Deutsches Ärzteblatt
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10. Oktober 2014 683M E D I Z I N
EDITORIAL
Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch
Andreas Warnke
Editorial zu den Beiträgen:
„Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen – Ergebnisse einer Verlaufsstudie zur Legalbewährung über nahezu 13 Jahre“ von Helmut Remschmidt
et al. und
„Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmissbrauch – Konzepte, aktuelle
Datenlage und Evidenz“
von Bernd Herrmann et al.
auf den folgenden Seiten
chen Gewalttätern mit insgesamt 70 Todesopfern vorgelegt: Über einen fast dreizehnjährigen Beob- achtungszeitraum nach der Verurteilung hinweg war etwa ein Drittel der Stichprobe Jugendlicher und He- ranwachsender nur vorübergehend durch ein Gewalt- delikt auffällig; nahezu 40 % erwiesen sich aller- dings als chronische Straftäter, wobei die Unter - gruppe der „Mehrfachintensivtäter“ (11,4 %) nicht nur die größte Anzahl an Straftaten beging, sondern psychopathologisch und psychosozial am auffälligs- ten war. Gegen jegliches Vorurteil der Befund: Von den Kindern und Jugendlichen, der insgesamt 114 Gewalttätern, die wegen Mord (42), versuchtem Mord (12) Totschlag, versuchtem Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge (19) verurteilt wa- ren, hat im Untersuchungszeitraum von 13 Jahren kein einziger Täter ein zweites Tötungsdelikt be - gangen. Von hoher psychiatrischer Relevanz ist der Befund, dass bei über 80 % der Täter eine psychiatri- sche Störung im Rahmen der forensischen Begutach- tung diagnostiziert wurde. Ein signifikanter Indikator für ein hohes Risiko chronischer Gewaltdelinquenz sind wiederholte gewalttätige Straftaten vor dem 10.
Lebensjahr.
Bemerkenswert ist es, dass Amokläufer wie auch deren Elternhäuser sich im Risikoprofil von den übri- gen jugendlichen Gewalttätern signifikant unter- scheiden: Amokläufer sind vor der Tat zum Beispiel nicht durch Aggressionen, Gewaltdelikte, gestörtes Sozialverhalten und Delinquenz auffällig geworden, der Schusswaffengebrauch ist häufig (5).
Hohe Dunkelziffer
Nahezu täglich ist sexueller Missbrauch Thema in den Medien. Die Verdächtigtenstatistik der Polizei (3) weist jährlich seit dem Jahr 2006 zwischen 12 000 und bis über 13 000 Fälle (13,8–15,4 Fälle pro 100 000 Ein- wohner) von sexuellem Missbrauch an Kindern aus.
Verurteilungen sind jedoch sehr viel seltener, nur 2 142 waren es zum Beispiel im Jahr 2012 (6). Die Dunkel- ziffer gilt als hoch. Sexueller Missbrauch geschieht in Heimen, Schulen, Internaten, Vereinen, klinischen und kirchlichen Einrichtungen. In den weitaus meisten Fäl- len kommen die Täter und Täterinnen aus dem unmit- telbaren Lebensumfeld des Kindes (Tatverdächtige Ju-
T
ötungs- und Gewaltdelikte durch Kinder und Jugendliche und die körperlichen Sympto- me von sexuellem Missbrauch sind Themenschwer- punkte dieses Heftes. So unterschiedlich die Delikt- bereiche der Beiträge von Helmut Remschmidt (1) und Bernd Herrmann und Mitarbeitern (2) sind, so verbindet die beiden Themenbereiche doch, dass sich das Verbrechen in der Regel aus einem Täter- Opfer-Verhältnis heraus ergibt.Die Fragestellung
Täter und Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch sind wohl ausnahmslos in der Zeitspanne vom Kindes- alter bis zum Tatzeitpunkt als Patienten in ärztlichen Praxen vorstellig gewesen. Hätte man als Behandelnder bei dieser Begegnung präventiv Täter- oder Opfer- merkmale erkennen und das Verbrechen verhindern können? Stimmen die Vorurteile: „Wer einmal mordet wird es wieder tun!“ und „Einmal Gewalttäter immer Gewalttäter!“? Im Rahmen der Begutachtung für die Gerichte geht die Frage an den ärztlichen Gutachter, ob sich mit körperlichen Untersuchungsbefunden Beweise oder Gegenbeweise für einen sexuellen Missbrauch führen lassen. Ist dies aber durch die Feststellung spezi- fischer körperlicher Symptome des betroffenen Kindes überhaupt möglich?
Wie häufig sind Gewaltdelikte und sexueller Missbrauch; gibt es ein „Täterprofil“?
Tötungs- und Gewaltdelikte von Kindern und Jugendli- chen sind in den letzten 20 Jahren in Deutschland ten- denziell weniger häufig vorgekommen. Aus der poli- zeilichen Kriminalstatistik lassen sich epidemiologi- sche Erkenntnisse gewinnen. Täter von Gewalt- und Tötungsdelinquenz (Tatverdächtige rund 87 %) wie auch von sexuellem Missbrauch (Tatverdächtige rund 96 %) sind weit überwiegend männlichen Geschlechts.
Opfer von versuchtem/vollendetem Mord sind häufiger männlich (etwa 59 %), jene von vollendetem sexuellem Missbrauch weit häufiger weiblich (76 %) (3). Grup- pendynamische Einflüsse spielen bei Gewaltdelikten im Unterschied zur Dynamik bei sexuellem Miss- brauch eine signifikant wichtige Rolle.
Remschmidt (4) hat eine der bedeutendsten Längsschnittstudien zu 114 kindlichen und jugendli-
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugend psychiatrie, Psycho somatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg: em. Prof.
