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Archiv "Drei-Wochen-Reha?" (17.05.1996)

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M

it dem Zusammenbruch der Mauer ist auch auf dem Ge- sundheitssektor nicht mehr alles so, wie es war. Moder- ne Medizin ist ein Spiegel der Gesell- schaft. Marx hatte seinerzeit durchaus recht, daß erst die materiellen Le- bensbedingungen das Denken der Menschen bestimmen. Für ein halbes Pfund Butter muß der normale Ar- beitnehmer heute noch sechs, für ein Liter Milch vier Minuten arbeiten.

Was ist medizinisch und moralisch noch richtig angesichts dieses gewach- senen Lebensstandards? Unzufrie- denheit und Angst sind nicht weniger geworden und füllen die ärztlichen Praxen und Kran-

kenhäuser. Die Le- benserwartung ist gestiegen, die Mul- timorbidität auch.

Sie gibt Diagnostik und Therapie ein

unendliches Spielfeld. Die Medizin ist unersättlich geworden.

Die ärztlichen Vergütungsstruk- turen haben sich an diese Entwick- lung unzureichend angepaßt. Viel Umsatz bedeutet mehr Gewinn.

Wenn davon dem einen mehr, dem anderen weniger Leistung zukommt, haben wir dann eine Zweiklassenme- dizin? Schnelligkeit und Sicherheit der Diagnose, Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, Dauer des Heil- erfolges, Sterbealter und Zufrieden- heit des Patienten sind die TÜV- Merkmale der Medizin.

Am Vorabend großer Veranstal- tungen der gesetzlichen Krankenver- sicherung taucht das Schlagwort von der Zweiklassenmedizin immer dann auf, wenn wegen der hohen Lohnne- benkosten und privaten Versiche- rungsprämien Einschränkungen des medizinischen Leistungskatalogs das Wort geredet wird. Die Frage ist, ob der Gesundungsprozeß wirklich von der Menge der medizinischen Lei- stungen abhängt oder ob diese nicht die zwangsläufige Folge struktureller Mängel des Gesundheitssystems sind.

Es versteht sich von selbst, daß der medizinische Fortschritt jedem zugute kommen muß, sei er arm oder reich, jung oder alt. Die Schwierig- keit liegt nur in der Definition des medizinischen Fortschritts. Hier berühren sich philosophische, ethi-

sche, soziologische, ökonomische, ju- ristische und praktische Problemkrei- se der Medizin.

Es ist bemerkenswert, wie wenig aller technischer Fortschritt an den Grundfragen des Lebens geändert hat. In Griechenland wurde die Auf- gabe des Philosophen mit der des Arztes verglichen. Krank oder ge- sund, Schmerz oder Lust, diese Fra- gen wurden von den Alten damals wie heute diskutiert. Schon Aristoteles fragt, wie soll der Mensch leben, was braucht er, um ein gutes Leben führen

zu können? Glück bedeutet für ihn Lust und Vergnügungen, Lebensfrei- heit und persönliche Verantwortlich- keit. Bei den ethischen Tugenden ver- weist er auf den goldenen Mittelweg, Gleichgewicht und Mäßigung. So- krates wunderte sich, wie viele Dinge die Athener zum Leben brauchten.

Die Zyniker meinten, der Mensch müsse lernen, sich mit seinem Schick- sal zu versöhnen, Krankheit und Tod mit Gleichmut ertragen. Die Epikure- er sagten, das höchste Gut sei die Lust, das größte Übel der Schmerz.

Um ein gutes Leben zu führen, müsse die Angst vor dem Tode überwunden werden. Die Humanisten und Auf- klärungsphilosophen hatten einen unerschütterlichen Glauben an die Vernunft, sie waren Rationalisten.

Sind diese Betrachtungen im Zeitalter der High-Tech-Medizin noch zeitgemäß? Sollten sie bei den Ansätzen zur Krankenversicherungs- reform berücksichtigt werden?

Durchaus. Was heute sozialmedizi- nisch aktuell ist, wird in vielem durch den Zeitgeist nicht mehr gedeckt. Das Kantsche universelle Moralgesetz gilt ebenso wie die Naturgesetze. Es gibt einen kategorischen Imperativ in der Sozialmedizin, er muß nur von Anbie- tern und Nachfragern erkannt wer-

den. Gesinnungsethik, Vernunft und Gefühl müssen bei der Krankenversi- cherungsreform sozialmedizinisch berücksichtigt werden. Krankenversi- cherungen müssen den Gegebenhei- ten der Zeit entsprechen. Auch in der Medizin gibt es eine dialektische Ent- wicklung. Aus diesen Spannungen und Verwerfungen entstehen mehr als die Hälfte aller Krankheiten in der ärztlichen Sprechstunde: sie sind psychovegetativ bedingt.

