• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Sprachanbahnung über elektronische Ohren – So früh wie möglich" (16.11.2001)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Sprachanbahnung über elektronische Ohren – So früh wie möglich" (16.11.2001)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Z

wischenmenschliche Kommunika- tion ist hauptsächlich sprachliche – lautsprachliche – Kommunikation.

Zu diesem Zweck haben sich im linken Schläfenlappen des Gehirns Spezialisie- rungen ausgebildet, die ganz spezifisch der Produktion von Lauten und der Analyse von Schallereignissen dienen.

Das Erlernen sprachlicher Kommunika- tion ist genetisch programmiert und durch ein Verhaltensrepertoire abgesi- chert. Es besteht vonseiten der Eltern in der so genannten Ammensprache, die transkulturell eingesetzt wird. Diese Sprechweise kommt mit verminderter Geschwindigkeit, überdeutlicher Arti- kulation und Wiederholungen dem un- ausgereiften Hörsystem des Kleinkinds entgegen. Vonseiten des Kinds besteht die Verhaltensleistung in der Lust, Laut- bilder aufzusaugen und zu repetieren, insbesondere während der zweiten Lall- phase nach dem sechsten Lebensmonat.

Während dieser Zeit und etwa bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nimmt die Zahl der Synapsen im linken Schlä- fenlappen explosionsartig zu. So wird gewährleistet, dass jedes Kind mit Si- cherheit die Sprache seiner Umgebung erlernt: seine Muttersprache. Bis diese Kompetenz entwickelt ist, bedarf es frei- lich langer Lernprozesse. Zwingende Voraussetzungen sind Hörerfahrungen vom ersten Lebenstag an.

Massive Benachteiligungen entstehen zwangsläufig für Kinder, bei denen das Gehör gestört ist. Jedoch besitzt das zen- trale Hör-Sprach-System neuronale Ver- bindungen zu anderen Sinnessystemen (21), sodass bei Hörstörungen auch an- dere Kommunikationsformen benutzt werden können, etwa die Schrift oder die Gebärde. Trotz deren beachtenswerter Kapazität, bezogen auf die zerebralen

Spezialisierungen für Lautsprache sind sie Surrogate. Dennoch haben bislang viele Betroffene darauf erfolgreich ihr Leben gegründet.

In den letzten 20 Jahren haben sich allerdings die Behandlungsmöglichkei- ten von Hörstörungen von Grund auf verändert. Hochleistungshörgeräte und Cochleaimplantate öffnen auch hoch- gradig schwerhörigen und gehörlosen Kindern das Hörsystem und damit den Weg zu einer praktisch natürlichen Sprachanbahnung. Mit diesen neuen Behandlungsmethoden wird das zentra- le Hörsystem, das im Fall angeborener Gehörlosigkeit brach liegt, in Dienst ge- nommen. Dieser Zugang ist etwas grundsätzlich anderes als die früher bei Gehörlosen übliche Sprecherziehung mit Artikulationsübungen. Weil der au- ditorische Eingang fehlte, waren dabei die genetisch vorgegebenen zentralen Prozesse der Sprachanbahnung nicht anzuregen. Eine Erziehung zur Laut- sprache war dementsprechend mühsam, belastend und in den Ergebnissen unbe- friedigend.

Der neuronale Code im Hörnerv

Aufgabe des Innenohrs ist es, Schallrei- ze in Folgen von Aktionspotenzialen in einen neuronalen Code umzusetzen und so in eine für das Gehirn lesbare Form zu bringen. Glücklicherweise ist dieser Code so einfach, dass er imitiert wer- den kann. Cochleaimplantate reizen den Hörnerv in einer Art „Primitivausgabe“

dieses Codes. Das Gehirn ist so potent, dass es damit ausreichend viel anfangen kann – erwachsene, spracherfahrene Pa- tienten können mit einem Cochleaim- plantat wieder Sprache verstehen, gehörlose Kinder, die rechtzeitig ein Im- plant erhalten haben, erlernen ihre Mut- tersprache.

