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nlässlich des 100-jährigen Jubilä- ums der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin sprach sich der Präsident der Bundesärztekammer, Prof.Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, nach- drücklich für den Erhalt der Rechtsme- dizin als eigenständiges Fach innerhalb einer jeden Medizinischen Fakultät aus.
Anderenfalls sei der Versorgungsauf- trag der Rechtsmedizin im Rahmen der Rechtspflege und im öffentlichen Ge- sundheitswesen infrage gestellt. Zudem wies Hoppe auf die Gefahr hin, dass in der Folge die Qualitätssicherung in der Medizin Schaden nehmen könne. Vor dem Hintergrund, dass die Rechtsmedi- zin im Gegensatz zu der rein naturwis- senschaftlichen Forschung in den mei- sten medizinischen Disziplinen als typi- sches Querschnittsfach große Schnitt- mengen zu geistes- und sozialwissen- schaftlichen Fächern aufweist, betonte er, dass die Medizin mehr sei als eine rei- ne Naturwissenschaft. Die Medizin – so
Hoppes Vorschlag einer Definition – sei eine Erfahrungswissenschaft, eine Hu- manwissenschaft, die sich der Erkenntnis- se anderer Wissenschaften, wie der Na- tur-, Ingenieurs-, Sozial-, Kommunikati- ons- und Geisteswissenschaften, bedient, sich sonst aber – je nach Fach unterschied- lich ausgeprägt – auf nur wahrscheinlich richtiges Wissen mit zusätzlich auch noch relativ kurzen Halbwertszeiten stützen muss. Bei allen Entscheidungsprozessen würden Wertungen von Patienten und Ärzten eine wichtige Rolle spielen.
Auf der Festveranstaltung im Har- nack-Haus in Berlin-Dahlem wurde in Anwesenheit vieler Ehrengäste aus Poli- tik und Wissenschaft an den Gründungs- beschluss zur Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin vor hundert Jahren erin- nert. Bei der 76.Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte war im Jahr 1904 ein Gründungsausschuss mit der Aufgabe, eine Satzung zu erstel- len, ins Leben gerufen worden. Ein Jahr
später wurde der Berliner Prof. Fritz Straßmann zum ersten Vorsitzenden der neuen Gesellschaft gewählt.
Prof. Dr. med. Burkhard Madea, Her- ausgeber der aufwendig gestalteten Festschrift „100 Jahre Deutsche Gesell- schaft für Gerichtliche Medizin/Rechts- medizin“, betonte angesichts des derzei- tigen Trends zur Abwicklung rechtsme- dizinischer Institute die überaus große Nachfrage nach Leistungen der Rechts- medizin. Moderne Analysemethoden hätten das Spektrum der medizinisch- naturwissenschaftlichen Aussagemög- lichkeiten und damit das Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten erheblich er- weitert. Die Vergütung für diese vielfäl- tig erbrachten Dienstleistungen sei aber nicht kostendeckend.
Madea verwies auf grundlegende Unterschiede zwischen Klinik und Rechtsmedizin: Als Schnittstellenfach zwischen Medizin und Recht leiste die Rechtsmedizin kaum ätiologische oder pathogenetische Forschung, sondern im Wesentlichen anwendungsbezogene For- schung. Er warnte die Rechtsmedizin davor, sich zu stark als Dienstleister in- nerhalb der Fakultät profilieren zu wol- len. Wo das Gleichgewicht aus Lehre, Forschung und Dienstleistung verscho- ben werde, werde die wissenschaftliche Selbstmarginalisierung des Faches be- günstigt. Thomas Gerst, Victor Oehm P O L I T I K
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A3466 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 51–5220. Dezember 2004
Rechtsmedizin
Wichtiges Schnittstellenfach
Beim Verteilungskampf um das Geld an den Universitäten scheint derzeit die Rechtsmedizin nicht gut aufgestellt.
DÄ:Eine Reihe von rechtsme- dizinischen Instituten ist von der Schließung bedroht. Wie groß ist die Solidarität mit der Rechtsme- dizin innerhalb der medizinischen Fakultäten?
Prof. Schneider:Die Rechts- medizin ist sowohl Approbations- fach als auch Weiterbildungs- fach. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin zählt zu den äl- testen Fachgesellschaften inner- halb der AWMF. Mit ähnlichen Problemen wie die Rechtsmedizin haben natürlich auch andere Fä- cher zu kämpfen, insbesondere die nicht bettenführenden Fächer.
Deshalb ist innerhalb der Me- dizinischen Fakultäten eher kei- ne besondere Solidarität mit der Rechtsmedizin zu erwarten. Es
kämpft jeder in erster Linie für sich oder für den Bestand seines Instituts oder seiner Klinik. Öf- fentlich geäußerte Gedanken zur Schließung von Instituten wecken sofort Begehrlichkeiten.
DÄ:Welche Folge hätte eine Reduzierung der rechtsmedizini- schen Institute für die ärztliche Ausbildung?
Prof. Schneider:Nach einer multizentrischen Stu- die bleiben bei der ärztli- chen Leichenschau etwa 12 000 Fälle eines nicht natürlichen Todes unent- deckt, darunter 1 100 Tö- tungsdelikte pro Jahr. Man fragt natürlich: Wo sonst lernt der angehende Arzt, wie man eine ordentliche Leichenschau durchführt? Bei ei- ner weiteren Reduzierung der rechtsmedizinischen Institute wür- de die ärztliche Ausbildung sicher Schaden nehmen, und niemand kann später sagen, auf diese Ent- wicklung nicht rechtzeitig hinge- wiesen worden zu sein.
DÄ:Wie entgegnen Sie dem Vorwurf, die Rechtsmedizin sei in
erster Linie Dienstleister und forsche anwendungsorientiert im Dienste der Juristen?
Prof. Schneider: Anwen- dungsorientierte Forschung ist manchmal den Menschen nütz- licher als „hoch gesteckte“ For- schung, die vielleicht viel Geld ko- stet, vielleicht auch erhebliche Drittmittel einbringt, die aber in der Praxis wenig hilfreich ist. Aller- dings wird in der Rechtsmedizin auch Forschung auf höchstem Ni- veau betrieben. In der Rechtsmedi- zin geht es um die Umsetzung me- dizinischen Wissens im Interesse des Patienten oder des Opfers. Un- sere Tätigkeit als Rechtsmediziner dient vornehmlich der Rechtssi- cherheit im Land. Diese ist auch ein sehr hoch anzusetzendes Gut, ver- gleichbar der Gesundheit. ) Nachgefragt
Prof. Dr. med.
Volkmar Schnei- der, Vizepräsi- dent der Deut- schen Gesell- schaft für Rechtsmedizin, Vorstandsbeauf- tragter für die 100-Jahr-Feier
Foto: privat