse zur Produktion von menschlichen Samen- zellen anzuregen. Weder Nutzen noch Reaktion der Gesellschaft auf das Ex- periment seien nach Angaben des beteiligten Wissenschaftlers geklärt.

„Die Verwendung von Sperma aus Tieren zur Zeugung gesunder Men- schen würde sicher bei vielen, auch bei mir, emotionale Konflikte hervor- rufen“, erklärte dieser.

Man muss also gar nicht den Jahr- tausendbegriff strapazieren, schon in diesem Jahrzehnt lassen die Entwick- lungen in Biomedizin und Biologie kei- nen Zweifel daran, dass die Frage, wo Menschenbild und Menschenwürde in Forschung und Klinik anzusiedeln sind, gestellt werden muss. Pluralität in der Forschung und die Globalisie- rung erschweren das Herausfinden von Leitmotiven für den biomedizini- schen Fortschritt. W. Krämer weist die- sem die Qualität einer „Fortschritts-

falle“ zu – das heißt einer unfinanzier- baren, um jeden Preis lebensverlän- gernden Hochtechnologiemedizin oh- ne Lebensqualität (MedizinRecht 1996;

1: 1–5). Immer neue Sensationsmel- dungen über angeblich bahnbrechen- de Diagnose- und Behandlungsme- thoden haben ein gesellschaftliches Phlegma mit allgemeiner Orientie- rungslosigkeit ausgelöst, welches eine gemeinsame Rückbesinnung auf ethi- sche Grundkonsense oder deren Aus- bildung dringend erfordert. Die ärztli- che Selbstverwaltung hat hier eine Schlüsselfunktion.

Auftrag der

Bundesärztekammer

Die Bundesärztekammer vertritt als Arbeitsgemeinschaft der 17 deut- schen Ärztekammern über 350 000 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland.

In verschiedenen Gremien adressiert die Bundesärztekammer gesamtgesell- schaftliche Themen. So hat der Wis- senschaftliche Beirat beispielsweise eine Reihe von Richtlinien und Stel- lungnahmen zur Gendiagnostik und zur Gentherapie bis hin zur Verwen- dung von menschlichen Stammzellen und zur Xenotransplantation ent- wickelt. Im „Ausschuss ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfra- gen“ sind Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung erarbeitet worden.

Seit den 70er-Jahren sind Ethikkom- missionen bei den Landesärztekam- mern und den Hochschulen eingerich- tet worden, die meist fallbezogene ethische Abwägungen, etwa bei klini- schen Studien, treffen, aber sich auch mit ethischen Fragen von gesamtge- sellschaftlicher Relevanz befassen.

Nach der Einrichtung der inter- disziplinär „Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebie- ten“ bei der Bundesärztekammer im Jahr 1995 ist eine verstärkte nationale Konsensbildung zu beobachten, die vertiefte Problemreflexion ermög- licht. Auch international gibt es Har- monisierungsbestrebungen. Hier sei beispielhaft die Deklaration von Hel- sinki des Weltärztebundes zur klini- schen Forschung genannt, aber auch die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates von 1997.

Allein professionsbezogene Kodi- zes können so nicht genügen, vielmehr ist bei zunehmender Spezialisierung und Subspezialisierung von Medizin und Biologie ein interdisziplinärer Ge- dankenaustausch über ethische Men- schenbilder in Forschung und Klinik zu führen. Da Biomedizin-Entwicklun- gen stark gesamtgesellschaftliche Re- levanz aufweisen, ist es nicht Sache von Wissenschaft und Medizin allein, fest- zuschreiben, welchen Bedingungen moralische Kategorien unterliegen sol- len. Der Diskurs braucht ebenso Juri- sten, Ethiker, Theologen, interessierte Fachöffentlichkeit und Journalisten – ärztliche Selbstverwaltung kann neben der Problem-Identifikation gemeinsa- me medizinisch-ethisch vertretbare Ziele vorgeben, die eine gesellschafts- verträgliche und -nützliche medizini- sche Forschung und klinische Medizin ermöglichen. Die Frage, was eine gesellschaftsverträgliche Gesundheits- versorgung beziehungsweise Gesund- heitsforschung ausmacht, ist in hohem Maße kulturabhängig. Demgegenüber ist rein faktische Entwicklung des biomedizinischen Wissenszuwachses ein relativ kulturindifferenter Prozess,

A-301 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 6, 11. Februar 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Medizinische Forschung und Klinik

Von Menschenbild und Menschenwürde

Der medizinische Fortschritt macht eine ethische

Grundsatzdiskussion erforderlich. Hierzu reicht medizinische Fachkompetenz allein nicht aus.

