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Archiv "Wissenschaftliche versus „alternative“ Medizin: Arzt, Patient und Krankenkassen im Spagat" (22.05.1998)

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er „Glaubenskrieg“ zwischen der wissenschaftlichen und der „alternativen“ Medizin re- sultiert daraus, daß mit plakativen Be- griffen bewußt Gräben ausgehoben, Dämme aufgeschüttet und scheinbare Gegensätze konstruiert werden – zum Beispiel ganzheitliche versus reduk- tionistische Medizin, menschliche ver- sus apparative Medizin, humanitas versus scientia, unkonventionelle ver- sus konventionelle Therapie, natürli- che versus künstliche Heilmittel und neuerdings Komplementär- versus Schulmedizin. Für jeden humanistisch gebildeten Arzt ist leicht erkennbar, daß es sich kaum um natürliche Ge- gensätze, nicht aber um Alternativen handelt, allenfalls sind es zwei Seiten derselben Medaille. Hier soll beispiel- haft auf den Mißbrauch der Be- griffspaare hingewiesen werden, die ja durchweg von den „Alternativen“ ge- prägt und mit tendenziösen Inhalten versehen wurden.

1. Die wissenschaftliche Medizin greift seit Jahrhunderten auf natürli- che Heilmittel zurück, zum Beispiel Herzglycoside, viele Abführmittel, manche Schmerzmittel (Aspirin aus der Weidenrinde), Antibiotika, Alka- loide (Morphin), Hormone, selbst die modernen ACE-Hemmer haben ihren Ursprung im Gift einer brasilia- nischen Schlange. Dagegen ist das Procain, das in der „natürlichen“ Neu- raltherapie verwendet wird, eine reine Retortensubstanz.

2. Seit Jahren bestand die kon- ventionelle Therapie der Herzinsuffi- zienz aus Digitalis, Diuretika und Va- sodilatanzien. Vor fünf bis zehn Jah- ren rückten ACE-Hemmer in den Vordergrund, jetzt wurde die Bedeu- tung der Beta-Rezeptorenblocker er- kannt, deren Anwendung vor Jahren

durchaus noch unkonventionell war, die sogar als Kontraindikation be- trachtet wurden.

3. Die Behandlung einer Strepto- kokken-Angina mit dem echten Na- turheilmittel Penicillin ist durchaus ganzheitliche Medizin. Durch den an- tibiotischen Wirkstoff werden die Streptokokken in ihrem Wachstum gehemmt, und die körpereigene Ab- wehr vernichtet die Krankheitserre- ger, ganz im Sinne des „medicus curat, natura sanat“.

4. Wissenschaftliche Medizin ist keine Schulmedizin, bei der überholte Ansichten mit erhobenem Zeigefin- ger perpetuierend vom Katheder ver- kündet werden. Kritische Vertreter der wissenschaftlichen Medizin kal- kulieren die Möglichkeit von Irrtü- mern ein. Positive Resultate gelten nur so lange, bis Widersprüche auftre- ten. Wissenschaftliche Medizin ist ei- ne Erfahrungsmedizin.

Therapeutisches Rüstzeug

Dagegen haben Hahnemann, Steiner, Bach und andere Schulen ge- gründet, in denen dogmatisch endgül- tige Wahrheiten verkündet werden, zum Beispiel Charette (1991): „. . . die Homöopathie . . . heilt die gleichen Krankheitsfälle durch die gleichen Heilmittel immer wieder, seitdem Hahnemanns Genius sie begründete.

Können Sie mir eine andere therapeu- tische Methode nennen, von der man das gleiche sagen könnte?“

Dabei handelt es sich überwie- gend um wissenschaftliche Erfahrung, für den einzelnen Arzt Fremd- erfahrung, im Idealfall gewonnen an prospektiven, multizentrischen, kon- trollierten, randomisierten Doppel-

blindstudien. Die Resultate solcher Studien finden im Sinne einer „evi- dence based medicine“ rasch Eingang in das therapeutische Rüstzeug des Arztes. Die persönliche ärztliche Er- fahrung und die allgemeine Lebenser- fahrung können allenfalls eine modifi- zierende Rolle spielen. K. D. Bock for- mulierte die persönliche ärztliche Er- fahrung denn auch sarkastisch als „die Summe getrübter Erinnerungen“.