M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001 AA3049

Sprachanbahnung

über elektronische Ohren – So früh wie möglich

Zusammenfassung

Hören erfordert mehr als Ohren. Hören ist in er- ster Linie Auswertung von Schallereignissen durch das Gehirn. Der Hörnerv gibt die im Schallreiz enthaltene Information einfach ko- diert an das Gehirn weiter. Spezialisierte Ner- vennetze führen dort eine Schallanalyse durch.

Die notwendigen neuronalen Netze müssen sich im Kleinkindesalter bilden und funktionell reifen. Dazu ist die Wahrnehmung von Schall- reizen unabdingbar. Ist die Funktion des Innen- ohrs gestört, läuft die Reifung des zentralen Hörsystems nicht ab. Der anfänglich periphere Hörschaden führt zu irreversiblen zentralnervö- sen Defiziten: zu Taubheit. Zentrale Reifungs- prozesse können im späteren Lebensalter nicht nachgeholt werden. Will man einem hörgestör- ten Kind zu normaler Sprachentwicklung ver- helfen, muss die Diagnose früh gestellt werden.

Danach muss mit der Therapie (Hörgeräte oder Cochleaimplantate) so früh wie möglich begon- nen werden, vor dem Ende des ersten, späte- stens innerhalb des zweiten Lebensjahres.

Schlüsselwörter: Hörbehinderung, Kind, Hör- gerät, Cochleaimplantat, zerebrale Reifung

Summary

Early Initiation of Language Development by Means of Electronic Ears

Hearing requires more than ears. Essentially hearing is evaluation of sound signals by the brain. The auditory nerve transmits the infor- mation contained in the sound to the brain using a simple code. Specialized neuronal networks process this information and perform sound analysis. The networks necessary devel- op during infancy and mature. Maturation requires perception of sound stimuli. In cases of impairment of the inner ear, maturation of the central auditory system cannot take place. Con- sequently the deficit leads to central auditory mutilation, i. e. deafness. Cerebral maturation processes cannot be caught up later. If normal language development in children with impaired hearing is desired the diagnosis has to be made early. Subsequent treatment (high-po- wer hearing aids or cochlear implants) has to be implemented before the end of the first or wit- hin the second year of life.

Key words: hearing impairment, child, hearing aid, cochlear implant, cerebral maturation

Physiologisches Institut II (Direktor: Prof. Dr. med. Rainer Klinke) der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frank- furt/Main

Rainer Klinke

Andrej Kral

Rainer Hartmann

(2)

Die Sequenzen von Aktionspotenzia- len im Hörnerv kodieren Schallreize auf zweierlei Art: Zum Ersten reagiert eine einzelne Nervenfaser des Hörnervs vor- wiegend auf eine bestimmte Frequenz, die für jede der etwa 30 000 Fasern an- ders ist. Die verschiedenen Frequenzen eines Schalls werden also auf verschiede- ne Nervenfasern abgebildet. Die so im Innenohr durchgeführte Spektralanalyse des Schallreizes führt dazu, dass je nach Frequenzzusammensetzung verschiede- ne Nervenfasern aktiviert werden (15).

Zum Zweiten entstehen im Hörnerv Ak- tionspotenziale zu bestimmten Phasen des Schallsignals. Aus dem zeitlichen Abstand der Aktionspotenziale kann das Gehirn wiederum die Frequenz eines Schalls berechnen (Periodizitätsanaly- se).

Die Aktionspotenzialmuster im Hör- nerv bilden nur die physikalischen Cha- rakteristika der Sprachlaute ab (15). Ei- ne weitere Informationsverarbeitung fin- det im Ohr nicht statt. Wir „hören“ also eigentlich mit dem Gehirn. Die Frage ist, wie das Gehirn aus dem physikalischen Reizmuster die semantische Bedeutung herausfiltert, und wie es lernt, dies zu lei- sten.