Dr. med. Warnke
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gendliche etwa 18 %, Erwachsene etwa 66 %, 16 % fällen auf Kinder und Heranwachsende, häufig sind es die Väter, Stiefväter oder Partner der Mutter. Ein spezi- fisches „Täterprofil“ gibt es für beide Deliktgruppen nicht. Im Unterschied zu den Gewaltdelikten, die bei- spielsweise im Affekt und ungeplant ausgeübt werden, wird der sexuelle Missbrauch geplant und das Kind vom Täter in psychische Mitverantwortung genommen („Wenn Du etwas sagst, kommt Papa ins Gefäng- nis...“). Die Täter aus beiden Deliktbereichen kommen aus allen Schichten.
Das Schicksal der Opfer
Die körperlichen Folgen bei den Opfern von Gewalt sind bei den Überlebenden je nach Art und Schwere der Verletzungen unterschiedlich. Die psychischen Folgen, wenn auch unzureichend untersucht, sind unspezifisch und schwerwiegend.
Die möglichen körperlichen Kennzeichen von sexu- ellem Missbrauch fasst der Beitrag von Herrmann und Koautoren kompakt zusammen (2). Die umfassende Li- teraturübersicht kommt zu einem ernüchternden Ergeb- nis: In über 90 % der begutachteten Fälle ist es nicht möglich, aus fachgerecht kinder- und jugendgynäkolo- gisch erhobenen körperlichen Befunden Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu ziehen. Normalbefunde sind häufig. Die qualifiziert erhobene, glaubwürdige Aussage des Kindes ist in erster Linie diagnostisch ent- scheidend. Wichtig ist es umso mehr, die psychischen Folgen sexueller Missbrauchserfahrung zu eruieren und medizinisch zu beachten:
●
posttraumatische Belastungsstörungen●
Somatisierungsstörungen●
Essstörungen●
Suchtmittelmissbrauch●
Depression●
Borderline-Störungen und Suizidalität●
Störungen in sexuellen Beziehungen.Dass Misshandlungen auch langfristig mit struktu- rellen und funktionellen zerebralen Veränderungen kor- relieren, ist inzwischen ein gesicherter Befund (7–9).
Prävention
Der Prävention von Gewaltdelinquenz können unter anderem dienen (4):
●
eine Intervention frühestmöglich sobald sich An- zeichen von Gewaltdeliquenz erkennen lassen●
Überwachungsmaßnahmen zur Vorbeugung●
eine Verkürzung der Zeitspanne zwischen Tat, Be- gutachtung und Gerichtsurteil●
eine qualifizierte Heimbetreuung als Alternative zur Untersuchungshaft bei jüngeren Straftätern mit Förderungs- und Qualifikationsmöglichkeiten●
eine qualifizierte Wiedereingliederung in die Ge- sellschaft bei Entlassung●
ein Alkoholverbot in kritischen Brennpunkten.Der vierbändige Bericht der Gewaltkommission der Bundesregierung ist nach wie vor ein Leitfaden für das Ursachenverständnis sowie für Behandlungs- und Prä- ventionsansätze körperlicher Gewaltdelikte (10).
Im Hinblick auf die Kindesmisshandlung haben sich folgende Präventionsmaßnahmen als wirksam erwiesen (11): Hausbesuch, Elternberatung, Präventivprogram- me zu sexuellem Missbrauch und systemische Inter- ventionen.
Die stärkere Beachtung der Erkenntnisse zu beiden Deliktbereichen in der ärztlichen Aus- und Weiterbil- dung ist geboten.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
LITERATUR
1. Remschmidt H, Martin M, Niebergall G, Heinzel-Gutenbrunner M:
Violent crime perpetrated by young people—results from a longi - tudinal legal probation study over a 13 year period. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 685–91.
2. Herrmann B, Banaschak S, Csorba R, Navratil F, Dettmeyer R:
Physical investigation in child sex abuse—approaches and current evidence.. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 692–703.
3. Bundeskriminalamt (Hg.): Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepu- blik Deutschland Jahrbuch 2013 Wiesbaden: Bundeskriminal- amt 2013.
4. Remschmidt H: Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen.
Ursachen, Begutachtung und Prognose. Heidelberg: Springer 2012.
5. Bannenberg B: Amok, Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern. Gütersloh: Gütersloher Verlag 2010.
6. Statistisches Bundesamt (ed.): Verurteiltenstatistik. Wiesbaden:
Statistisches Bundesamt 2013.
7. Choi J, Jeong B, Rohan ML, Polcari AM, Teicher MH: Preliminary evidence for white matter tract abnormalities in young adults ex - posed to parental verbal abuse. Biol Psychiatry. 2009; 65: 227–34.
8. Fegert JM: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen.
Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007, 50: 78–9.
9. Remschmidt H: The emotional and neurological consequences of abuse. Dtsch Arztebl Int 2011; 108: 285–6.
10. Schwind HD, Baumann J, Lösel F, et al. (Hrg.): Ursachen Prävention und Kontrolle von Gewalt (Bd I–IV). Berlin, Duncker und Humblot 1990.
11. Mikton C, Butchart A: Child maltreatment prevention: a systematic review of reviews. Bull World Health Organ 2009; 87: 353–61.
Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Andreas Warnke Maidbronnerstraße 32 97230 Estenfeld
warnke@kjp.uni-wuerzburg.de
►Zitierweise
Warnke A: Children and adolescents as perpe trators and victims of violence and sexual abuse. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 683–4. DOI: 10.3238/arztebl.2014.0683
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The English version of this article is available online:www.aerzteblatt-international.de