Die Rechtslage ist eindeutig. In Deutschland herrscht Therapiefrei- heit. Jeder Patient hat Anspruch auf diejenige ärztliche Behandlung, die darauf gerichtet ist, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlim- merung zu verhüten oder Krankheits- beschwerden zu lindern. Die Behand- lung muß notwendig sein, um die ge- nannten Ziele zu erreichen, das heißt, sie muß zweckmäßig und wirtschaft- lich sein. Zweckmäßigkeit impliziert die Wirksamkeit. Das Problem ist, wie der Wirksamkeitsnachweis geführt wird, weil daraus finanzielle Konse- quenzen resultieren:

cNach den Regeln der ärztlichen Kunst?

c Nach dem allgemein anerkann- ten Stand der medizinischen Erkennt- nisse?

cUnter besonderer Berücksich- tigung des medizinischen Fort- schritts?

cAuch dann, wenn die Eignung des Mittels nicht allgemein anerkannt ist, im Einzelfall aber ein positiver Nachweis erbracht wurde?

c Gänzlich ohne Wirksamkeits- nachweis bei den gläubigen Heilver- fahren?

Für den Gesetzgeber ist bislang nur sicher, daß Kosten aus den Berei- chen Scharlatanerie und Wunderhei- lungen durch die Kassen nicht erstat- tet werden dürfen. Die Solidarge- meinschaft der Versicherten atmet er- leichtert auf.

Problematisch sind aber keines- wegs nur die „Heilverfahren“, die der Gesetzgeber den „besonderen Thera- pierichtungen“ zugeordnet hat, also Phytotherapie, Anthroposophie und Homöopathie. Das Besondere an die- sen Richtungen ist, daß sie sich dem forschenden Wettbewerb nicht zu stellen brauchen, daß ihre Wirksam- keit – von wenigen phytotherapeuti- schen Ausnahmen abgesehen – nicht A-1292 (28) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 21, 22. Mai 1998

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Wissenschaftliche versus „alternative“ Medizin

Arzt, Patient und

Krankenkassen im Spagat

Wer ein Therapieverfahren einführen will, trägt die Beweislast. Dies gilt für alle Behandlungsformen.

D

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bewiesen ist, daß es sich also – im Ge- gensatz zur wissenschaftlichen Medi- zin – um eine gläubige Medizin han- delt. Nach U. Schwabe (1996) ist die Hälfte der heutigen Arzneimittel noch immer nicht nach dem Stand der Wissenschaft auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft. Ihre thera- peutische Zweckmäßigkeit erscheint zweifelhaft.

Das betrifft unter anderem durchblutungsfördernde Mittel, Ve- nenpräparate, Rheumasalben, Leber- schutzstoffe, Vitamine, Mineralstoff- präparate. Diese Altlasten wurden vor Inkrafttreten des Arzneimittelge- setzes 1976 registriert. Je nach Stand- ort können sie als umstrittene oder obsolete Arzneimittel oder als Arz- neimittelmüll bezeichnet werden.

Auch insofern ist die Abgren- zung der Schulmedizin gegen andere Therapierichtungen nicht schlüssig.

„Schulmedizin“ beinhaltet gegenwär- tig noch vieles, was einer wissen- schaftlichen Nachprüfung nicht stand- hält. Die ursprünglich einmal vorgese- hene Positivliste sollte dazu dienen, diesen Wildwuchs zu lichten. Sie war eines Tages politisch nicht mehr ge- wollt, weil die Lobby der Pharma-In- dustrie den Gesetzgeber dominierte.

Unkenntnis ist ein wesentlicher Grund für den Hang vieler Deutscher zum Übersinnlichen. Die Ergebnisse von Umfragen sollten nicht täuschen;

sie wurden niemals validiert. Eine Emnid-Umfrage ergab 1996, daß 73 Prozent die Ansicht vertreten, daß al- ternative Methoden wissenschaftlich weniger abgesichert seien, 61 Prozent fanden sie aber oft besser als die Schulmedizin – 77 Prozent der jüng- sten und 51 Prozent der ältesten Be- fragten.

Auch eine Desinformation durch die Medien sollte nicht unterschätzt werden, zum Beispiel in „Mein Kind“ (10/96): Homöopathie hilft bei Übelkeit auf Reisen, Appetitlosig- keit, Magengrimmen nach zuviel Es- sen auf einer Geburtstagsparty, bei Schnupfen, Husten oder Fieber und so weiter, alles Ereignisse, die in der Regel nur Zuwendung benötigen und nicht mehr.

Oder: „Klassische Kinderkrank- heiten wie Keuchhusten, Mumps oder Windpocken verlaufen oft weniger schwer.“ Eine reine Behauptung, oh-

ne jede Untersuchung, ohne jeden Be- leg. Es kommt aber noch schlimmer:

„Lungenentzündung oder Scharlach kann man aber unterstützend, zusätz- lich zu den Antibiotika, mit homöopa- thischen Mitteln behandeln.“ Diese Kombinationstherapie widerspricht allen Regeln der klassischen Homöo- pathie und würde Hahnemann die Zornesröte ins Gesicht treiben. Aber:

Je unsinniger die Aussagen sind, um so eher werden sie geglaubt.