Zentrale Sprachanalyse

Vieles am Prozess der zentralnervösen Sprachanalyse ist noch unverstanden (4).

Es gibt jedoch eine Reihe von Befunden, die für die Frühförderung hörgestörter Kinder von praktischer Konsequenz sind.

Im Gehirn werden die Sequenzen von Aktionspotenzialen des Hörnervs in mehreren Schritten analysiert. Grundla- ge dafür sind neuronale Netze. Über synaptische Verknüpfungen beeinflussen sich Nervenzellen gegenseitig. Als Resul- tat können zum Beispiel bestimmte Ner- venzellen eines Netzwerks durch gewisse Schallfrequenzen aktiviert, durch Nach- barfrequenzen gehemmt werden.

Neuronale Netzwerke arbeiten so be- stimmte Teilaspekte eines Schallreizes heraus, zum Beispiel Frequenzzusam- mensetzung, Frequenzveränderungen, Übergänge, Beginn und Ende et cetera.

Bestimmte Neurone extrahieren also ge- wisse Eigenschaften des Schallreizes, an- dere Nervenzellen bleiben inaktiv. Je

mehr Schritte diese Analyse durchlaufen hat, desto spezifischer reagieren Neuro- ne auf definierte Schallreize. Zum Bei- spiel hat man in der Hörrinde von Affen, wo bereits fünf bis sechs derartiger Aus- wertungsschritte durchlaufen sind, Ner- venzellen gefunden, die praktisch aus- schließlich auf arteigene Laute dieser Af- fenart reagieren. Auch weitere neurona- le Verarbeitungsschritte, die schließlich zur Spracherkennung führen, kann man sich in ihrer Funktionsweise grundsätz- lich ähnlich vorstellen (4).

Reifung des zentralen Hörsystems

Spracherkennung ist jedoch eine Lei- stung des ausgereiften Gehirns. Bei hör- geschädigten Kindern liegt die notwen- dige Reife des zentralen Hörsystems nicht vor. Die Reifung des Gehirns läuft nämlich nur grob in genetisch vorgege- bener Weise ab. Die Detailausreifung

erfordert den Einfluss externer Reize.

Dieser Aspekt ist für die Förderung hör- gestörter Kinder von großer Bedeutung.

Bei ihnen gelangt Information über den Schallreiz vermindert oder überhaupt nicht an das zentrale Hörsystem. So kön- nen die unabdingbar von Schallreizen abhängigen Reifungsprozesse nicht ab- laufen.

Die Bildung und Reifung von Hirn- strukturen besteht grundsätzlich aus den drei Schritten der Aussprossung von Axonen, der Bildung von Mark- scheiden und schließlich der Bildung von Synapsen und deren Stabilisierung

durch Gebrauch und Übung. Damit Axone ihr Zielgebiet finden, orientie- ren sie sich zunächst an Leitstrukturen und nähern sich grob der Zielstruktur (15). In dessen Nähe übernehmen che- mische Signalstoffe die weitere Führung, sodass schließlich die Axone Nervenzellen miteinander verknüp- fen. Gerät ein Axon bei den Wachs- tumsvorgängen in ein falsches Gebiet, dann wird es apoptotisch eliminiert.

Beim Menschen sind die neuronalen Bahnen bis zum Hirnstamm in der 29.

Schwangerschaftswoche angelegt (18).

Die Ausbildung bis zur Hörrinde dau- ert aber noch weitere Wochen und Mo- nate.

Sobald die Axone ihr Zielgebiet er- reicht haben, werden sie myelinisiert, im Hirnstamm also nach der 29.

Schwangerschaftswoche. In marklosen Fasern ist die Leitungsgeschwindigkeit um den Faktor zehn geringer, das Hör- system also schon deswegen nicht voll funktionsfähig. In den hierarchisch

höheren Bereichen der Hörbahn bean- sprucht die Markreifung einen Zeit- raum bis zum vierten Lebensjahr. Die wichtigste Grundlage für eine zentral- nervöse Verarbeitung von Schallreizen ist aber die Ausbildung von Synapsen.

