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Archiv "Gesundheitsreform 2000: „Kurswechsel in der Gesundheitspolitik - vom mündigen Bürger zum entmündigten Patienten?“" (18.06.1999)

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eit nahezu drei Jahrzehnten wird trotz faszinierender, früher für unmöglich gehaltener wis- senschaftlicher und technischer Fort- schritte in vielen Bereichen in immer kürzeren Abständen und mit wech- selnden politischen Vorstellungen in das Gesundheitswesen eingegriffen.

V

Veerrb beesssseerrttee LLeeiissttuunng geenn b

beed diinng geenn hhööhheerree A Auussg ga ab beenn

Nach der ursprünglichen Begei- sterung über den Fortschritt wurden und werden in der gesundheitspoliti- schen Diskussion hauptsächlich an- gebliche oder tatsächliche Schwach- punkte gesucht, das stark erweiterte und verbesserte Lei-

stungsspektrum dage- gen wird als selbstver- ständlich angesehen.

Die mit Leistungsver- besserungen einher- gehenden steigenden Ausgaben wurden als Kostenexplosion emp- funden. Die hätten nach Prognosen Mitte der 70er Jahre angeb- lich dazu führen müs- sen, daß bis zum Jahr 2000 das gesamte Bruttosozialprodukt in das Gesundheits- wesen fließt. Eine Prognose, die sicher nicht eintreten wird.

Dennoch leitete die Diskussion über die angebliche Kostenex-

plosion endgültig einen Paradigmen- wandel ein.

Im November 1975 und im Febru- ar 1976 beschäftigte sich auch die Ge- sundheitsministerkonferenz mit diesen Problemen. Eine Vielzahl von Weiter- entwicklungs-, Dämpfungs-, Haus- haltsbegleit-, mehrstufigen Reform- und Strukturgesetzen sowie von Neu- ordnungs- und Solidaritäts-, manchmal auch Eigenverantwortung-Stärkungs- gesetzen mit unterschiedlichen Ziel- vorstellungen war die unsägliche Fol- ge. Dieser politische Aktionismus quer durch alle Parteien konnte jedoch nur zu einem Kurieren an Symptomen

führen. Die wirklichen Ursachen der Entwicklung wurden nicht analysiert und nicht in eine Gesamtstrategie ein- bezogen. Nicht selten kam auch das nur als dumm zu bezeichnende Argu- ment „Reformen kosten Geld“. Doch allmählich sollten auch die Politiker einsehen, daß unterlassene oder nicht sachgerechte Anpassungen an den Fortschritt der Medizin noch wesent- lich mehr Geld kosten.

W

Wiieed deerr eeiinnm ma all eeiinn

„„JJa ahhrrhhuunnd deerrttg geesseettzz““

An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend steht nunmehr wieder ei- ne angeblich grundlegende „Gesund- heitsreform 2000“ an.

Die Reihe der mehr- fach vollmundig als

„Jahrhundertgesetz“

angekündigten Ein- griffe des Gesetzge- bers wird damit fort- gesetzt. Offenbar ist in unserer schnellebi- gen Zeit die Dauer eines Jahrhunderts auf eine Legislaturpe- riode zusammenge- schnurrt. Die Halb- wertszeit für die Aus- wirkungen derartiger Gesetze hat sich dem- entsprechend dra- stisch verkürzt: Nicht selten ersetzen neue Bestimmungen gera- de erst verabschiedete Regelungen, oft noch

Gesundheitsreform 2000

„Kurswechsel in der Gesundheitspolitik – vom mündigen Bürger

zum entmündigten Patienten?“

Referat des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages anläßlich der Eröffnung des 102. Deutschen Ärztetages am 1. Juni 1999 in Cottbus

S

Im Dialog, wenn auch distanziert: Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer und Ärztetags- präsident Karsten Vilmar bei der Eröffnung des 102. Deutschen Ärztetages

Karsten Vilmar

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bevor die Auswirkungen in der tägli- chen Praxis bekanntwerden konnten, um daraus Konsequenzen für die Zu- kunft zu ziehen. Dieses Verfahren scheint jetzt durch die Taktik der Nachbesserung eine vor allem für Ministerialbürokratien, Medien und Verbände beschäftigungsintensive Variante zu bekommen.