Ein ganz wesentlicher Aspekt darf aber nicht unterschlagen werden – die Unzufriedenheit vieler Patienten mit der Kassenmedizin. Wenn in Deutschland Millionen Menschen un- ter Schmerzen leiden, weil die Ärzte aus vielen Beweggründen (irrationale Ängste vor Nebenwirkungen, Fehlin- formationen durch interessierte Phar- ma-Firmen, Trägheit wegen einiger Formalitäten) retardierte Morphin- präparate nur unzureichend verschrei- ben, und es zusätzlich Apotheker gibt, die vor Morphin warnen und den Pati- enten verunsichern, dann wird der Pa- tient zwangsläufig in die Arme von selbsternannten Heilern getrieben, die jedes Versprechen geben.

Wenn es dem Arzt gelingt, dem Patienten – dem Erduldenden – im echten Sinne des Wortes empathisch und emphatisch zu dienen – zu thera- pieren –, bedarf es keiner „Alternati- ve“. Es ist die Aufgabe der wissen- schaftlichen Medizin, ihre kritischen und wissenschaftlich begründeten Anteile zu erhöhen, ihre technischen Möglichkeiten auszunützen. Es ist aber auch erforderlich, mehr auf den Patienten einzugehen: mehr Zuwen- dung, mehr Fürsorge, mehr Mitleiden und Hand anlegen – eben behandeln.

Es wäre ideal, den Willen des Patien- ten stärker in die Behandlungsstrate- gie einzubeziehen und gleichzeitig energisch und dominant das aufgrund der Datenlage als richtig erkannte Therapieverfahren zu empfehlen und auf Hokuspokus zu verzichten.

Wer ein Therapieverfahren ein- führen will, trägt die Beweislast; wer fordert, daß die Solidargemeinschaft der Versicherten für ärztliches Han- deln aufkommt, ebenso. Die gläubige Medizin ist bislang jeden Beweis für ihre Effizienz schuldig geblieben. Die wissenschaftliche Medizin ist auf ei- nem guten Weg – aber noch lange

nicht am Ziel. Also: Dialog ja – aber ir- gendwann müssen einmal Nägel mit Köpfen gemacht werden, und dann entscheidet die Datenlage. In der Me- dizin sollte – im Interesse des Patienten – der Beweislast das Primat zukom- men. Dabei geht es auch um die „Kas- senfähigkeit“. Das gilt selbst dann, wenn man Celsus (1. Jh. n. Chr.) zu- stimmt: „Auch eine Krankheit, die al- lein heilen würde, kann durch erwiese- ne Hilfe schneller behoben werden.“

Anschrift des Verfassers Medizinalrat

Prof. Dr. med. Frank P. Meyer Institut für Klinische Pharmakologie Otto-von-Guericke-Universität Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

A-1294

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

(30) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 21, 22. Mai 1998

Studie: LDL-

Cholesterin-Senkung auf 75 mg/dl

Amerikanische Forscher vermu- ten, daß KHK-Patienten von der Be- handlung noch weit mehr profitieren könnten, wenn das LDL-Cholesterin noch deutlich aggressiver als bislang üblich gesenkt würde. Als Zielmarke galt in der Sekundärprävention bisher ein LDL-Wert von 100 mg/dl. Nun soll in einer großangelegten internationa- len Studie (Treating to New Targets) überprüft werden, ob sich langfristig bessere Resultate bei einer LDL-Re- duktion auf 75 mg/dl ergeben, wie Prof. Scott Grundy (Dallas) in Atlan- ta berichtete.

Eingeschlossen werden sollen 8 600 KHK-Patienten (Männer und Frauen im Alter zwischen 35 und 75 Jahren) mit nachgewiesener KHK oder vorangegangenem Myokardin- farkt und mit LDL-Werten zwischen 130 und 250 mg/dl. Sie sollen fünf Jah- re lang den CSE-Hemmer Atorvasta- tin erhalten, und zwar bis zu einer Do- sierung von 80 mg täglich. Dadurch soll, so die Hoffnungen, eine Redukti- on der primären Studienendpunkte KHK-Tod und nicht fataler Myo- kardinfarkt um zwei Prozent erwirkt werden. Das Studienresultat wird für das Jahr 2005 erwartet. CV Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-1292–1294 [Heft 21]

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