Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Symbolsprache in Medizin und Kunst
Kunst und Kultur, den Handel und den Briefverkehr des gesamten Mit- telmeerraumes bis tief in die Spät- antike beeinflußt. Wir sprechen des- halb von „Sigillum-Symbol" und vermeiden den unzutreffenden Aus- druck „Heraldik". Ein heidnisches Beispiel: im dreieckigen Giebel des römischen Grabtempels (Abb. 10, römisch-germanisches Museum Köln) findet sich die Weltkugel als Achse, das Sternbildzeichen des Steinbocks, unter dem Kaiser Aug u- stus geboren wurde, in symmetri- scher Antithese. Deutung dieses Si- gillum-Symbols: der Verstorbene hat das Weltbild, die Weltanschau- ung des von ihm verehrten Kaisers zum Siegel seines Lebens und Gra- bes gemacht.
Die schönsten und inhaltsreichsten Sigillum-Symbole wurden von der frühchristlichen Kunst speziell in Aquileia und Grado geschaffen. Die frühchristliche Deutung dieses Sym- boltyps lautet: Zuordnung des Chri- sten sowie der belebten und unbe- lebten Natur zur göttlichen, obrig- keitlichen, ethischen Axialität; teils kämpferische, teils friedliche Zu- wendung, Anbetung, Anerkennung, Unterordnung bis hin zur philoso- phischen Deutung von These und Antithese im Sinn der Hegelschen Dialektik. Beispiele: die silberne Re- liquienkapsel von Grado, 3. bis 4. Jh.
(Abb. 11); die erste Darstellung der Taufe in Aquileia, ikonografisch nach dem Sigillum-Symbol aufge- baut (Abb. 12); Sarkophage in Ra- venna (Abb. 13); Altarschranken in Torcello (Abb. 14); Kapitelle in Byzanz.
Was aber bedeutet in der Symbol- sprache eine Asymmetrie im ikono- grafischen Aufbau des Sigillum- Symbols? Das Fasanenmotiv (Abb.
15) im Mosaik der Nordaula gibt An- laß zu dieser Frage. Ist die Abwen- dung der Fasanen vom Axialen Fruchtkolben dichterische, künstle- rische Freiheit? Ornament? Dekor?
Oder hat auch die Asymmetrie Sym- bolcharakter wie die Symmetrie?
Andere Symbolbilder mit asymmetri- scher Antithese helfen bei der Ant- wort. Das Schildkröten-Hahn-Motiv der Südaula (Abb. 17) — Säule als
Achse, Hahn (Symbol des Lichts, des Guten) und Tartaruga (Symbol des Tartarus) in symmetrischer Ge- genüberstellung — besagt zwar zu- nächst: der Hahn kann dem Panzer der Tartaruga nichts antun, die Schildkröte kann den schnellen Hahn nicht erwischen: Gut und Böse halten sich die Waage auf dieser Welt! Doch ganz anders denkt der Mosaikkünstler der Nordaula (Abb.
16): In seinem Schildkröten-Hahn- Motiv siegt das Gute über das Böse, wenn auch nur um Kopfbreite!
Wir haben Neues hinzugelernt: Auch die Asymmetrie ist Teil der früh- christlichen Symbolsprache und vermittelt wie die Symmetrie wichti- ge Informationen. Aus dem reichen Material der Sigillum-Symbole mit asymmetrischer Antithese ein ab- schließendes Beispiel: Auf der lan- gobardischen Altarschranke (Abb.
18 auf Seite 1312) stehen zwei Pfauen auf langobardischen Anker- kreuzen und zwei Bäume in schein- bar symmetrischer Gegenüberstel- lung zu einem Kelch.
Bei näherem Hinsehen erkennt man zahlreiche Asymmetrien: Über dem linken Pfau die Schlange, Symbol der Irrlehre; ferner: während der rechte Pfau auf einem vollausgebil- deten Ankerkreuz steht, sprossen die Anker links in falscher Richtung oder fehlen ganz; der rechte Baum ist ein Lebensbaum und simbolisiert das germanische Runenzeichen für Geburt und Wiedergeburt (Y); links ein Todesbaum, dem germanischen Runenzeichen für Tod ( A ) entspre- chend. Die Übersetzung der Sym- bolsprache ist nun einfach: „Wenn Du als Christ zur Lehre der Kirche hälst, stehst Du auf einem sicheren Fundament und wirst der Wiederge- burt und des ewigen Lebens teilhaf- tig werden. Wenn Du Dich aber den Einflüsterungen der Schlange, der Irrlehre, hingibst, stehst Du auf ei- nem brüchigen Fundament, und Du wirst des ewigen Todes sein."
Soweit die Propädeutik unseres Kur- ses der Symbolsprache! Mögen diese Grundlagen den Ansporn ge- ben, beim bevorstehenden Grado- Frühsommerkongreß den Sprach-
kurs an Ort und Stelle erfolgreich und mit viel Entdeckerfreude fortzu- setzen.
Wer dann bei diesem Jubiläumskon- greß „unsere" Gradeser Basilika wieder betritt, der sollte gleich am Eingang einmal stehenbleiben: ein wunderschönes Sigillum-Symbol — Lebensbaum als Achse und Tauben in Zuwendung (Abb. 19) — begrüßt den Gast: Das zugehörige früh- christliche Stiftermosaik erzählt:
Servus Christi Laurentius Diakonus votum solvit (der Diakon Lorenz hat sein Versprechen eingelöst). Ein bißchen Stolz verzeiht schon der liebe Gott, wenn wir im Halbdunkel der Kirche statt dessen im Geiste lesen: Familia Medicorum Gradese — votum solvit!
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med
Albert Schretzenmayr Prinzregentenstraße 1 8900 Augsburg
Wieder Ärztekonzert beim Grado-Kongreß
Auch beim bevorstehenden XXV. Internationalen Fortbil- dungskongreß der Bundes- ärztekammer in Grado findet am 8. Juni, dem Mittwoch in der zweiten Kongreßwoche, wieder ein Ärztekonzert in der Basilika statt. Alle diejenigen Kolleginnen und Kollegen so- wie Familienangehörige, die ein Instrument spielen kön- nen, sollten es zum Kongreß mitbringen, sich aber vorher — möglichst bald — bei Frau An- neliese Druxes melden, die dieses Konzert vorbereitet (ihre Anschrift: Rosenstraße 1, 4777 Soest; Telefon: 0 29 21/
38 72). Alle, die mitmusizieren möchten, werden gebeten, sich zu einem informativen Gespräch am Montag, dem 30.
Mai, um 20 Uhr, in Grado beim Haupteingang zum Strand einzufinden. Braun
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 19 vom 12. Mai 1977 1313