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Archiv "Rechtsmedizin: Vor Ort sein bei den Opfern von Gewalt" (27.06.2008)

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A1434 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 26⏐⏐27. Juni 2008

P O L I T I K

die hausinternen Strukturen anzu- passen, fiel Ende letzten Jahres.

Zunächst, sagt Reiner Heuzeroth, bei den acht Asklepios-Kliniken für das Qualitätsmanagement zuständig, verlief alles reibungslos: Erst hän- digte die Risikomanagement-Ab- teilung den Operationsteams die Handlungsanweisungen des APS aus, anschließend informierte sie die Patienten über die neuen Sicher- heitsvorgaben. „Schließlich wollten wir die Patienten mit dem neuen Vorgehen nicht verunsichern“, er- klärte Heuzeroth. Vier Monate spä- ter erfolgte eine erste Abfrage zum bisherigen Verlauf. Das Ergebnis:

„Es ist ein großer Veränderungspro- zess im Gange.“ Denn auch den Ärzten an den Asklepios-Kliniken bereitete das ,Team-Time-Out’ Pro- bleme. So wusste keiner so recht, wer das letzte Innehalten anordnen soll, es kam zu Hierarchieproble- men. Zudem verunsicherte wie am Universitätsklinikum Gießen-Mar- burg viele Ärzte der Begriff an sich.

„Der Check kann auf diese Weise schnell zur Farce werden“, sagt Heuzeroth.

Ein überwiegend positives Feed- back kam bislang vom Frankfurter Universitätsklinikum. Auch hier waren mehrere Beinahe-Verwechs- lungen der Grund, sich mit dem Thema näher zu beschäftigen. Das Klinikum gründete ein interdiszi- plinäres Projektteam, das neben Ärzten auch aus dem Qualitätsbe- auftragten des Hauses und dem Operations-Management besteht.

„Seitdem“, berichtet Thomas Wie- tryckus, Pflegewirt und Mitglied der Gruppe, „gab es keine Beinahe-Ver- wechslungen mehr.“ Zur Akzeptanz des APS-Sicherheitskonzepts habe beigetragen, dass die für die Opera- tion verantwortlichen Chirurgen das ,Team-Time-Out’ vorlebten und einforderten, sagt der Pflegewirt. So war dem Operationsteam klar, wer für was zuständig ist. „Eine Chef- Mentalität führt zu nichts“, ist Do- minguez Erfahrung. Allerdings, so ging aus den Rückmeldungen der Frankfurter hervor, müssen die ein- zelnen Schritte des letzten Sicher- heitschecks noch genauer beschrie-

ben sein. I

Martina Merten

M

ainz im April 2008. An der Pforte des Rechtsmedizini- schen Instituts, einem massig wir- kenden Gebäude aus grauem Stein, hat Bianca Navarro eine Nach- richt hinterlassen: Es wird später.

„Unvorhergesehene Tatortbesichti- gung“ ist die Erklärung an der Pforte.

Eine halbe Stunde später ist sie da. Eine zierliche junge Frau von Anfang dreißig, das dunkelblonde, glatte Haar zum Pferdeschwanz ge- bunden. Sie kommt zurück von ei- ner Kindertagesstätte in einem an- grenzenden Bundesland. „Das Kind, das ich gerade untersucht habe, hat Glück, dass es noch lebt“, sagt Na- varro. Fälle so gravierend wie dieser sind nicht alltäglich, aber doch auch nicht selten.

Petechien im Gesicht

Einer Kindergärtnerin war mehrfach aufgefallen, dass eine Dreijährige immer mal wieder kleine, rote Punk- te im Gesicht hatte. Hautirritationen, dachte die Erzieherin zunächst. Als die Punkte an diesem Tag wieder da sind, erinnert sich die Betreuerin an eine Fernsehsendung, die sie kurz zuvor gesehen hatte: Navarro hatte in der Sendung erklärt, dass kleine rote Punkte auf der Haut mögliche Folge von Gewalt sein könnten. Die Kindergärtnerin ruft Navarro an, die sich unverzüglich auf den Weg macht. Tatsächlich findet sie im Ge- sicht des Mädchens Petechien, die sich bis über Hals und Schultern er- strecken. Das Kind hat offenbar mehrere Erstickungsversuche über- lebt. „Da besteht natürlich der Ver- dacht der versuchten Tötung“, sagt Navarro. Das betroffene Mädchen

und sein Geschwisterchen seien so- fort fremd untergebracht worden, um eine potenzielle Gefährdung durch Familienmitglieder auszu- schließen. Jetzt ermittele die Polizei.

