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Seite eins
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 50, 12. Dezember 1997 (1)
„Schlupflöcher“ stopfen
ie Kardiologen markier- ten den Anfang. Jetzt ste- hen alle Augenärzte, alle Radiologen und alleLaborärzte im Verdacht, Abrechnungen zu mani- pulieren und die Krankenkassen um Millionen zu prellen. Jüngstes Beispiel: „Laborärzte kassieren jährlich illegal 100 Millionen DM“, heißt es.
Diese pauschalen Vorwürfe gegen die Vertragsärzte können je- doch zur Zeit weder bestätigt noch dementiert werden. Die Ermitt- lungen laufen. Was bleibt – egal, wie viele Ärzte um welche Summe betrogen haben sollten –, ist das Bild des korrupten, geldgierigen Arztes.
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer glaubt, daß sich die große Mehrheit der Ärzte korrekt verhält. Aufgrund der vielen Er-
mittlungen will er sich aber nun ge- meinsam mit den Kassenärzten und Krankenkassen an einen Tisch setzen. Maßnahmen müßten her, die einen Betrug „deutlich er- schweren“.
Der Fehler liegt in einem Sy- stem mit gravierenden Mängeln.
Die Honorarmisere der vergange- nen Jahre hat die Probleme ver- schärft. Sie mag einzelne Ärzte da- zu verleitet haben, zum Beispiel
„in die Menge“ zu gehen – wohl auch „Abrechnungsakrobatik“ zu betreiben.
Die Kassenärztliche Bundes- vereinigung und die Spitzenver- bände der Krankenkassen arbei- ten daher schon seit längerem an einer neuen Gebührenordnung. In naher Zukunft sollen Leistungs- komplexe und pauschale Vergü- tungen eine gerechtere Honorar-
verteilung ermöglichen und Mani- pulationen verhindern.
Wenn einzelne Ärzte ihren persönlichen Vorteil in unlauterer Weise suchten, sei das nicht zu ent- schuldigen, „jedoch durchaus mit den seit Jahrzehnten verkrusteten Strukturen zu erklären“, meint auch der Präsident der Bundesärz- tekammer, Dr. med. Dr. h. c. Kar- sten Vilmar. Die „Schlupflöcher“
müßten gestopft und das System insgesamt vereinfacht und damit effizienter gestaltet werden.
Wie jedoch eine Kriminalisie- rung ganzer Gruppen konstruiert werden könne, sagte Vilmar, habe bereits der sogenannte Herzklap- penskandal gezeigt: Von den ur- sprünglich mehr als 1 800 Ver- dachtsfällen sei es bisher nur in sehr wenigen Fällen zu einer Anklage gekommen. Dr. Sabine Glöser
Klima-Erwärmung
ie SPD bereitet sich nicht nur auf einen Regierungs-, sondern vor allem auf ei- nen Richtungswechsel vor. In sei- ner Rede vor dem SPD-Parteitag in Hannover ging der wiederge- wählte Parteivorsitzende Oskar Lafontaine mit der Regierung Kohl hart ins Gericht. Sein Vor- wurf: Die Koalition habe in Deutschland ein Klima der sozia- len Kälte geschaffen. Das Gefühl für Gemeinsinn, soziale Verant- wortung und soziale Gerechtigkeit sei verlorengegangen. Nach dem Willen der SPD soll das ab näch- stem Jahr wieder anders werden.
Nach Ansicht von Lafontaine sind mit „Sozialdumping“, der häppchenweisen Demontage der sozialen Sicherungssysteme, be- stehende Probleme nicht zu lösen.
Das derzeit so modische Unter- gangsszenario, das für die Kran- ken- und Rentenversicherung ent- worfen wird, ist Lafontaine des-
halb gründlich leid. Er macht viel- mehr die hohe Arbeitslosigkeit für die Finanzmisere der Sozialkassen verantwortlich. Lafontaines Fazit:
Man kann nicht alles den Kräften des freien Wettbewerbs überlas- sen. Das zeige die Gegenwart.
Obwohl der Parteivorsitzende in seiner Rede nicht eigens auf die Gesundheitspolitik einging, wei- sen zahlreiche Anträge, die an den Parteivorstand überwiesen wur- den, die künftige gesundheitspoli- tische Richtung. Geht es nach dem Willen vieler Sozialdemokraten, wird die Seehofersche Gesund- heitsreform wieder rückgängig ge- macht. Mit sozialer Gerechtigkeit hat diese nämlich nach Ansicht vieler SPD-Politiker nichts mehr gemein. Gesundheit darf keine Frage von Einkommen und Ver- mögen werden, fordert beispiels- weise der Landesverband Bayern.
Im Kreuzfeuer der Kritik: die ver- schärften Zuzahlungsregelungen.
Von einer paritätischen Finanzie- rung der Gesetzlichen Kranken- versicherung könne unter solchen Bedingungen keine Rede mehr sein. Außerdem haben nach An- sicht großer Teile der SPD Ele- mente der privaten Krankenversi- cherung wie Kostenerstattung oder Beitragsrückgewähr in einer solidarisch finanzierten Kranken- versicherung nichts zu suchen.
Lösungen nach dem Ge- schmack der Sozialdemokraten beinhalten unter anderem die Ein- führung eines Globalbudgets und einer Positivliste, die Förderung des Primärarztsystems sowie den Abbau von Überkapazitäten im Krankenhausbereich. Das alles würde eventuell vorhandene Wirt- schaftlichkeitsreserven ausschöp- fen. Die Erhöhung der Beitragsbe- messungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung könnte das dringend benötigte Mehr an Geld bringen. Heike Korzilius