A 1852 Deutsches Ärzteblatt
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ie kommt etwas zu spät zu der Verabredung. „Das ist bei der Arbeit mit Kindern so. Gestresst und hektisch darf und will ich mit ihnen nicht umgehen. Bei meinem Hausbesuch kam ich heute nicht zeitig weg, weil mir Frank* noch unbedingt sein neues Spielzeug zei- gen wollte,“ erklärt Dr. med. Man- dira Reuther die Verzögerung. Sich Zeit nehmen für die schwerstkran- ken Kinder sei schließlich ein nicht zu unterschätzender Teil der Versor- gung, meint die 36-jährige Kinder- palliativmedizinerin.Sie selbst hat nur wenig Zeit zum Verschnaufen, denn kaum ist sie im
Kinderpalliativzentrum Datteln an- gekommen, hat sie schon einen Einsatz als Referentin bei einer Fortbildung. Darin erläutert sie an- hand von Fallbeispielen die Vorbe- reitung und Durchführung von Erst- gesprächen der spezialisierten am- bulanten Palliativversorgung (SAPV)
von Kindern, Jugendlichen und jun- gen Erwachsenen. Nach einer kur- zen Mittagspause widmet sich Reuther dann den stationären Pa- tienten. „Ziel unserer Arbeit ist es eigentlich, stationäre Aufenthalte zu vermeiden. Nur in Krisensitua- tionen, die wir ambulant überhaupt
PORTRÄT
mit Dr. med. Mandira Reuther, Kinderpalliativmedizinerin
Gruppe 1: Erkrankungen, für die eine kurative Therapie verfügbar ist, die jedoch versagen kann Gruppe 2: Erkrankungen, bei denen ein frühzeiti- ger Tod unvermeidlich ist
Gruppe 3: Progrediente Erkrankungen, ohne die Möglichkeit einer kurativen Therapie
Gruppe 4: Irreversibe, jedoch nicht progrediente Erkrankungen, die regelhaft Komplikationen zeigen und wahrscheinlich zum vorzeitigen Tod führen.
Quelle: Hasan C, Zernikow B: Palliativversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Pädiat Prax 82: 503–24 (2014)
LEBENSBEDROHLICHE ERKRANKUNGEN
Selbstbestimmte Zeit in einer geborgenen Atmosphäre geben
Die pädiatrische Palliativversorgung hilft, schwerstkranken Kindern eine möglichst hohe Lebensqualität zu gewährleisten.
Fotos: Jardai/modusphoto.com
*Name von der Redaktion geändert
T H E M E N D E R Z E I T
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24. Oktober 2014 A 1853 nicht beherrschen können, sollendie Kinder stationär aufgenommen werden. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Kinder an schweren Lungenentzündungen mit Atemnot leiden oder starke Schmerzen haben, die man nicht in den Griff bekommt.“
Eine solche Krisensituation war jetzt bei dem sechsjährigen Lars*
aufgetreten. Bei einer neurodegene- rativen Erkrankung unbekannter Ursache besteht eine extreme Unru- he, er kann aber wegen seiner schweren Mehrfachbehinderung nicht kommunizieren. In solchen, häufig vorkommenden Fällen, ist eine Differenzialdiagnostik der Un- ruhe aber schwierig.
Auf die Frage, was sie an ihrem Beruf liebt, zögert Reuther nur kurz. Es sei letztendlich ein Zufall gewesen. Sie habe eine Weiterbil- dung zur Kinderärztin absolviert und gleichzeitig in Palliativmedizin promoviert, es dann aber bedauert, dass sie kaum Möglichkeiten ge- habt habe, ihr theoretisches Wissen anzuwenden. Sie habe sich deshalb auf eine Stellenausschreibung am Kinderpalliativzentrum in Datteln beworben und diese trotz noch nicht abgeschlossener Facharztwei- terbildung auch erhalten.
„Die Arbeit in der Akutklinik hatte mich auch deshalb unzufrie- den gemacht, weil man so wenig Kontakt mit den Familien hat.“ In der Kinderpalliativmedizin dage- gen begleite man die Familien über sehr lange Zeiträume und teilweise in essenziellen Krisen. Denn auch das ist eine der Besonderheiten die- ser Disziplin. Die Kinderpalliativ- medizin hat es sich zum Ziel ge- setzt, dass jeder Patient und jede Familie individuell den Ort bestim- men soll, wo er die verbleibende Zeit leben möchte. Und das betrifft dann auch die terminale Situation.