Seit die „Forensische Ambulanz für Opfer von Gewalt in engen so- zialen Beziehungen“ über Medien und Weiterbildungsveranstaltungen bekannter wird, steht Navarros Te- lefon kaum noch still. Der Bedarf an forensisch-ambulanten Kolle- gen, die niederschwellig und schnell konsiliarisch tätig werden, ist offen- bar groß. Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.

Reinhard Urban (Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Mainz) bietet seit Längerem in Kliniken fachli- chen Rat an bei Patienten mit Verlet- zungsmustern, die sich durch die geschilderte Ursache nicht plausibel erklären lassen. Auch für Frauen- häuser in der Umgebung war und ist die Forensische Ambulanz in Mainz Ansprechpartner.

Dafür fährt Navarro jährlich Tau- sende von Kilometern: um zu dia- gnostizieren, aber auch, um in Kurz- fortbildungen forensisches Grund- wissen über Symptome von Gewalt- anwendung zu vermitteln. Pädiater, Gynäkologen, Hebammen, Famili- enrichter, Erzieher, Sozialarbeiter, Mitarbeiter des Gesundheitsamts, aber auch Polizisten sind die Adres- saten. „Wir wollten unsere konsi- liarische Tätigkeit nicht begrenzen, wir sind für jeden da, der einen Ver- dacht hat, auch für Privatpersonen“, erläutert Navarro.

Wie schafft man eine solche Arbeit, wenn man selbst ein Kind hat? „Schwer“, meint Navarro, ihr Lebensgefährte habe gerade seinen Erziehungsurlaub verlängert. Ur- RECHTSMEDIZIN

Vor Ort sein bei den Opfern von Gewalt

Die Forensikerin Bianca Navarro fährt zu Menschen,

die misshandelt oder missbraucht worden sind. Die

Ärztin will einer „Kultur des Hinsehens“ zur Umsetzung

verhelfen und Lücken in der Diagnostik schließen.

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 26⏐⏐27. Juni 2008 A1435

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sprünglich habe sie Kinderärztin werden wollen, schon als Dreijähri- ge, warum, weiß sie selbst nicht. Die Eltern hätten ihre Tochter hingegen gern im Familienbetrieb gesehen.

Aber Navarro studierte Medizin in Mainz. Sie betreute in ihrer Frei- zeit Kinder, machte Nachtdienste in der Gynäkologie, um sich finanziell über Wasser zu halten. In der Vorbe- reitung auf das Studium hatte sie Pflegepraktika auf der Kinderkrebs- station eines Kinderkrankenhauses absolviert. Damals stellte sie fest, dass Misserfolge in der Behandlung für sie schwer zu verkraften waren.

Und so hat sie sich gegen die thera- peutische und für die forensische Medizin entschieden.

Immer häufiger wird sie um Rat gebeten. Betrug die Zahl der Unter- suchungen in der Mainzer Ambu- lanz noch 66 im Jahr 2004, so dürf- ten es dieses Jahr bereits 240 wer- den. Bei einem Großteil der Unter- suchungen wurde Gewaltanwen- dung festgestellt, zu 80 Prozent wa- ren die Opfer Kinder.

Leider selten Fehlalarm Die Zunahme der Zahl der Untersu- chungen führt Navarro darauf zurück, dass das Angebot der Forensischen Ambulanz bekannter, die Bevölke- rung sensibler werde, aber mög- licherweise auch der Anteil der Fami- lien mit sozialen Problemen steige.

Etwa acht von zehn misshandelten Kindern stammten aus sozial schwa- chen Familien, schätzt Navarro.

Auch nachts klingelt ihr Mobil- telefon, „und leider ist es selten Fehlalarm“, sagt Navarro. Es gebe zwar gelegentlich Anrufe von Men- schen, die eine Familien- oder Nachbarschaftsfehde durch falsche Anschuldigungen austragen woll- ten, aber eher selten. Häufig sei ein Verdacht berechtigt.