Auch bei noch so geringem objek- tivem Befund hat der Patient Anspruch auf Anhören, Trost und Hilfe. Diätetik im alten Sinne bedeutet Gleichmaß und Mäßigung. Genau das Gegenteil bringt im Medien- zeitalter Umsatz.

Seelische Krank- heiten erfordern seitens des Thera- peuten Zuhören, kluge Ratschläge, wohldosierte, spannungslösende Me- dikamente. Der Patient sollte durch Motivation zu Mitarbeit und Einsicht angehalten werden. Zweiklassenmedi- zin liegt vor, wenn diese Behandlungs- elemente nicht für alle gelten.

Unter Zweiklassenmedizin wird leicht verstanden, daß der Patient län- gere Termine, größere Wartezimmer, unfreundlichere Ärzte, weniger aussa- gekräftige Diagnostikparameter und schlechtere Medikamente bekommt.

Aus ethischer Sicht sind alle Leidenden gleich. Die sozialmedizinische Umset- zung dieses Postulats ist dem deut- schen Gesundheitssystem bisher im in- ternationalen Vergleich gut gelungen.

Die Anbieter waren durch ein Vergü- tungssystem motiviert, welches techni- schen Fortschritt und hohen Umsatz belohnte. Aber nur im ambulanten Be- reich wurde die gefährliche Mengen- komponente durch unmittelbare Haf- tung der Anbieter kontrolliert.

Aus ethischen Gründen läge es nahe, auf der Anbieterseite Medizin und Kommerz zu trennen. Die Erfah- rung in Ländern mit diesen Systemen zeigt, daß dieser Weg nicht möglich ist. Das kommunistische System ist an der Bürokratie erstickt. Die Men- talität des öffentlichen Dienstes er- laubt keinen effektiven Dienstlei- stungsbetrieb. Ökonomische Interes- sen begünstigen zwar Überaktivitä- ten, diese sind aber leichter zu regeln A-1316 (28) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 20, 17. Mai 1996

P O L I T I K KOMMENTARE

Wahn und Wirklichkeit

der Zweiklassenmedizin

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als interessenarme Untätigkeit. Hip- pokratische Berufsethik des Arztes ist notwendig, muß aber materiell un- terlegt werden.

Eine der Ursachen, warum die Versicherungen die stationären Ko- sten nicht in den Griff bekommen, ist die unzweckmäßige Personalstruktur der leitenden Ärzte. Ihnen wird die Kassenzulassung immer mehr entzo- gen. Einkommensverluste werden über die Aufblähung des Privatsek- tors ausgeglichen. Fortschritte in der Intensivmedizin und Anästhesie be-

günstigen diese Entwicklung. Groß- operationen bei über 90jährigen wer- den gegen fünf- und sechsstellige Operationskosten durchgeführt. Die Patienten überleben, sterben aber wenige Wochen später doch zu Hau- se. Insgesamt bleibt die Leidensbilanz negativ. Solche Entwicklungen wer- den in der Praxis nie ganz vermeidbar sein, dafür sind die Verlaufsspektren zu unterschiedlich. Die Hinterfragung aktiver Maßnahmen ohne Vermeh- rung der Lebensqualität muß im Rah- men der obligatorischen Medizin-

ethik-Vorlesungen abgehandelt wer- den.

Eine Zweiklassenmedizin droht, wenn in Aus- und Weiterbildung nicht mehr Grundlagenwissen vermittelt wird. Sozialmedizinisch sind in der Praxis unterschiedliche Überlegungen bei Privat- und Kassenpatienten schon juristisch undenkbar. Medizinethische Probleme dagegen sind häufig juri- stisch kaum faßbar und für die Lebens- qualität oft entscheidend.

Dr. med. Karl-Heinz Weber, Mülheim/Ruhr

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P O L I T I K KOMMENTARE

(30) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 20, 17. Mai 1996

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ozialpolitiker sind zur Zeit auf der Suche nach Einsparungs- möglichkeiten im Gesund- heitswesen, auch bei der medi- zinischen Rehabilitation. Pauschal- vorschläge sind hoch im Kurs. Die Drei-Wochen-„Kur“ wurde vorge- schlagen, wird erprobt. Ist das eine gute Lösung? Sind stationäre Rehabi- litationsmaßnahmen dadurch effizi- enter zu gestalten, daß in kürzerer Zeit mehr Therapie angeboten, in den Rehabilitationskliniken mehr gear- beitet wird? Wie unterscheidet man dringend der Rehabilitati-

on bedürftige Patienten von sozialversicherten Per- sonen mit übertriebener Kurbegehrlichkeit („Overuser“)?