D

Stefan Winter

Christoph Fuchs

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der, gestützt auf neue Informations- technologie, praktizierte Globalisie- rung offenbart.

Wovon lassen sich die deutsche Ärzteschaft einerseits und die deutsche Wissenschaft andererseits bei For- schungsplanung und Forschungsan- wendung leiten? Zwischen der Ärzte- schaft und der Wissenschaft muss kein eigentlicher Gegensatz, gleichwohl mitunter ein Kommunikationsdefizit konstatiert werden. Wie kein zweites Gebiet ist die klinische Forschung glei- chermaßen abhängig vom Können der Ärzte und von dem der Grundlagen- wissenschaftler. Selten gelingt hier ein perfekter Synergismus, denn die bei- den Professionen zugrunde liegenden Leitbilder – auf der ärztlichen Seite das „Nil nocere“ und „Salus aegroti suprema lex“, verbunden mit dem Au- tonomie-, Fürsorge- und Gleichheits- prinzip, auf der anderen Seite die strenge Wissenschaft-

lichkeit mit „Proba- bility of success“ und

„Proof of evidence“

einschließlich des Pri- mats statistischer Si- gnifikanzen – sind von ihrer Genealogie nicht a priori deckungsgleich.

Und doch werden hier die Erfahrungswissen- schaft „Medizin“ und die experimentalorien- tierten Natur- oder Grundlagenwissen- schaften gegenüberge- stellt, was schon auf- grund ihrer unter- schiedlichen Entwick- lungsdauer problema- tisch ist. So wurzelt die Medizin in einer über mehr als zweieinhalb Jahrtausende währen- den Tradition. Demge- genüber sind die Na- turwissenschaften als exakt erfahrbare Wis-

senschaften erst seit gut 250 Jahren, also seit den Zeiten der Aufklärung, im Begriff, unser Weltbild zu transformie- ren. Der „Machbarkeitswahn“ resul- tiert aus der jüngeren Entwicklung der Naturwissenschaften, wohingegen die Medizin ursprünglich von jeher mehr den Geisteswissenschaften – und da- mit vielfach auch einem theologisch

geprägten Menschenbild – zuzuord- nen war. Die neuere Entwicklung der Genmedizin stellt hier einen gewissen Systembruch dar, auf den im Folgen- den eingegangen wird.

Genmedizin –

ein Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen?

Zu Beginn dieses Jahrzehntes wurde die Gentechnik und ihre An- wendung am Menschen zum Paradig- ma für einen Wertewandel in der Medi- zin erkoren. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die bereits im Jahr 2001 komplett zum Abschluss ge- kommen sein soll, hat nun dazu geführt, dass mittlerweile sehr viel mehr Krankheiten und Krankheits- dispositionen durch Gendiagnostik festgestellt werden können, als tatsäch-

lich therapierbar sind. Man spricht von einer so genannten diagnostisch-the- rapeutischen Schere. Viele Wissen- schaftler glauben, dass sich die thera- peutischen Möglichkeiten bald den dia- gnostischen werden angleichen kön- nen. Allerdings hat die bisherige Ent- wicklung mit Ausnahme einiger ermu- tigender Erfolge, zum Beispiel in der

Genmarkierung oder im Bereich der Therapie angeborener Immunmangel- krankheiten, keine statistisch signifi- kante Verbesserung durch genthera- peutische Methoden gezeigt. Deshalb hat die Erörterung über Chancen und Risiken der Gentherapie immer auch weitgehend antizipatorischen Charak- ter. Gegenwärtig kann die Gentherapie beim Menschen – auch angesichts der jüngsten Rückschläge in den Vereinig- ten Staaten – allenfalls als ein konzi- piertes Ziel angesehen werden. Die mit diesem Ziel verbundenen ethischen und juristischen Fragen sind zwischen Ärzteschaft und Politik in einem brei- ten gesellschaftlichen Diskurs erörtert worden, bevor es zu einer Anwendung der Gentherapie beim Menschen im größeren Rahmen gekommen ist.