Dort findet die Informationsverarbei- tung statt (15). Im Laufe der Hirnent- wicklung werden zunächst zu viele – auch falsche – synaptische Kontakte gebildet. Danach werden die entstan- denen synaptischen Verbindungen auf ihre Richtigkeit hin überprüft, falsche Verbindungen werden wieder abge- baut (12).

M E D I Z I N

A

A3050 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001

Abbildung 1: Vergleich der Zellgrößen in der lateralen oberen Olive bei einer unbehandelten konge- nital gehörlosen Katze (a). In (b) ist das gleiche Areal nach 2,5-monatiger Elektrostimulation der Cochlea über ein früh eingesetztes Cochleaimplantat dargestellt. Abbildung (c) zeigt das gleiche Areal bei einer normalhörenden Katze. Bei chronischer Aktivierung des auditorischen Systems durch ein Cochleaimplantat nehmen die Zellgrößen deutlich zu. Vergrößerung circa 400fach. (Fotos: Dr. Sil- via Heid).

(3)

Kriterium für die richtigen oder falschen Verknüpfungen ist die „Brauch- barkeit“ bei der Verarbeitung externer Reize. Neurone, die einem gemeinsamen System angehören, werden häufig durch ähnliche Reize, etwa dieselbe Klasse von Phonemen, aktiviert und antworten des- wegen gleichzeitig mit Aktionspotenzia- len. Diese Synchronisation stabilisiert die Synapsen, die übrigen werden ab- gelöst. Die Stabilisierung bedarf also un- bedingt externer Reize, die regelmäßig immer wieder angeboten werden müs- sen. Schon ausgebildete synaptische Kontakte werden nach längerem Nicht- gebrauch wieder abgebaut, gehen also verloren. Dies kann zu Funktionsstörun- gen führen.

Hier liegt das Dilemma für hörgeschä- digte Kleinkinder: Ist das Innenohr nicht funktionstüchtig, reifen die zur Schall- verarbeitung notwendigen zentralen Synapsen nicht. Infolgedessen entsteht sekundär auch ein defizitäres zentrales Hörsystem. Schon Hörbehinderungen durch eine chronische Otitis media im Kleinkindesalter können zu lebenslan- gen Defiziten in der Sprachkompetenz führen (26, 29). Viel gravierendere und bleibende Ausfälle in der Gehirnreifung sind nach einem schweren Innenohrscha- den zu erwarten.

Sensible Perioden für die Reifung des Hörsystems

Die geschilderten Reifungsprozesse lau- fen in einem vorgegebenen Zeitrahmen ab. Bestimmte zentralnervöse Funktio- nen reifen in bestimmten Zeitfenstern, den sensiblen Perioden. Werden diese Zeitfenster verpasst, dann sind die ent-

sprechenden Entwicklungsschritte nicht mehr oder nur mangelhaft nachzuholen.

Bekanntes Beispiel ist die Schielamblyo- pie, die nur bei einer Operation vor dem vierten Lebensjahr mit Sicherheit zu ver- meiden ist (3).

Für das zentrale Hörsystem sind die ersten nachgeburtlichen Lebenswochen wichtige Trainingszeiten im Sinne sensi- bler Perioden. Das Baby lernt in den er- sten Wochen, Schalle auf physikalische Parameter hin zu analysieren, wobei der dafür notwendige zentralnervöse Appa- rat entsteht. Die parallel dazu ablaufen- de Entwicklung des Sprechapparats un- terstützt dieses Lernen durch Bereitstel- lung von Schallmustern in Form des Ba- bylallens, das sich mit der Reifung des Hörsystems auch charakteristisch ändert (erste und zweite Lallphase). Die zweite Lallphase ist eine besonders wichtige Reifungsperiode sowohl für das zentrale Hörsystem als auch für die Sprachanbah- nung. Verstummt zu dieser Zeit der Säugling, so ist dies ein ernster Hinweis auf das Vorliegen von Hörstörungen.

