Der „Neubau" der II. Medizinischen Klinik der Charite Fotos: privat
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen GESCHICHTE DER MEDIZIN
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Charitö in Berlin ursprünglich als Pestkrankenhaus vorgesehen. Aber die Epidemie, die Preußen verheer- te, kam nicht nach Berlin. So wurde das Gebäude am 18. November 1726 Garnisonslazarett und erhielt 1727 durch Friedrich Wilhelm I. den Na- men Charitö. Seitdem diente es der Ausbildung von Wundärzten und wurde 1810 bei der Gründung der Berliner Universität durch Wilhelm von Humboldt in den Universitätsun- terricht einbezogen.
In den Jahren 1831 bis 1835 wurde ein Neubau errichtet, der den Anfor- derungen einer sich Weltgeltung verschaffenden deutschen Medizin um die Jahrhundertwende zwischen 1890 und 1905 nicht mehr genügte.
Ein Zufall gab damals den Anstoß für den Klinikneubau: Als der Diener des preußischen Kultusministers an einer Infektion erkrankte und zu- sammen mit Scharlach-, Diphtherie- und Typhuskranken behandelt wer- den mußte, erfuhr der Minister bei einem Besuch von der Unzuläng- lichkeit und räumlichen Beengtheit der damaligen Kliniksituation. Bald darauf wurde durch das preußische Unterrichtsministerium der Be- schluß gefaßt, den Neubau der Cha- ritö-Kliniken zu beginnen.
Siebzig Jahre Medizinische Klinik
der Charit6
Dieter Theuer
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 41 vom 11. Oktober 1979 2699
ZUR GESCHICHTE DER MEDIZIN
FRAGMENTE
„Levinstein's Maison de sante
Die zeitgenössische Abbildung aus einem illustrierten Familien- blatt des Jahres 1864 zeigt ein damals hochmodernes Privatsa- natorium, das „alle Patienten und Rekonvaleszenten, mit Ausnah- me von Gemütskranken und an Epilepsie Leidenden, - sowie Per- sonen mit äußerlich entstellen- den Krankheiten" aufnahm. Das Haus mit 60 elegant eingerichte- ten Patientenzimmern stand in Neu-Schöneberg, damals ein vom städtischen Leben noch un- berührtes Dorf — im Berliner Volksmund scherzweise „Monte- bello Nuovo" genannt.
Das Sanatorium hatte eine aus zwanzig Zellen bestehende Ba- deanstalt, wo Moor- und Solbä- der verabreicht wurden sowie Bäder mit Quellwasser aus Te- plitz, Aachen und Badgastein.
Zum Sanatorium gehörte eine
„Trinkanstalt für Molken, Eselin- nenmilch und natürliche und künstliche Mineralbrunnen jeder
Art". In der dazugehörigen Meie- rei gab es in den Kuhställen Sitz- plätze für die Patienten, damit diese die Milch unmittelbar nach dem Melken kuhwarm trinken konnten.
Zum Anwesen gehörte ein vier Morgen großer Garten mit einem
„Inhalations-Salon für Hals- und Brustleidende" und das Cabinet zur Anwendung der komprimier- ten Luft, deren günstige Heilre- sultate bei Asthma, Herzkrank- heiten und gewissen Formen von Schwerhörigkeit" damals in Mo- de war.
Aufenthalt sowie ärztliche und pflegerische Betreuung kosteten monatlich 40 bis 75 Thaler, gewiß ein angemessener Preis für die
„armen Kranken" der eleganten Welt der aufstrebenden preußi- schen Hauptstadt, die wenige Jahre später Hauptstadt des Deutschen Reiches werden soll- te.
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Das Privatsanatorium mit der zeitgenössischen Unterschrift „Levinstein's Mai- son de santä" (Abbildung aus „Der Hausfreund — Illustriertes Familienblatt", Herausgeber: Hans Wachenhusen, VII. Jahrgang Nr. 10, Seite 345, Leipzig 1864)
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Siebzig Jahre Charitö
Nach mehrjähriger Bauzeit konnte am 10. Mai 1909 als erster der Neu- bau der II. Medizinischen Klinik der Charitö mit der Einweihung feierlich eröffnet werden. Als Vertreter des Ministeriums erschien Kultusmini- ster Naumann. Der damalige Klinik- direktor Prof. Dr. Friedrich Kraus (1858 bis 1936) hielt einen wissen- schaftlichen Vortrag, die Privatdo- zenten Theodor Brugsch (1878 bis 1963) und Gustav von Bergmann (1878 bis 1955) wurden vorzeitig zu Professoren ernannt.
Unter der Leitung von Friedrich Kraus in der Nachfolge von Carl Ger- hardt (1833 bis 1902) wirkten um die Jahrhundertwende und teilweise bis zum Ersten Weltkrieg an der II. Me- dizinischen Klinik der Charitö neben Brugsch und von Bergmann u. a.
Alfred Schittenhelm (1874 bis 1955), Leo Mohr (1874 bis 1918), A. Pap- penheim (1870 bis 1916).
Die Assistenten Fritz Munk, Rahel Hirsch, Friedrich Umber, Julius Ci- tron, de la Camp und Viktor Schil- ling haben mit grundlegenden Un- tersuchungen das medizinische Weltbild der ersten Hälfte des zwan- zigsten Jahrhunderts mitgeprägt und wichtige Erkenntnisse in der Hämatologie, Kardiologie, Diabeto- logie und Gastroenterologie sowie zu Problemen der Infektionskrank- heiten erarbeitet.
In neuerer Zeit bemüht sich die Ost- Berliner Stadtverwaltung um eine Restaurierung und funktionelle Re- konstruktion der Charitö-Kliniken, nachdem 1945 schwere Kriegsschä- den eingetreten waren und Anfang der siebziger Jahre unter der Kultur- politik der DDR mehr als 90 Ärzte, Wissenschaftler und Gelehrte die Charitä wegen unzumutbarer Ar- beitsbedingungen und ständigem politischen Druck verlassen hatten.
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Dieter Theuer Internist — Gastroenterologie Herbststraße 15
7100 Heilbronn/Neckar
2700 Heft 41 vom 11. Oktober 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT