ehn Jahre nach dem Berliner Vereinigungs-Parteitag von West- und Ost-SPD haben sich die Sozialdemokraten bei ihrem jüngsten ordentlichen Parteitag in der letzten Woche in Berlin darauf eingeschworen, innerparteiliche Mei- nungsverschiedenheiten und Rich- tungskämpfe rasch zu beenden und sich hinter Bundeskanzler Gerhard Schröder als geschlossene Regie- rungs- und Volkspartei zu präsentie- ren. Die Partei ist fest entschlossen, sich nicht weiter mit einem Wieder- aufflammen der „Instrumenten-Dis- kussion“ eine selbst organisierte Nie- derlage beizubringen. Der mit über- wältigender Mehrheit angenommene Leitantrag des SPD-Parteivorstandes unter dem Motto „Innovation und Gerechtigkeit. Perspektiven sozial- demokratischer Regierungspolitik“
ist denn auch ganz darauf ausgerich- tet, sich am Machbaren in dieser Le- gislaturperiode zu orientieren.
Der Parteitag war darum be- müht, sich den aktuellen Herausfor- derungen in Wirtschaft und Gesell- schaft, bei der Arbeitsmarktsituati- on, der Steuer- und Bildungsreform und der Sanierung der Systeme der sozialen Sicherung zu stellen, ohne traditionelle Grundwerte und ak- tuelle Leitlinien zu vernachlässigen oder abzumelden. Innovation und Gerechtigkeit sind für die Sozial- demokraten keine Gegensätze, son- dern – wenn auch unter Kraft- anstrengungen – austarierbare zu- kunftsträchtige Wesenselemente ei- ner modernen Gesellschaft, die auch in Europa durchsetzungsfähig sei, je-
doch „keine reine Marktgesellschaft, die entsolidarisiert“. Für die Sozial- demokraten ist deshalb Staatshan- deln und Intervention in allen gesell- schaftlich relevanten Handlungsfel- dern unverzichtbar.
Die SPD verurteilt auch die so- genannte Zwei-Drittel-Gesellschaft, in der mehr als die Hälfte der Bevöl- kerung zu den Vermögenden, Ar- beithabenden und Besitzenden zäh- le, wohingegen für das restliche Drit- tel nur Brosamen abfielen. Die SPD macht sich stark für die Erneuerung des Generationenvertrages und des- sen Anpassung an diskontinuierli- che Erwerbsbiographien.
Lohnnebenkosten stabilisieren
Die Lohnnebenkosten müßten zurückgefahren und stabilisiert wer- den. Weder die ältere noch die jün- gere Generation dürfe mit Steuern, Abgaben und Beiträgen überfordert werden. Deshalb werde die Reform der Alterssicherung eine „neue Ba- lance zwischen Eigenverantwortung und staatlichen Leitlinien“ durch zu- sätzliche Kapitalversicherung anstre- ben. Ein Debattenbeitrag, der emp- fahl, die Sonderalterssicherungssyste- me, etwa der Beamten oder der freien Berufe, in ein Einheitssystem einzu- pferchen, fand indes keinen Widerhall.
Die Sozialdemokraten, so be- schwören sie, sind weit davon ent- fernt, gleiche Einkommen und Ver- mögen, einheitliche Lebensstile zu fordern. Vielmehr soll es um echte
Chancengleichheit, gleiche Ausbil- dungs- und Marktchancen gehen, um gleichen Zugang zu Wissens- und Entfaltungsmöglichkeiten. Dies sei auch eine Botschaft, die vom Blair- Schröder-Papier ausgehe (das in Ber- lin zum Teil kritisiert wurde). Unter Modernisierung und aktiver Arbeits- marktpolitik versteht die SPD die Schaffung zukunftsfester Arbeitsplät- ze, vor allem in den Bereichen der In- formations-, Bio- und Gentechnolo- gie. Insbesondere die Innovations- fähigkeit der Medizin, der Pharma- und Biotechnologie-Industrie sowie im Umweltschutz sei zu fördern.
Auch die Ökologie-Steuerre- form diene einer Entlastung vor allem der Rentenbeiträge. Die Kranken- kassenbeiträge müßten stabilisiert werden – ohne eine Steuererhöhung.
Kärrner- und Überzeugungsar- beit erfordere weiter die Strukturre- form im Gesundheitswesen. Vorran- gig will die SPD vier Problemkomple- xe in Angriff nehmen – ohne die Zu- zahlungsregelungen zu erhöhen: Re- form der Krankenhausfinanzierung;
Qualitätsverbesserung in der Arznei- mittelversorgung durch Einführung einer Positivliste; Stärkung des Haus- arztes als Patientenlotse; Verbesse- rung der Marktposition der Kranken- kassen durch mehr Vertrags- und Steuerungskompetenzen. Angestrebt wird ein parteienübergreifender Re- formkompromiß in der Gesundheits- reform à la Rentenreform. Daß dies gelingen werde, darüber äußerten sich die führenden Sozial- und Ge- sundheitspolitiker beim Berliner Par- teitag optimistisch. Dr. Harald Clade A-3221
P O L I T I K LEITARTIKEL
Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 50, 17. Dezember 1999 (13)