Gentherapie als der Schritt von genetischer Diagnose zur gezielten Konstruktion menschlichen Erbgutes in Körperzellen kann im Prinzip zwei Zielrichtungen haben: einerseits Hei- lung, was Krankheits- und Leidens- druck voraussetzt, andererseits die Stei- gerung von Fähigkeiten (so genanntes enhancement). Dabei ist die soma- tische Gentherapie von Eingriffen in Keimbahnzellen zu unterscheiden.

Keimbahneingriffe sind nach dem Em- bryonenschutzgesetz in Deutschland sowie nach der europäischen Men- schenrechtskonvention zur Biomedi- zin verboten.

Die Diskussion um die Genthera- pie führt auch zu der Frage, ob und in- wieweit zunehmende Technisierung der Medizin ein mechanistisches Men- schenbild prägen wird: Vielleicht ist diese Frage Ausdruck menschlicher Hybris, die die biomedizinischen Mög- lichkeiten überschätzt. Gleichwohl be- steht kein Zweifel am hohen gesell- schaftsverändernden Potenzial neuer Technologien in der Medizin. So gera- ten durch die neuen Möglichkeiten der Gendiagnostik die Begriffe „Gesund- heit“ und „Krankheit“ in eine Schräg- lage. Das Wissen um genetische Dispo- sitionen für Erkrankungen macht uns auf einmal zwar nicht zu Patienten, aber doch nach englischem Sprachge- brauch zu „unpatients“, was das unge- duldige Warten auf den Ausbruch der Krankheit mit zum Ausdruck bringt – zu einem Zeitpunkt, zu dem noch kein Krankheitssymptom unser persönli- ches Wohlbefinden trübt. ✁

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T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Tabelle

Ethische Grenzbereiche neuer Technologien im Gesundheitswesen

Ressourcen-Allokation Intensivmedizin Transplantationsmedizin

Xenotransplantation Organersatz- – mechanisch methoden – zellbiologisch,

pluripot. Stammzellzüchtung Reproduktions- – Präimplantationsdiagnostik

medizin – Klonen

Molekulare Medizin – Prädiktive genetische Tests

> DNA-Chip-Technologie

> Pharmakogenomik – Keimbahneingriffe

Neurowissenschaften – Therapie mit fetalem Gewebe – Neurobionik

Mikromedizin – Biosensorik – Biorobotik Datenschutz (modifiziert nach Winter 1997)

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Die bekannten ethischen Über- einkünfte können nicht mehr alle Be- reich der modernen Medizin fassen.

Zu diesen gehören nicht nur die Gen- medizin, sondern auch die Transplan- tationsmedizin, Intensivmedizin, Re- produktionsmedizin, das heißt Fächer, die jeweils einen relativ konkreten Be- reich umschreiben, aber auch zuneh- mend solche interdisziplinären Felder wie die allgemeine Gesundheitsfürsor- ge und die Gesundheitsökonomie. Der Begriff „Allokation von Ressourcen“

hat eine zentrale Bedeutung in sehr vielen Bereichen der Medizin erhalten.

Schlüsselfunktion der Ärzte

Heute schon kommt der Gendia- gnostik in der prädiktiven Medizin so- wohl vor der Geburt als auch danach eine entscheidende Rolle zu. Dabei bleibt die Frage unbeantwortet, was wir mit einem Patienten machen, den wir über seine künftige tödliche Krankheit aufklären können, der aber ohne Diagnostik bis zum Auftreten der ersten Symptome unbeschwert gelebt hätte. Die Frage macht auch den Genetikern und Genetikberatern ihre Ohnmacht als Helfer bewusst.