Daß diese Fülle ebenso hart- näckiger wie untauglicher Versuche, die „Gesundheit zu reformieren“, die ungebrochene Leistungsdynamik nicht bremsen konnte, spricht eigent- lich für die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und seiner tra- genden Elemente. Doch genau auf diese, immer noch funktionierenden Konstruktionen zielt die jetzt auf den Gesetzgebungsweg gebrachte „Ge- sundheitsreform 2000“.

G

Geem meeiinnssa am mkkeeiitteenn iinn hheehhrreenn Z Ziieelleenn

Zweifellos entsprechen manche der thesenhaft formulierten Ziele Vorstellungen der Ärzteschaft, wie zum Beispiel

c die Stärkung der Rolle der Hausärzte unter Beachtung der freien Arztwahl;

c die bessere Zusammenarbeit von Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern, zum Beispiel durch gemeinsame Nutzung teurer Medizin- technik;

c der Vorrang von Rehabilitati- on vor Frühverrentung und Pflege;

c die Neuordnung des Arznei- mittelmarktes;

c die Reform der ärztlichen Aus- bildung und Überprüfung der Berufs- bilder der Medizinalfachberufe.

Mit um so größerem Nachdruck lehnt die Ärzteschaft jedoch die sy- stemverändernden Wirkungen ab, vor allem

c die Einführung von Global- oder Sektoralbudgets, die sich ledig- lich nach der Entwicklung beitrags- pflichtiger Einnahmen verändern;

c die Machtverlagerung zu den Krankenkassen mit der Verfügungs- gewalt über die Budgets und da- mit das gesamte medizinische Lei- stungsgeschehen, verbunden mit der Auflösung des Sicherstellungsauf- trages.

Die Bundesärztekammer fordert dagegen,

c das Prinzip einer beitragsfinan- zierten patientenorientierten Versor- gung und eines gegliederten Kranken- versicherungssystems beizubehalten,

c die gemeinsame Selbstverwal- tung zu erhalten und zu einer sektor- übergreifenden Selbstverwaltung aus- zubauen,

c die hausärztliche Versorgung der Bevölkerung bei Wahrung der freien Arztwahl und der ärztlichen Unabhängigkeit zu verbessern,

c die Versorgungsstrukturen an die Fortschritte der Medizin anzupas- sen, sowohl durch eine bessere Inte- gration zwischen dem ambulanten und stationären Versorgungsbereich als auch durch die hierfür erforderli- che Anpassung der Strukturen des ärztlichen Dienstes in den Kranken- häusern.

Nach der Bundestagswahl vom 27. September 1998 ist nach den Wor- ten der neuen Bundesgesundheitsmi- nisterin Andrea Fischer „eine Kehrt- wende in der Gesundheitspolitik ein- geleitet“ worden. Die neue rot-grü- ne Regierungskoalition beabsichtigt, durch eine sozial gerechte Gesund- heitspolitik ein leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem, das auf dem Solidar- und Sachleistungs- prinzip und einer paritätisch finan- zierten Krankenversicherung für alle basiert, erhalten zu wollen. Diese freundlich formulierten Oberziele un- terscheiden sich natürlich kaum von den Zielen der Ärzteschaft, doch be- kanntlich steckt der Teufel im Detail.

Überstürzt und wohl mehr un- überlegt als zielgerichtet soll die gemeinsame Selbstverwaltung durch Machtverschiebung zu den Kranken- kassen aus dem Gleichgewicht, ein lei- stungsfähiges international anerkann- tes Gesundheitssystem damit zum Einsturz gebracht werden. Nicht mehr der medizinische Versorgungsbedarf der Kranken soll das Leistungsge- schehen bestimmen, dies soll sich viel- mehr nach den ökonomischen Inter- essen gesunder Beitragszahler rich- ten. Vorstellungen, durch Wettbe- werb Preissenkungen bewirken zu können, wandeln notwendigerweise die soziale Krankenversicherung zu gewinnorientierten Kassenunterneh- men, die zudem über die Finanzbud-

gets und damit über Art und Umfang der Leistungen im Gesundheitswe- sen bestimmen sollen. Das eigentlich typischerweise von Versicherungen zu tragende Morbiditätsrisiko wird durch diese Machtverschiebung und durch die Festlegung von Globalbud- gets in der Verfügungsgewalt der Kas- sen von den Versicherungen auf die Leistungserbringer verlagert. Aufga- ben und Selbstverständnis der Kran- kenkassen müssen sich dadurch völlig verändern. Vielleicht war auch der vor einigen Jahren vorgenommene Namenswechsel von „Krankenkasse“

zu „Gesundheitskasse“ schon ein Si- gnal in dieser Richtung.

