• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "SPD-Parteitag zu Sozialreformen: Die Genossen folgen Gerhard Schröder" (06.06.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "SPD-Parteitag zu Sozialreformen: Die Genossen folgen Gerhard Schröder" (06.06.2003)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

B

erlin-Neukölln, S-Bahnhof Son- nenallee, Sonntagmorgen vor Be- ginn des Außerordentlichen SPD- Parteitags. Trommelklänge wehen über die Gleise. Ob irgendwo Kirchentags- besucher musizieren? Auf dem Weg zur Großveranstaltung löst sich das musi- kalische Rätsel auf: Getrommelt wird auf der Straße vor dem Tagungshotel aus Protest gegen die Agenda 2010, das Reformprogramm von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).

Die Kirchentagsbesucher haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits zu ihrem Glauben bekannt und zu dem, was ih- nen wichtig ist. Die SPD-Delegierten haben das noch vor sich. Dass sie Bun- deskanzler Gerhard Schröder (SPD), zugleich Parteivorsitzender, auf seinem Reformkurs unterstützen werden, gilt trotz allen Geunkes als wahrscheinlich – zumal er für den Fall der Verweige- rung mit Rücktritt gedroht hat.

Stunden später ist die Überraschung gleichwohl groß: Von den 468 Delegier- ten und den 41 Parteivorstandsmitglie- dern stimmen „um 90 Prozent aus Sicht des Präsidiums“ dem Leitantrag des Parteivorstands „Mut zur Verände- rung“ zu, der die wichtigsten Punkte von Schröders Agenda 2010 enthält.

Genauer will es der nordrhein-westfäli- sche Ministerpräsident Peer Stein- brück, heute Sitzungsleiter, gar nicht wissen. Auszählen lässt er nicht.

Zwar hat die Antragskommission der Partei in den letzten Wochen viele Änderungswünsche gesichtet und teil- weise noch in den Leitantrag aufge- nommen. Gleichwohl sind die „Kröten“

im Reformprogramm geblieben, und die Delegierten haben sie geschluckt:

Das Krankengeld wird in Zukunft al- lein von den Versicherten der Gesetzli- chen Krankenversicherung (GKV) fi- nanziert. Die Bezugsdauer beim Ar-

beitslosengeld wird verkürzt, die Ar- beitslosenhilfe sinkt auf Sozialhilfeni- veau. Ohne Debatten ist es nicht gegan- gen. Aber schon der flüssige Ablauf des Parteitags, vom Vorstand forciert und von den Delegierten akzeptiert, ließ vermuten, dass die Basis es hinter sich bringen und das geforderte Bekenntnis zur Agenda 2010 abgeben wollte.

Erst einmal empfängt sie ihren Vor- sitzenden mit höflichem, dünnen Ap-

plaus. Bestimmt, über weite Strecken weniger laut als sonst, beginnt er seine Überzeugungsarbeit. Nur kurz, nur ein wenig arrogant erwähnt er, dass sich die Partei der Reformdiskussion aus- schließlich in vier Regionalkonferenzen widersetzte und damit seinen ursprüng- lichen Plänen: „Die Partei selbst war es, die diesen Parteitag gewollt hat. Sie hat sich diesen nicht immer ganz einfachen Diskussionsprozess zugetraut und sich ihm gestellt.“ Ein weiteres Nachkarten gibt es nicht. Stattdessen appelliert

Schröder eindringlich an seine Ge- nossen, einen Mentalitätswandel in Deutschland mitzutragen: „Heute wird auf uns Sozialdemokraten geschaut: Ob wir den Mut aufbringen, die Herausfor- derungen einer veränderten ökonomi- schen und demographischen Wirklich- keit anzunehmen.“ Dabei dürfe man die Grundwerte der SPD – „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ – nicht mit den Instrumenten verwechseln, mit denen man sie durchzusetzen versuche – unterschwelliger Hinweis auf linke Kritiker in der Partei. Ihre Argumente nimmt er nicht im Detail, sondern nur grob auf mit Hinweisen wie dem, ober- stes Ziel einer Politik der Gerechtigkeit sei es zu verhindern, dass Menschen aus Arbeit und Gesellschaft entlassen wür- den. Man dürfe aber auch nicht zulas- sen, dass sie dauerhaft von staatlicher Unterstützung abhängig werden.

Immer ruhiger wird es im Saal.