Die Wissenschaft also, so hat es Carl Friedrich von Weizsäcker bereits 1990 formuliert, als „Religion unserer mo- dernen Zeit“ scheint an diesem Punk- te zu versagen. Die Genetik führt zu einer Verdinglichung subjektiver Schicksale, die in eine Art operationa- lisierbaren technischen Kontext gelan- gen. Dadurch kann eine zu vereinfach- te Betrachtungsweise über den Einzel- nen leicht in das Fahrwasser eines rein an so genannten sozioökonomischen Zwängen orientierten Pragmatismus gelangen. Die Grundfrage, die vor die- sem Hintergrund gestellt werden muss, lautet eben nicht nur: Wie sieht das Verhältnis zwischen einer Indivi- dualethik und einer Sozialethik in An- wendung auf Thematiken der Genme- dizin aus?, sondern auch: Lassen sich Individualethik und Sozialethik über- haupt gegeneinander abwägen, das heißt, darf die Sozialethik imstande sein, in bestimmten Fällen die Indivi- dualethik außer Kraft zu setzen?

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Präimplantationsdiagnostik, bei der die

Möglichkeiten der pränatalen Diagno- stik in Fällen genetischer Erkrankun- gen, die das Leben des geborenen Kin- des schwer beeinträchtigen oder mit dem Leben nicht vereinbar sind, auf die Ebene des Embryos vor der Implanta- tion verlagert werden. Ob und inwie- weit dies mit einem Schwangerschafts- abbruch vergleichbar ist, erscheint als gesamtgesellschaftliches Problem, das – mit Ausnahme medizintechnischer Standards – an die Grenzen des ärztli- chen Berufsrechts heranreicht.

Dem Arzt fällt in diesem Kontext immer mehr die Rolle des „Vermittlers wissenschaftlicher Erkenntnis“ zu, der den Patienten in seiner Entscheidungs- findung unterstützt und diesen, wo nötig – auch vor den Auswirkungen neuer Technologien schützt. Das jüng- ste einschlägige Beispiel ist der Vertrag zwischen einer pharmazeutischen Fir- ma und dem Isländischen Staat, wo- nach dem Unternehmen in den näch- sten Jahren genetische Informationen der Isländer, wenngleich in anonymi- sierter Form, zur Verfügung gestellt werden. Die behandelnden Ärzte kön- nen ihre Patienten bei Blutentnahmen darauf hinweisen, dass sie nicht ver- pflichtet sind, ihr Erbgut für For- schungszwecke untersuchen zu lassen.

Die Ärzte haben so eine wichtige ge- samtgesellschaftliche Schlüsselfunkti- on, die hohes ethisches Empfinden und Verantwortung voraussetzt und die beim Weltärztebund und im Europarat unterstützt wird.

Woran sollen sich Ärzte beim Um- gang mit neuen medizinischen Techno- logien orientieren? Für Deutschland hat die Bundesärztekammer mit dem Wissenschaftlichen Beirat ein unab- hängiges Gremium etabliert, das be- rufsrechtliche Standards entwickelt.

Diese Leitlinien entstehen auf der Me- soebene und stellen konzentriertes Wissen auf der Basis einer gesicherten medizinischen Erkenntnisbildung dar.

Vom Arzt wird sodann die konkrete Leitlinienanwendbarkeit geprüft, das heißt die Frage beantwortet, ob der Handlungskorridor, den die Leitlinie dem Arzt vorgibt, zielführend für die Patientenbehandlung ist. Auf dieser Mikroebene muss der Arzt ebenfalls der Frage nachgehen, ob der Patient das neue Behandlungsverfahren ak- zeptiert, wo dessen individuelle Präfe- renz liegt. Letzteres wird heute häufig

mit dem Begriff der individuellen „Le- bensqualität“ umschrieben, die zwei- felsohne – unbeschadet des Nutzens neuer Technologie – bisweilen mehr in den Fokus ärztlicher Bemühungen rücken sollte.

Ziel dieser Darlegung ist, eine Vorstellung dafür zu geben, inwieweit Motivation und Kontrolle medizi- nisch-biologischer Forschung und Praxis durch bestehende Auffassung von Wesen und Würde des Menschen- seins bedingt sind. Man kann davon ausgehen, dass den biomedizinischen Entwicklungen entweder a priori ein konstituierender humaner Sinn, das heißt ein inhaltliches Verständnis vom Wesen des Menschen, zugrunde liegt oder aber a posteriori ein allenfalls impliziter humaner Sinn, mithin eine Eigendynamik der Forderungen aus Medizin und Biologie selbst. Vieles spricht für die zweite Vermutung.