Die genaue zeitliche Bestimmung der sensiblen Perioden beim Menschen ist schwierig, an deren Existenz ist aber nicht zu zweifeln. Wichtige Grundlagen der Sprache sind deren Phonologie, Se- mantik und Syntax. Sensible Perioden für den Aufbau dieser Fähigkeiten liegen in der postnatalen Zeit, wogegen der Fe- tus mit prosodischen Elementen der mütterlichen Sprache schon während der letzten Schwangerschaftswochen ver- traut wird. Säuglinge bevorzugen bei Wahlmöglichkeit die mütterliche Stim- me (1, 26, 28).

Die Diskriminationsfähigkeit für Pho- neme ist im siebten Lebensmonat schon vorhanden. Werker (30) testete die Un-

terscheidungsfähigkeit für Phoneme gro- ßer Ähnlichkeit aus dem Englischen und aus Hindi. Sieben Monate alte Kinder aus dem englischen Sprachraum waren in der Lage, sowohl muttersprachliche Phoneme zu unterscheiden, als auch die aus dem Hindi. Englisch sprechende Er- wachsene hingegen konnten nur die eng- lischen Phoneme unterscheiden. Offen- bar geht gegen Ende des ersten Le- bensjahres die Unbefangenheit gegenü- ber Sprachen verloren und weicht einer Präferenz für die Muttersprache (26).

Die Fähigkeit, Worte wiederzuerkennen, entwickelt sich ab dem achten Lebens- monat (11).

Die sensiblen Perioden für die Ent- wicklung der Semantik liegen viel später.

Semantische Strukturen werden um das vierte Lebensjahr (19, 26) begründet, wogegen die Syntax vermutlich erst um das 15. Lebensjahr konsolidiert wird.

Grundlage dieser Abschätzung sind er- eigniskorrelierte kortikale Potenziale.

Zentralnervöse Defizite durch frühkindliche Hörbehinderung

Aus Tierversuchen kennt man die Defi- zite im zentralen Hörsystem, die bei De- generation des Innenohrs entstehen (6, 8, 16): Die Zahl der Nervenfasern im Hör- nerv wird reduziert, die Neurone der zen- tralen Hörbahn zeigen Inaktivitätsatro- phie, es fehlt regelhafte Aktivität. Ähnli- ches entsteht als Konsequenz frühkindli- cher Hörstörungen beim Menschen.

Andererseits ist bekannt, dass bei an- geborenen Schädigungen des Innenohrs konnatal gehörloser Katzen die neuro- nalen Verbindungen vom Hörnerv bis zur Hörrinde angelegt sind und eine ru- M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001 AA3051

Abbildung 2: Farbcodierte Amplituden der kortikalen Feldpotenziale über dem primären auditorischen Cortex von kongenital gehörlosen Katzen. (a) nai- ves, unstimuliertes Tier, (b) früh implantiertes Tier nach 5,5-monatiger Hörerfahrung über ein Cochleaimplantat, (c) Spätimplantation bei einer älteren Katze, Stimulationsdauer 5 Monate. Abbildung (b) zeigt, dass bei Frühimplantation und monatelanger Hörerfahrung große Teile des primären auditori- schen Kortex zur Reizverarbeitung herangezogen werden und Feldpotenziale hoher Amplitude entstehen.

(4)

dimentäre Funktion besitzen (7). Dies dürfte bei gehörlos geborenen Kindern ebenso sein. Dieses rudimentäre neuro- nale System kann zu Funktionstüchtig- keit gebracht werden (14): Bei Implanta- tion von Cochleaimplantaten in konna- tal gehörlose Jungkatzen normalisiert chronische Elektrostimulation des Hör- nervs die Morphologie der zentralen Neurone (Abbildung 1). Ihre Aktivität nähert sich den normalen Verhältnissen hörender Tiere. Insbesondere laufen in- trakortikale neuronale Verarbeitungs- prozesse ab, die zeigen, dass der Hörkor- tex die ihm zukommende Funktion auf- genommen hat. Eine späte Implantation der als Modell untersuchten gehörlosen Katzen führt dagegen nur noch zu einer mangelhaften Aktivierung des zentralen auditorischen Systems (Abbildung 2).