Es gibt Einsparungspotentiale.

§ 12 Abs. 2 SGB VI („ . . . nicht vor Ablauf von drei Jahren“) suggeriert Ansprüche auf wiederholte Rehabili- tationsmaßnahmen, die nur schwer zu vertreten sind, wenn eine Behinde- rung oder eine Gefährdung der Er- werbsfähigkeit nicht fortbesteht.

Bei der Anschlußheilbehandlung (AHB) stellen Krankenhausärzte und -sozialdienst die Indikation zur Reha- bilitation. Das Verfahren ist akzep- tiert, die Zugangswege sind kurz.

Dennoch sind nicht alle AHB-Patien- ten „schwere Fälle“, auch manche AHB-Rehabilitanden benötigen nur kurzfristig (drei Wochen?) die Inter- ventionsbereitschaft, Therapiedichte und Multiprofessionalität einer spe- zialisierten Rehabilitationsklinik.

Bei der „normalen“ Heilbehand- lung stellt der Versicherte den Reha- Antrag an die zuständige Renten- oder Krankenversicherung, den der Hausarzt in der Regel befürwortet.

Will man den Grad und die Dringlich- keit der Reha-Bedürftigkeit bewer- ten, sollte man drei Bausteine zusam- menfügen: subjektive Befindlichkeit, Hausarztbewertung und sozialmedizi- nische Begutachtung.

Subjektive Fragebogen-Meßin- strumente sind in der Erfassung psy- chosozialer Belastungen und vitaler Erschöpfung dem Arzturteil überle- gen. Ein entsprechendes Instrumenta-

rium liegt vor (Ires-Fragebogen) und ist mit dieser Fragestellung validiert.

Der Hausarzt kennt den Patienten länger und besser als ein Gutachter.

Andererseits ist ein sozialmedizini- scher Gutachter (MDK; ärztlicher Dienst der gesetzlichen Rentenversi- cherung) dem Antragsteller weniger verpflichtet. Er sollte auf Grund eige- ner Untersuchungen in Kenntnis von Fragebogen und Hausarzt-Votum über die Rehabilitations-Bedürftig- keit entscheiden.

Es gibt auch „Underuser“ der Re- habilitation: beispielsweise Diabeti- ker, die mit fortgeschrittenem Fuß- Syndrom, mit fortgeschrittenen Reti- nopathien erstmals in die Rehabilita- tion kommen, nie geschult, immer be- lastet, von Amputation oder Erblin- dung bedroht. Zuzahlung oder die An- rechnung von Urlaubstagen würden sie noch mehr abschrecken als bereits

die Angst vor dem Verlust des Ar- beitsplatzes. Das sind deshalb falsche Wege einer Kosteneinsparung.

Wenn eine dreiwöchige medizini- sche Rehabilitation bewilligt wird, wird man einer Reihe von Rehabili- tanden gerecht. Dem steht bisher le- diglich Gewohnheit entgegen. Ande- rerseits lassen sich Lernprozesse, Er- kenntnisprozesse, Umgewöhnungs- prozesse (Gesundheitstraining) und Heilungsprozesse weder durch eine Sechs-Tage-Therapie noch durch ad- ministrative Maßnahmen beschleuni- gen. Viele Patienten benötigen vier bis sechs Wochen Rehabilitation.

Die Ärzte wie Psycholo- gen in den Reha-Kliniken sind heute intensiv mit diesen Patienten befaßt.

Sie erleben zugleich deren Motivati- on, Mitwirkung und die Geschwindig- keit des individuellen Rehabilitati- onsverlaufs. Sie sollten weiterhin mit schriftlicher Begründung eine Be- handlung bis auf sechs Wochen Dauer verlängern können. Damit aber das Ziel einer Verkürzung der Rehabilita- tions-Dauer und Kosteneinsparung erreicht wird, kann jeder Klinik ein Budget von Behandlungstagen je Pa- tient zur Verfügung gestellt werden.

Dieses bietet die Möglichkeit, Unter- schiede nach Indikationen und Kli- nikschwerpunkten zu berücksichti- gen. Ein solches Budget könnte bei- spielsweise bei einer Verweildauer von 30 Tagen auf 26 Tage gesenkt wer- den. Die Verantwortung für die Be- handlungsdauer im Einzelfall läge dann bei den Ärzten, die die Rehabili- tation durchführen.

Dr. med. Eberhard Zillessen, Bad Neuenahr-Ahrweiler

Drei-Wochen-Reha?

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