Gesetzliche Regelungen müssen sich auch bei knappen Ressourcen am Versorgungsbedarf der Patienten ori- entieren. Budgets müssen deshalb die Zunahme der Zahl älterer Menschen und deren erhöhten Behandlungsbe- darf ebenso berücksichtigen wie die Veränderungen im Krankheitsspek- trum mit einer Zunahme chronisch Kranker sowie den medizinisch- wissenschaftlichen Fortschritt, der auch künftig vielen Patienten in heute nahezu aussichtslosen Situationen ei- ne wirksame Behandlung eröffnen könnte.

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Offffeennee ood deerr hheeiim mlliicchhee R

Ra attiioonniieerruunng g

Nicht ausreichende oder wegen der Entwicklung der beitragspflich- tigen Einnahmen sogar rückläufige Budgets müssen zur offenen oder heimlichen Rationierung führen. Der Arzt muß dann dem Patienten medizi- nisch notwendige Leistungen verwei- gern. Eine Zuteilung von Gesund- heitsleistungen oder die Ausgrenzung ganzer Alters- oder Krankheitsgrup- pen wäre dann wie schon in anderen unterfinanzierten Gesundheitssyste- men auch in Deutschland die zwangs- läufige Folge. Sie eröffneten bei offe- nen Grenzen in Europa den direkten Weg in eine Mehr-Klassen-Medizin.

Für alle, die sich eine Behandlung im Ausland leisten können, wäre nichts zu befürchten. Andere, insbesondere chronisch Kranke, müßten dies mit dauerhaften Gesundheitsschäden oder sogar dem Leben bezahlen. Dies wä- re eine neue Variante der schon vor

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über 20 Jahren öffentlich in den Medi- en verbreiteten Parole: „Weil du arm bist, mußt du früher sterben.“

Leben und Gesundheit der Men- schen dürfen nicht dem Dogma der Beitragssatzstabilität geopfert wer- den. Es wäre unerträglich, wenn sich trotz der öffentlich beklagten Zunah- me der Zahl der Kranken die Mehr- heit der Gesunden über die körperli- chen und seelischen Nöte und Bedürf- nisse Kranker und Hilfsbedürftiger hinwegsetzen sollte. Die Ärzteschaft lehnt einen solchen „Sozialdarwinis- mus“ ab, sie wird sich dieser Allianz der „Zahlungsunwilligen“ entgegen- stellen.

Es muß mehr als bedenklich stim- men, wenn auch heute schon von

„Überalterung“ oder „Rentnerberg“

gesprochen wird, weil dies den Ein- druck vermittelt, daß Menschen „zu alt“ werden. Andere negieren den Einfluß der demographischen Ent- wicklung auf Ausgabensteigerungen und behaupten, größere Aufwendun- gen entstünden lediglich in den bei- den letzten Jahren vor dem Tode. Die Probleme seien also lösbar, wenn man bei diesem „Kostenkompressionsal- ter“ ansetzen würde. Sie sagen aller- dings nicht, wer dann die Verantwor- tung für die Entscheidung auf sich nehmen soll, „wann die letzten zwei Jahr vor dem Tode beginnen“.

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Auch durch Rationalisierungs- maßnahmen lassen sich langfristig rein ökonomisch bestimmte Ausga- benbudgetierungen nicht kompensie- ren. Sie bringen Ärztinnen und Ärzte außerdem in Konflikte zwischen Sozi- al- und Haftungsrecht. Budgetierung führt also zwangsläufig zur Ratio- nierung mit Zuteilung von Leistun- gen. Finanzbudgetierung wird über eine solche Leistungsbudgetierung schließlich eine „Lebenszeitbudgetie- rung“ zur Folge haben. Ein so provo- ziertes „sozialverträgliches Frühable- ben“ darf nicht Ziel einer humanen Gesundheitspolitik sein!

Diese Zusammenhänge verheim- licht die Politik den Bürgern. Statt dessen wird in einer populistischen Hab’-acht-Stellung mit dem erhobe-

nen Zeigefinger des Haushaltsvor- stands die Parole ausgegeben: Wir können nicht mehr ausgeben, als wir bei stabilen Beitragssätzen einneh- men. Den Folgesatz vergißt die Poli- tik: weil wir nicht mehr ausgeben wol- len, können wir uns auch nicht mehr alles leisten. Wie in allen Lebensbe- reichen gilt: wer budgetiert, rationiert.