Die früh implantierten Tiere können auf Schallreize konditioniert werden und lernen, Schalle zu diskriminieren (14).

Derartige Normalisierungen stellen sich bei gehörlosen Kindern in gleicher Wei- se ein, wenn früh implantiert wird.

Frühimplantation führt zu fast normaler Lautsprachekompetenz (5, 9, 10, 13, 22 – 24).

Frühförderung

hörgeschädigter Kinder

Eine für die Therapie kindlicher Hör- störungen wichtige Frage ist, ob die sen- siblen Perioden starre Zeitfenster sind, oder ob sie länger offen bleiben, wenn der zur Etablierung einer zentralnervö- sen Funktion notwendige externe Reiz fehlt. Es gibt Befunde, die in letztere Richtung deuten. Beispielsweise kennt man recht genau den Zeitverlauf der Reifung akustisch evozierter Potenzia- le, die in der zentralen Hörbahn und der Hirnrinde entstehen. Diese Potenziale erreichen Form und Zeitverlauf wie beim Erwachsenen erst nach einem Al- ter von acht Jahren, was zeigt, dass erst zu dieser Zeit die Ausreifung des zen- tralen Hörsystems abgeschlossen wird.

Auch bei elektrischer Reizung des Hörnervs durch ein Cochleaimplantat kann man diese evozierten Potenziale registrieren. Die durch Elektrostimula- tion ausgelösten evozierten Potenziale reifen schließlich zur Form des Erwach- senen heran, aber in einem späteren Le-

bensalter. Es scheint also, dass eine ge- wisse Verlängerung der Reifungszeit möglich ist, wenn frühkindlich eine Hörbehinderung vorliegt (2, 23, 24).

Andererseits lassen sich die sensi- blen Perioden nicht beliebig verlän- gern. Bei gehörlosen Kindern, die jen- seits des vierten Lebensjahres implan- tiert wurden, entwickelt sich in den evo- zierten Potenzialen nicht die N100- Komponente (25). Bei einem gehörlos geborenen Erwachsenen führt die Ver- sorgung mit einem Cochleaimplantat nicht zum gewünschten Erfolg, ohne Zweifel eine Folge fehlender Reifung des Hörsystems im Kindesalter.

Therapeutische Grundsätze

❃Kinder mit einem residualen Hör- vermögen können in geeigneten Fällen binaural mit Hochleistungshörgeräten versorgt werden.

❃Bei vollertaubten oder gehörlosen Kindern kann durch ein Cochlea- implantat die zentrale Hörbahn akti- viert werden.

❃Bei einer Therapie im frühen Kin- desalter sind, sowohl bei Resthörigkeit als auch bei Versorgung mit einem Cochleaimplantat, die sensiblen Peri- oden noch nicht abgelaufen. Zentral- nervöse Reifungsprozesse können also noch rechtzeitig angestoßen werden.

❃ Auch nach Ablauf der sensiblen Perioden bleibt eine gewisse neuronale Plastizität erhalten. Diese kann für per- zeptuelles Lernen ausgenutzt werden, das heißt, konsequentes Üben kann zentrale perzeptive Leistungen verbes- sern.

❃Die Selbstorganisation des Gehirns zur Akquisition optimaler Lösungsstra- tegien sollte nicht durch den Widerstreit verschiedener Zugänge zum Sprach- erwerb behindert werden. Dies spricht gegen die Benutzung einer Gebärden- sprache gleichzeitig mit Anbahnung der Lautsprache. Sonst wird der Konsoli- dierungsprozess synaptischer Verknüp- fungen behindert. Höhere kortikale Areale des zentralen Hörsystems wer- den in diesem Fall sogar konkurrierend durch visuelle Eingänge besetzt (17).