Wollte man annehmen, dass es ei- nen konstituierenden humanen Sinn a priori in jeder biomedizinischen Ent- wicklung gibt, so ließe sich dies allen- falls dadurch begründen, dass es Men- schen sind, welche die Entwicklungen auf humane Weise vorantreiben.

Bewusstseinsprägende Macht der Medien

Es bleibt dabei allerdings die Fra- ge offen, wer eine Synopse des Mega- prozesses „Forschung“ zu leisten ver- mag. Sind es nicht vielmehr die Kom- munikationsprozesse, das heißt die transportierten Meinungsbilder in den Medien, welche unser Bewusstsein entscheidend darüber prägen, was wir als Realität empfinden? Anders for- muliert kann man fragen: Sind es die tatsächlichen Fakten, die wir als real empfinden, oder aber die Abbilder der Fakten nach Prozessierung in den gesellschaftlichen Kommunikations- strukturen? So gesehen wäre es un- möglich, die Frage zu beantworten, wo das Primat der Steuerung im Prozess biomedizinischer Forschung und klini- scher Praxis liegt. Zur Realität gehört auch, dass wissenschaftliche For- schung immer mehr unter die Kontrol- le gewaltiger Organisationen und Pro- gramme gerät, die hier die Ziele vor- geben. Waren es früher Physik und Chemie, die in Großprojekten, wie et-

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wa in Los Alamos oder der NASA, ge- wachsen sind, so ist es nunmehr die Biologie mit dem riesigen Genomkar- tierungsprojekt, welche sich zu einer Megabiologie zu entwickeln scheint.

Die Investition von industrieller und staatlicher Seite in solche Megapro- jekte führt unweigerlich dazu, dass die bisherige Forschungspraxis der klei- nen Teams, die sich untereinander ver- netzen, immer mehr verschwindet.

Folgte man dieser Argumentati- on, so wäre die systemimmanente Verlockung des Marktes die so ge- nannte „driving force“ jeglicher For- schung. Die Milliardeninvestitionen für bestimmte Erfolg versprechende Projekte führen unweigerlich dazu, dass sich die Forschungslandschaft verändert. So prägend diese Form der Ressourcen-Allokation für die dem medizinischen Fortschritt vorausge- hende Seite der Forschung ist, so sehr stellt die Allokation andererseits in der klinischen Medizin den Arzt auf der Mikroebene in seiner individuel- len Entscheidung gegenüber dem ein- zelnen Patienten oft vor unlösbare Probleme. Erscheint für den Mega- prozess der Biomedizin-Forschung ei- ne echte gesellschaftlich konsentierte Kontrolle nur mittelbar auf dem Wege internationaler Normsetzung möglich – beispielsweise im Europarat, in der Weltgesundheitsorganisation oder im Weltärztebund –, so ist beim ärztlichen Handeln auf der Mikroebene die indi- viduelle Verantwortungsethik eines jeden Arztes entscheidend.

Auf dieser – für den Patienten er- fahrbaren – Ebene wird der Arzt nur bestehen können, wenn ihm im Rah- men seiner ärztlichen Ausbildung, aber in gleicher Weise auch in seinem Kulturkreis ethische Wertbilder ver- mittelt worden sind, die seine „Gewis- sensfähigkeit“ ausprägen und festi- gen. Die ärztliche Selbstverwaltung kann durch Schaffung von medizini- schen, ethisch begründeten Leitlinien von der Mesoebene aus Handlungs- korridore eröffnen, die dem Arzt auf der individuellen Ebene die Entschei- dungsfindung erleichtern.

Mittlerweile verdoppelt sich das medizinische Wissen etwa alle fünf Jahre. Technikfolgenabschätzung ist somit als neue „interdisziplinäre Diszi- plin“ ein Querschnittsfach von Hu- manmedizin und Biowissenschaften,

das sowohl Ethik, Ökonomie und Öko- logie als auch Rechts-, Sozial- und Ge- sundheitswissenschaften umfasst. Da- mit ist zu Beginn der 90er-Jahre in Deutschland eine Versachlichung der Technologiedebatte auch im politi- schen, insbesondere im parlamentari- schen Bereich erfolgt. Die Einrichtung des Büros für Technikfolgenabschät- zung beim Deutschen Bundestag (TAB) ist ein Beleg für das Bemühen der Politik, sich einem fundierteren in- terdisziplinären Dialog zu öffnen. Die Beteiligung von Parlamentariern in Ausschüssen der Bundesärztekammer hat in der Vergangenheit ebenfalls we- sentlich zur Förderung des Dialogs zwischen Ärzteschaft, Wissenschaft und Politik beigetragen. Auch der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer kommt in die- sem Bereich eine große Bedeutung zu.