Schröder wird noch deutlicher: „Auch wir haben oft genug den Eindruck er- weckt, als sei der Sozialstaat eine Für- sorgegarantie, die sich ohne eigene An- strengung nach Art des Perpetuum mo- bile ständig selbst finanziert – anstatt deutlich zu machen, dass es sich bei un- seren Sozialsystemen um eine Versiche- rung auf Gegenseitigkeit handelt.“

Dass die Agenda 2010 nur der Anfang eines neuen Wegs sei, verhehlt er nicht:

„Es wäre grundverkehrt zu glauben, aus dem, was wir heute beschließen, wür- den schon in wenigen Wochen oder Mo- naten neues Wachstum und neue Ar- beitsplätze entstehen.“ Gleichwohl ge- be es dazu keine vernünftige Alternati- ve. Wer, wie die Sozialdemokraten in Schweden beispielsweise, den Sozial- staat mutig umgebaut habe, dessen Ge- sellschaft stünde heute besser da als an- dere – und die dortige sozialdemokrati- sche Regierung sei wiedergewählt wor- P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 236. Juni 2003 AA1573

SPD-Parteitag zu Sozialreformen

Die Genossen folgen Gerhard Schröder

Nach wochenlangen Debatten hat der Parteivorsitzende und Bundeskanzler nun die Mehrheit seiner Partei für die Umsetzung der Agenda 2010 erhalten.

Die Pläne von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt wurden ebenfalls abgesegnet.

„Froh und glücklich“ – Gerhard Schrö- der nach der Abstimmung über den

Reformkurs Foto: dpa

(2)

den. Zum Schluss bittet Schröder förm- lich um die Zustimmung der Basis: „Wir brauchen Euch, und möglichst alle.“

Beifall, länger und lauter als am Anfang – ob der Zustimmung erscheint es nun erst recht unwahrscheinlich, dass Schrö- ders Kritiker die Stimmung noch zu ihren Gunsten kippen können.

Es gelingt ihnen denn auch nicht.

Zwar greift Andrea Nahles, Sprecherin des Forums Demokratische Linke 21, den Kanzler umgehend an. Sie kritisiert seinen nachfrageschädlichen Sparkurs angesichts der desolaten Lage von Bund, Ländern und Kommunen, ver- langt eine höhere Besteuerung großer Vermögen sowie eine breitere Beitrags- zahlerbasis für das Krankengeld. Ott- mar Schreiner, ebenfalls einer der schärfsten Widersacher von Schröder,

erhält mehr Beifall als dieser und sogar

„Zugabe“-Rufe für seine Kritik an des- sen Lösungen, die die Probleme nur verschärften, wie er findet. Die alleinige Finanzierung des Krankengelds durch die Arbeitnehmer beispielsweise redu- ziere deren Lohn und schwäche die Binnennachfrage, analysiert Schreiner:

„Das passt beschäftigungspolitisch nicht zusammen.“

Doch trotz allen Beifalls erreichen die Kritiker nur, dass bei der kapitel- weisen Abstimmung des Leitantrags etliche Delegierte für die Beibehal- tung der bisherigen Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld und für die Erhal- tung der paritätischen Finanzierung des Krankengelds stimmen – gezählt wer-

den die Minderheitenstimmen auch hier nicht. Der Wind wird den Agenda- Gegnern auch durch einen so genann- ten Perspektivantrag des Parteivor- stands aus den Segeln genommen, der Basis für den nächsten SPD-Parteitag im November in Bochum wird. Darin finden sich abgeschwächt Forderungen der Linken wieder, beispielsweise zur Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen.

„Ganz Europa wartet!“

Doch am Sonntag ist Bochum noch weit und die Agenda 2010 nah. „Es nutzt nichts, den Leitantrag zu beschließen und ihn mit Einzelanträgen zu demon- tieren“, belehrt Generalsekretär Olaf

Scholz die Delegierten. Bundeswirt- schaftsminister Wolfgang Clement lässt ebenfalls nicht locker: „Lasst Euch nicht einreden, wir könnten so weiter- machen wie bisher!“, ruft er in den Saal.

„Ganz Europa wartet auf uns, ganz Eu- ropa!“ Auch alte Kämpfer wie Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel hält es nicht auf ihren Stühlen. „Macht Euch nicht so wehleidig“, schimpft Vogel mit seinen Parteifreunden, „Generationen vor uns haben ganz andere Prüfungen zu bestehen gehabt.“ Das sitzt.