„Häufig sagen die Kinder: ,Ich will nicht mehr in die Klinik. Ich will jetzt zu Hause bleiben. Wenigstens das.ʻ “
Und damit das möglich wird, brauche eine Familie viel Sicherheit und Unterstützung, die ihnen die spezialisierte ambulante Palliativver- sorgung gewähre. Deren Angebot habe sich erfreulicherweise in den
letzten Jahren gut entwickelt. So gab es im Jahr 2009 in Deutschland noch keinen einzigen pädiatrischen SAPV-Vertrag, schreiben Dr. med.
Carola Hasan und Prof. Dr. med.
Boris Zernikow (Pädiat Prax 82:
503–24 [2014]). Inzwischen arbei- ten im gesamten Bundesgebiet elf SAPV-Teams für Kinder und Ju- gendliche, 19 weitere Teams befin- den sich in Verhandlungen mit den Krankenkassen oder sind in Planung.
„Die Schwerpunkte der SAPV beste- hen in Beratungsleistung, Koordina- tion der Versorger, additiv unterstüt- zender Versorgung und vollständiger Versorgung in Ausnahmesituatio- nen,“ so Hasan und Zernikow.
„Wenn also die in der Regel sehr gut aufgestellten Kinderkrankenpflege- dienste, Pädiater und vor allem auch die Eltern ein Problem haben, dass sie gemeinsam nicht lösen können, dann können sie durch ein speziali- siertes Palliative Care-Team unter- stützt werden,“ erläutert Reuther.
Außerdem bestehe rund um die Uhr eine Ruf-, Notfall- und Kriseninter- ventionsbereitschaft für die von der SAPV betreuten Patienten.
Vorrangig ginge es dabei um Symptomkontrolle, zum Beispiel Schmerzen oder Luftnot. „Wir schauen dann, um was für eine Krankheit es sich handelt. Wir fra- gen, welche Komplikationen auftre- ten. Und wir überlegen schließlich, was das Kind braucht, um die Symp- tome zu lindern.“ Man müsse dabei
aber eben auch immer die Eltern und Geschwisterkinder im Blick haben.
Bei Krisensituationen, die irgend- wann nicht mehr zu Hause be- herrscht werden könnten, werde die Kinderpalliativstation dann so etwas wie ein Zuhause auf Zeit, in dem Fa- milien möglichst viel ungestörte, selbstbestimmte Zeit in einer gebor- genen Atmosphäre gegeben wird. So haben die Eltern die Möglichkeit, im Kinderpalliativzentrum Datteln Tag und Nacht bei ihrem Kind zu ver- bringen, im Zimmer des Kindes oder in der ersten Etage in einem Eltern-
zimmer, das, so Reu ther, „so einge- richtet ist, dass sich die Eltern dort zurückziehen können“.
Auch nach dem Tod eines Kin- des wird die Familie nicht allein ge- lassen. Sowohl den Eltern als auch den Geschwisterkindern wird eine Unterstützung angeboten. Und wie geht sie selbst damit um, wenn ein Kind stirbt? Wichtig sei ein Aus- gleich wie zum Beispiel sportliche Betätigung, da müsse jedes Team- mitglied für sich eine gute Lösung finden. Und für das Team gäbe es außerdem festgelegte Rituale und Angebote, wie zum Beispiel Inter- und Supervision sowie natürlich Gespräche untereinander.
Abschließend bezieht Reuther, die sich selbst als „eher unpoliti- schen Menschen“ bezeichnet. Stel- lung zu der aktuellen Sterbehilfe-
diskussion. Sie steht einer ärztli- chen Beihilfe zum Suizid – gerade bei Kindern – eindeutig ablehnend gegenüber. „Manchmal halten mei- ne Patienten und ihre Eltern es nicht mehr aus und sagen, dass sie nicht mehr leben wollen. Aber eigentlich wollen sie nur so nicht mehr leben, und wenn man ihre Symptome lin- dert, ist der Wunsch zu sterben, in der Regel nicht mehr existent.“
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Gisela Klinkhammer
„ Pflegedienste, Pädiater und Eltern können durch ein pädiatrisches palliatives Care-Team unterstützt werden.
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Mandira Reuther, Kinderpalliativmedizinerin
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Eine Galerie im Internet:www.aerzteblatt.de/galerie/105