Völlig unvernünftig und zum Teil widersprüchlich ist auch das um- fassende bürokratisch-formalistische Qualitätsmanagement für Vertrags- ärzte, zugelassene Krankenhäuser so- wie Vorsorge- und Rehabilitations- einrichtungen, das die Rationierungs- probleme nur weiter verschärfen wird. In der Begründung für diese Vorschriften ist zu lesen: „Da zu ei- nem umfassenden Qualitätsmanage- ment auch eine standardisierte und ausführliche Dokumentation von er- brachten Leistungen gehört, müssen die Richtlinien auch Standards für eine aussagekräftige systematische Dokumentation der Krankendatei vorsehen.“ Dieser Dokumentations- und Durchführungsaufwand erfor- dert aber viel Zeit und Geld, und vor allem entzieht er unter Budgetbedin- gungen dringend benötigte Ressour- cen der Patientenversorgung.

Die Ärzteschaft hat sich seit jeher für eine möglichst gute Qualität ärztli- cher Arbeit eingesetzt, allerdings auf politisches Getöse dabei bewußt ver- zichtet. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, auch aus Zeiten, als Qualitätssicherung noch kein „Mo- debegriff“ geworden war, sind dafür beredtes Zeugnis. Gerade deshalb fordert die Ärzteschaft aber auch seit langem den Gesetzgeber auf, den durch ihn selbst geschaffenen gesetzli- chen Kompetenzwirrwarr wieder zu beseitigen. Die Selbstverwaltung von Krankenkassen, Deutscher Kranken- hausgesellschaft und Ärzteschaft hat zwischenzeitlich funktionsfähige Re- gelungen vertraglich vereinbart, die medizinische Qualitätssicherungsas- pekte einschließen. Dies alles würde jetzt wieder zerstört. Die Bundes- ärztekammer wird zwar erwähnt, es muß ihr aber lediglich „Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben“ werden, Krankenkassen und Krankenhausträ- ger können dann alles Weitere „im Benehmen“ mit der Ärzteschaft re- geln. Medizinische Gesichtspunkte

zur Qualitätssicherung, um vor allem Behandlungsmaßnahmen weiter zu verbessern oder noch sicherer zu ma- chen, wie zum Beispiel funktionelle Endergebnisse, Mortalitäts- oder In- fektionsraten, haben dagegen nur ge- ringere Bedeutung. Riesige Daten- friedhöfe und fehlende Bewertungs- konzepte helfen jedoch keinem einzi- gen Patienten, sie sind reine Geldver- schwendung.

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Wa ahhrrhha affttiig g –– eeiinnee „„ssoozziia allee EElllleennb boog geenng geesseellllsscchha afftt““

Eine Verschärfung der Ratio- nierung wird unter Budgetierungen die für das Jahr 2002 vorgesehene Einführung einer rein monistischen Krankenhausfinanzierung bringen.

Wenn die Länder nach verschiedenen Schätzungen um 2,3 Milliarden DM bis zum Jahr 2002 und um weitere 4,5 Milliarden DM bis zum Jahr 2008 entlastet werden, wird damit das Bud- get um den gleichen Betrag belastet.

Auch diese Milliarden fehlen dann bei der Patientenversorgung. Die finan- zielle Entlastung der Länder führt also zur Belastung der Kranken – das ist wahrhaftig „soziale Ellenbogen- gesellschaft“.

Die jetzt in § 116 a des Referen- tenentwurfes vorgesehene Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Behandlung bei „schweren Krank- heitsbildern mit komplizierten Ver- läufen und bei hochspezialisierten Leistungen“ auf der Grundlage eines von den Selbstverwaltungen zu ver- einbarenden Kataloges entspricht diesen Forderungen jedoch kaum.

Im Gesetzentwurf heißt es zwar, „die ermächtigten Krankenhäuser haben sicherzustellen, daß die vertragsärzt- lichen Leistungen ausschließlich durch Krankenhausärzte mit abge- schlossener Weiterbildung erbracht werden . . .“, doch diese Formulierung läßt nicht klar erkennen, was eigent- lich wie geregelt werden soll. Weitaus klarer ist eine vom 101. Deutschen Ärztetag 1998 verabschiedete Ent- schließung zur Verbesserung der Inte- gration, um durch entsprechend quali- fizierte und spezialisierte Kranken- hausärzte bestimmte Leistungen, für deren fachgerechte Erbringung zur Vermeidung gesundheitlicher Risiken

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für den Patienten die Infrastruktur ei- nes Krankenhauses oder eine entspre- chende intensivmedizinische Struktur erforderlich ist, sowohl stationär als auch ambulant erbringen zu können.