So bei den Fotos, die ihr ein Mann von seiner Wohnungssuche mailte. Bilder völlig verwahrloster Räume, in denen kleine Kinder leb- ten. „Ich habe mir die Bilder ange- schaut und das Jugendamt verstän- digt“, teilt Navarro mit.

Oder die Mutter eines wenige Jahre alten Kindes, das nach dem Besuch beim Vater erzählte, es habe dessen Penis im Gesicht gehabt und

aus dem sei „weiße Suppe“ gekom- men. Für ein Kleinkind sehr spezifi- sche Schilderungen. Sie legen den Verdacht eines sexuellen Miss- brauchs nahe, auch wenn – wie möglicherweise in diesem Fall – keine Spuren am Körper des Kindes nachweisbar seien, so Navarro. Sie riet der Mutter, das Jugendamt zu informieren, das Kind einem Kin- derpsychologen vorzustellen und wegen der Wiederholungsgefahr der Polizei den Vorfall zu schildern.

Lücken schließen, da wo Privat- personen oder Institutionen akut un- sicher sind, ob ein Verdacht auf Missbrauch oder Gewalt berechtigt ist; Fachgrenzen überwinden hel- fen, damit für potenzielle Opfer eine dem Stand der Wissenschaft ent- sprechende Diagnostik zur Verfü- gung steht, weil die Untersuchung auf Spuren von Gewalt spezifische forensische Kenntnisse erfordert – das ist Navarros Mission. Bis zum Jahr 2007 hat es für dieses oft den normalen Arbeitsalltag sprengende Engagement keine finanzielle Un- terstützung gegeben. Seit 2007 aber wird die Arbeit der Forensischen Ambulanz Mainz vom Land Rhein- land-Pfalz gefördert. Jede größere Stadt sollte eine solche forensische

Ambulanz einrichten, so die Main- zer Rechtsmedizinerin.

„Wir würden die niedergelasse- nen Kollegen und Klinikärzte gern stärker motivieren, sich im Sinne der Prävention konsiliarisch Rat von Forensikern zu holen“, sagt Na- varro. Dazu gelte es auch, Kinder- und Jugendärzte stärker in regionale Netzwerke einzubinden und zu in- formieren, wo es Kindergynäkolo- gen und -psychiater und Ansprech- partner in der Rechtsmedizin oder auch beim Jugendamt gebe. Für be- handelnde Ärzte stehe häufig die Therapie im Vordergrund, die Deu- tung von Verletzungsmustern sei für sie oft schwierig und sekundär.

30 000 bis 60 000 Kinder werden Schätzungen zufolge jährlich miss- handelt, fünf Prozent der Familien gelten als Hochrisikofamilien. Nach offiziellen Zahlen sind 2006 elf Kin- der infolge von Misshandlung oder Vernachlässigung gestorben – ohne Dunkelziffer. Angesichts der in letz- ter Zeit gehäuft bekannt geworde- nen Fälle proklamiert die Bundesre- gierung verstärkt eine „Kultur des Hinsehens“. Eine im April 2008 vom Bundestag verabschiedete Ge- setzesänderung soll die Absicht un- terstützen: Künftig dürfen Famili- engerichte schon bei begründetem Verdacht auf Verletzung des Kin- deswohls eingreifen, nicht erst bei Erziehungsversagen.

Jedes gerettete Kind zählt Sie selbst verstehe unter einer „Kul- tur des Hinsehens“ keine Kultur des Misstrauens, sondern der Aufmerk- samkeit, des Interesses, der Empa- thie. Die Rechtsmedizin müsse stär- ker als bisher die Chance erhalten, bei den Opfern Zeichen von Gewalt zu Lebzeiten diagnostizieren zu können, nicht erst auf dem Sekti- onstisch. Dazu bedürfe es der Mit- hilfe aller. Auch die Politik müsse ihren Beitrag leisten und die be- teiligten Institutionen personell ent- sprechend ausstatten.

Sie sei nicht Mutter Teresa, hat ihr ihr Chef schon mehrfach gesagt, sie könne nicht alle Misshandlun- gen verhindern und alle Kinder ret- ten. „Nein“, hat sie geantwortet,

„aber möglichst viele.“ I Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze Erweckt Vertrauen

bei Kindern:Die Rechtsmedizinerin Bianca Navarro un- tersucht häufig Min- derjährige.

Fotos:privat

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