Konflikte, die aus verschiedenen An- sätzen des Unterrichts resultieren, soll- ten also vermieden werden.

Früher Beginn hörgerichteter Spracherziehung

Das Zentralnervensystem des Men- schen ist für Analyse und Produktion von Lautsprache ausgelegt. Entspre- chend ergibt sich die Forderung nach einer hörgerichteten Spracherziehung (20). Seit mit High-Power-Hörgeräten und Cochleaimplantaten die Möglich- keit existiert, den bei hörbehinderten Kindern verschlossenen auditorischen Kanal zu aktivieren, ist es vornehme ärztliche Aufgabe, betroffenen Kin- dern den Weg zur Lautsprache zu eröff- nen. Die primäre Unterrichtung in Ge- bärdensprache ist wegen der obigen Argumente kontraindiziert, zumal auch die Deutsche Gebärdensprache nicht dem gesprochenen oder geschriebenen Deutsch entspricht (27).

Mit einer Therapie sollte so früh wie irgend möglich begonnen werden (13, 22), damit die sensiblen Perioden noch erreicht werden, nach Möglichkeit schon vor Ende des ersten, oder sonst im Laufe des zweiten Lebensjahres. Äl- tere Kinder sollten allerdings nicht von der Behandlung ausgeschlossen wer- den. Für eine rechtzeitige Therapie ist eine frühe Diagnose die unabdingbare Voraussetzung. Somit ist ein flächen- deckendes Screening von Neugebore- nen auf das Vorliegen von Hörstörun- gen zu fordern, wie dies in Hessen be- ziehungsweise im Raum Hannover der- zeit in Pilotprojekten geschieht. Diese Untersuchungen haben bislang bestä- tigt, dass auf etwa 1 000 Geburten mit einem hörbehinderten Kind gerechnet werden muss.

Die Arbeiten der Autoren wurden mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt (SFB 269).

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 3049–3052 [Heft 46]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Rainer Klinke Physiologisches Institut II der Johann Wolfgang Goethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt/Main

E-Mail: klinke@em.uni-frankfurt.de www.kgu.de/physiologie/klinke M E D I Z I N

A

A3052 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Zu wenig Magnesium erfordert Mg-Supplementierung, möglichst Com- pliance-freundlich und gut resorbierbar - Magnesium-Diasporal: Als Granulat (das höchstdosierte

Bei Kordia wurden über alle Ver- suchsjahre mit 10 % signifi kant mehr Premiumkir- schen (> 28 mm) geerntet, wenn die Abdeckung bereits nach der Blüte geschlossen wurde..

Asymptomatische Infektion 200–350 Zellen/ml Jeder Wert Eine Therapie sollte immer angeboten werden Asymptomatische Infektion > 350 Zellen/ml > 55 000 (RT-PCR

Thomas Jansen (Bochum) mitteilte, lässt sich aber die Entwicklung einer schweren, papulo-pustulösen Akneform oder gar einer Ak- ne conglobata eben aufgrund der multifaktoriellen

Auch wenn die Nachsorgeschemata in dieser Studie etwas unterschiedlich als in Deutsch- land waren, sollten die Ergebnisse dieser Studie als Bestätigung für das aktuell in

Vertreter des Nationalrats für Wirt- schaft und Arbeit — Consiglio Na- zionale Dell'Econnomia E Del La- voro (CNEL) — informierten sich bei der Bundesärztekammer über Probleme,

ist unzutreffend dargestellt, daß die Bayerische Ärzteversorgung kein flexibles Altersruhegeld ge- währe.. Richtig ist vielmehr, daß seit dem

Gegenanzeigen: Canephron® Uno, Canephron® N Dragees: Keine Anwen- dung bei Überempfi ndlichkeit gegen die Wirkstoffe, gegen andere Apiaceen (Umbelliferen, z. Anis, Fenchel),