Dazu gehören insbesondere Leistun- gen der

c Interventionellen Kardiologie c Interkonventionellen Gastro- enterologie

c Interventionellen Radiologie c Versorgung spezieller onkolo- gischer Patienten

c Versorgung spezieller Formen der AIDS-Erkrankung.

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Geelld dw weerrttee G Geesscchheennkkee d

deerr K Krra annkkeennhha auussä ärrzzttee

Die notwendigerweise kosten- aufwendige Infrastruktur eines Kran- kenhauses und die in Deutschland be- währte Struktur einer wohnortsnahen fachärztlichen Versorgung durch als Kassenärzte zugelassene Fachärzte steht einer generellen Öffnung für die fachärztliche ambulante Versor- gung auch bei schwer definierba- ren „schweren Krankheitsbildern mit komplizierten Verläufen und bei hochspezialisierten Leistungen“ ent- gegen. Abgesehen davon kann schon heute die Versorgung der stationären Patienten im Krankenhaus nur durch die Ableistung von Millionen unbe- zahlter und auch nicht in Freizeit ab- zugeltender Überstunden aufrechter- halten werden. Die Krankenhausärz- te erbringen so geldwerte Geschenke an die Gesellschaft in vielfacher Mil- lionenhöhe. Bevor das Krankenhaus mit weiteren Aufgaben belastet wird, sollten Gesetzgeber und Tarifpartner der öffentlichen Hand Bund, Länder und Gemeinden zunächst einmal dafür sorgen, daß die von ihnen selbst verabschiedeten gesetzlichen oder tarifvertraglich vereinbarten Bestim- mungen im Krankenhaus auch einge- halten werden können.

Bei den Überlegungen für ei- ne grundlegende „Gesundheitsreform 2000“ muß endlich Schluß sein mit den schon jahrzehntelang zumeist ideo- logisch geprägten gesundheitspoli- tischen Humanexperimenten. Man fragt sich, warum zum Beispiel die Einführung einer neuen Kopfschmerz- tablette von einer Ethikkommission

begutachtet werden muß, Einführung und Folgen politischer Entscheidun- gen jedoch einem solchen Votum nicht unterzogen werden müssen.

Ebensowenig gibt es dort eine pro- duktbegleitende Forschung oder gar Qualitätssicherungsmaßnahmen mit Sanktionsmechanismen.

Auch eine von der Gesundheits- ministerkonferenz geplante Regelung von Patientenrechten mit dem Ziel, den Patientenschutz zu verbessern, gehört in diese „Reform“-Kategorie.

Selbst wenn von wenigen Leuten im- mer wieder behauptet wird, Deutsch- land sei bei der Entwicklung einer

„Patientencharta“ rückständig, sind doch durch Gesetz und Recht- sprechung die Patientenrechte in Deutschland heute schon wesentlich besser ausgebaut als in vielen Län- dern der Welt. Angeblicher Patien- tenschutz und Regelungen in einer Patientencharta spielen doch beson- ders in den Ländern eine große Rolle, in denen wie in Großbritannien Ge- sundheitsleistungen rationiert sind, Patienten mit bestimmten Krankhei- ten oder bei Überschreiten zum Bei- spiel des 70. Lebensjahres also Lei- stungen vorenthalten werden. Durch eine so unterlassene Hilfeleistung wird die Gefahr eines vorzeitigen To- des erhöht. Mit solcher Leistungsra- tionierung ist der Weg zu einer angeb- lich freiwilligen Euthanasie wie in den Niederlanden nicht mehr weit. Dies aber ist für die deutsche Ärzteschaft ethisch nicht vertretbar. Sie wird des- halb solchem Ansinnen mit allen ge- botenen Mitteln entgegentreten.

PPoolliittiisscchhee BBeessttiim mm muunng g vvoonn „„W Wiisssseennsscchha afftt““

Wer den neuen Paragraphen 136 im Entwurf genau liest, entdeckt ei- nen Perspektivwandel: Wissenschaft- liche medizinische Leitlinien sollen zu einer wirtschaftlich sinnvollen Dia- gnostik und Behandlung anleiten.