Ein neues Steuerungs- gremium in der Medizin?

Vielleicht sollten angesichts der neuen Herausforderungen auch neue Wege eingeschlagen werden, die eine größere Repräsentanz aller gesell- schaftlich relevanten Kräfte in der Technologiedebatte und deren Steue- rung garantieren. Vorstellbar wäre ein Gremium, das die Zielkonflikte in Forschung und Entwicklung definiert, Lösungswege mit Expertenhilfe be- arbeitet, Darstellungsdefizite schließt und so die gesamtgesellschaftliche Transparenz fördert. Zurzeit scheinen sich Forschungsfreiheit und Wettbe- werb der reflektierenden Kontrolle zu entziehen, bei gleichzeitiger Zuspit- zung des Finanzierungsproblems im Gesundheitswesen. Angesichts explo- dierender Kosten, einer immer älter werdenden Bevölkerung – so werden im Jahr 2000 mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland älter als 65 Jahre sein – läuft die Medizin Ge- fahr, nicht mehr finanzierbar zu blei- ben, wenn es nicht gelingt, eine Ratio- nalisierung des Einsatzes von Res- sourcen vorzunehmen. Der gegen- wärtige politische Trend, die Ärzte- schaft pauschal für den medizinischen und gesellschaftlichen Fortschritt ver- antwortlich zu machen und in die Haf- tung zu nehmen, quasi in Form eines Kollektivregresses der Ärzteschaft

das Morbiditätsrisiko, das Haftungsri- siko und Forschungsrisiko aufzubür- den, führt dazu, dass gesellschaftlich unauflösbare Zielkonflikte entstehen.

Neue Technologien etwa, das Potenzi- al von Stammzellen zur Entwicklung künstlicher Organe, spitzen – unab- hängig von ihren ureigenen ethischen Implikationen – diese Zielkonflikte immer mehr zu. Eine Lösung ist die Herbeiführung einer maximalen Transparenz dieser Problematik auf möglichst vielen Ebenen der Ent- scheidungskompetenzen. Die Vergan- genheit hat gezeigt, dass der Gesetz- geber allein mit dieser Aufgabe über- fordert ist. Könnte durch die Schaf- fung einer Instanz unterhalb der Le- gislative, welche dem Tempo der dy- namischen Entwicklung im Gesund- heitswesen Rechnung trägt, ein Kon- sensforum entstehen? Diese Instanz müsste versuchen, zwischen den Hauptbeteiligten im Gesundheitswe- sen, das heißt den Leistungserbrin- gern, den Versicherungen und den ge- sellschaftspolitischen Repräsentanten eine gemeinsame Sprache zu ent- wickeln, die eine Vertrauensbasis für eine gerechtere Verteilung von Ge- sundheitsressourcen, die in Deutsch- land immerhin 550 Milliarden DM pro Jahr ausmachen, gewährleisten kann. Dieses ehrgeizige Projekt wür- de dem Anspruch gerecht, dass men- schenwürdiger Umgang mit kompli- zierten ethischen Fragen – darunter ist die Allokation von Ressourcen an erster Stelle zu nennen – einer vorbe- haltlosen Selbstreflexion bedarf. Ge- sellschaftliche Transparenz ist eine Grundvoraussetzung für die Bewälti- gung von biomedizinischer Forschung und angewandter Klinik im kommen- den Jahrzehnt.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A-301–305 [Heft 6]

Das Literaturverzeichnis ist über den Sonder- druck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich.

Anschrift für die Verfasser

Priv.-Doz. Dr. med. Stefan Winter Prof. Dr. med. Christoph Fuchs Bundesärztekammer

Herbert-Lewin-Straße 1 50931 Köln

A-305 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 6, 11. Februar 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

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