In der Debatte zum Gesundheitswe- sen geht es dann fast einzig um das Krankengeld. Einige Redner mahnen, die paritätische Finanzierung aus Prin- zip nicht aufzugeben oder schon jetzt zu

formulieren, wie das Gesundheitswesen finanziell auf breitere Füße gestellt wer- den könne. Ulla Schmidt greift deshalb ein: Es bleibe schließlich bei der solida- rischen Finanzierung des Krankengelds und komme nicht zu risikobezogenen Tarifen – dies sei das Wichtigste, sagt sie. Der nordrhein-westfälische SPD- Landeschef Harald Schartau verteidigt ebenfalls die Änderung beim Kranken- geld: Man habe keine Probleme damit zu sagen, den Ärzten müssen es richtig an den Kragen gehen, den Apothekern, der Pharmaindustrie. Und er ergänzt schneidend: „Wer meint, wie könnten allen sagen, wo es langgeht, nur den eigenen Reihen nicht“ – der habe die Tragweite des Themas nicht erkannt.

Auch das Kapitel „Zukunftssiche- rung der sozialen Sicherungssysteme“

findet schließlich seine sichtbare Mehr- heit. Es fixiert für den Bereich Gesund- heit das, was Bundesgesundheitsmini- sterin Ulla Schmidt (SPD) bereits mit ihren Gesetzesplänen verfolgt: Medizi- nisch notwendige Leistungen für alle GKV-Versicherten, mehr Einsatz für die Prävention, Erhöhung der Tabak- steuer – angeblich aber, um Jugendliche stärker vom Einstieg in den Tabakkon- sum abzuhalten, obwohl es in Wirklich- keit um die Gegenfinanzierung von Schwangerschafts- und Mutterschafts- leistungen geht. Weiter ist aufgeführt, dass die elektronische Gesundheitskar- te eingeführt werden wird, die Positivli- ste Kosten reduzieren soll, die Finanzie- rung der GKV neu zu ordnen ist und das Krankengeld aus der paritätischen Finanzierung zu nehmen ist.

In zwei Punkten hat die Antrags- kommission Verschärfungen vorgenom- men. Neben der Verbesserung der Qualität soll ausdrücklich auch die Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe- sen dauerhaft und spürbar verbessert werden. Außerdem steht wortwörtlich im Leitantrag, dass das Vertragsmono- pol der Kassenärztlichen Vereinigun- gen gebrochen werden soll und schritt- weise Einzelverträge möglich werden sollen.

Am Ende kommt es, wie es der Kanz- ler gewünscht hatte: Die ganze Agenda findet breite Zustimmung. Er sei „froh und glücklich“, lässt Schröder wissen.

Dann muss er los, zum Wirtschaftsgipfel ins französische Evian. Sabine Rieser P O L I T I K

A

A1574 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 236. Juni 2003

Der SPD-Parteitag gab das von ihm erwartete Bekenntnis zur Agenda 2010 schließlich ab.

Foto:afp

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Winfried Schorre, teil- nahmen, gab es zumindest einen Konsens: Das Bundesgesundheits- ministerium wurde angehalten, die Gespräche mit allen Beteiligten sachorientiert

Nicht etwa, daß meine Standesvertretung ge- gen mich ein Verfahren ein- leiten würde, es reicht ledig- lich, daß irgendein sich är- gernder Kollege sich an die- se

Abschließend betonte der Bundeskanzler, dass "die vergangenen 50 Jahre Gewerkschaft der Polizei 50 gute Jahre keineswegs nur für die Mitglieder, sondern für

Neben der hohen Selektivität für HI- Viren zeigt Saquinavir (Invi- rase ® ) auch eine große thera- peutische Breite: Zytotoxi- sche Wirkungen treten erst in Konzentrationen auf, die

werde. Die Vereinigten Staaten ka- men in diesem Szenario gar nicht vor. Wenn es heute in Amerika ge- legentlich heißt, Europa sei ganz uninteressant geworden, wirklich wichtig

Britische Soldaten sind in Palästina von Irgun-Terroristen hingerichtet worden. Dar- aufhin kommt es in London zu Ausschreitungen gegen deutsche Juden. Sophies Vater wird verletzt;

Er, sehr romantisch und ehrlich sucht liebe Frau zum Aufbau einer ehrlichen Beziehung. 1,93, kurze dunkle Haare, dunkle Augen und sportlich. Altenpflegerin, bin eine gut

This leads to a paradigm shift from an institutional to a strict learner’s and learning process perspective and will lead to new overall and comprehensive