Dies wäre der erste Gesetzgeber, der sich anmaßt, Wissenschaft politisch zu bestimmen. Einen Vorgeschmack ha- ben wir ja schon zu spüren bekommen mit den politischen Vorwürfen zur Antibiotika-Verordnung bei Grippe und der Diffamierung der Arzneimit- teltherapie der Kassenärzte als politi-

scher Boykottaktion gegen Budgets.

Aufklärung des einzelnen Patienten über Chancen und Risiken von Be- handlungsmaßnahmen gehört für Ärztinnen und Ärzte zu den Berufs- pflichten. Aus der ethischen Verant- wortung ergibt sich aber auch eine Aufklärungspflicht gegenüber der Öf- fentlichkeit, wenn politisch nach dem Dogma der Beitragssatzstabilität be- stimmte Maßnahmen Gefahren oder gar Schäden für die Bevölkerung her- aufbeschwören. Wer weiß denn, ob der Bürger wirklich angesichts der zu erwartenden Folgen eine starre Bei- tragssatzfixierung will? Ist es nicht denkbar, daß vor einer rein politisch verordneten Rationierung eine ande- re Werteentscheidung erfolgt? Die rund 500 Milliarden DM, die insge- samt in Deutschland für Gesundheit ausgegeben werden und die damit fast das Doppelte der Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen be- tragen, zeigen doch deutlich, daß die Bürgerinnen und Bürger ganz andere Prioritäten setzen als die von der Poli- tik verordneten.

Starken wirtschaftlichen Druck auf Patienten und Ärzte bewirkt auch der im Entwurf für eine „Gesundheits- reform 2000“ vorgesehene Wettbe- werb der Krankenkassen und deren Handlungsallmacht. Sie führt zur Aushöhlung des Sicherstellungsauf- trages der ärztlichen Selbsverwal- tungskörperschaften. Die Bestim- mung des medizinischen Leistungs- spektrums nach ökonomischen Vorga- ben allein durch die Krankenkassen ist gleichsam der Weg in die Leibeigen- schaft der Patienten. Mündige Bürger werden so zu unmündigen Patienten, über deren Wohl und Wehe Kranken- kassenfunktionäre bestimmen.

Eine moderne zuwendungsinten- sive Versorgung erfordert neben der freien Arztwahl durch den Patienten die Therapiefreiheit des Arztes und einen Schutz dieses Patient-Arzt-Ver- hältnisses. Die im Entwurf vorgesehe- ne Vermittlung intimer Gesundheits- daten an die Krankenkassen ist damit nicht vereinbar. Das Arztgeheimnis ist kein Privileg des Arztes, sondern ein fortgeleitetes Patientenrecht, das zu wahren ist.

Nach der seit Mitte der 70er Jah- re einsetzenden Vergötzung der Tech- nik in der Medizin wird nach einem

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Eröffnung des 102. Deutschen Ärztetages: Ganz oben links die Träger der Paracelsus-Medaille (von rechts nach links): Dr. med. Gerhard Loewenstein, Prof. Dr. med. habil. Willi Heine, Prof. Dr. med. Klaus- Ditmar Bachmann, daneben Präsident Vilmar. Oben rechts: Dr. med.

Udo Wolter, Präsident der gastgebenden Ärztekammer Brandenburg.

Darunter: Der Ministerpräsident des Landes, Dr. Manfred Stolpe.

Daneben: Stadthalle Cottbus mit – eher witzigen als polemischen – Protestplakaten gegen die Gesundheitsreform. Darunter: Ober- bürgermeister Waldemar Kleinschmidt. Ganz unten: Brot und Salz für die Gäste, überreicht von einer jungen Frau in sorbischer Tracht

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neuerlichen Paradigmenwechsel nun- mehr wiederum eine zuwendungsin- tensive Medizin gefordert; sie ist ohne gesichertes Vertrauensverhältnis zwi- schen Patient und Arzt nicht denkbar.

Der Patient muß sicher sein, daß seine dem Arzt offenbarten Intimdaten Ge- heimnis des Arztes bleiben, wie es seit zweieinhalbtausend Jahren der hip- pokratische Eid fordert. Sollte der Gesetzgeber das verändern, hätte dies tiefgreifende Folgen für die Vertrau- ensbeziehung zwischen Patient und Arzt. Der Arzt wäre dann nicht mehr dem Wohl des einzelnen Patienten verpflichtet, sondern wird damit zum Erfüllungsgehilfen der Krankenkas- sen degradiert. Das wird das Arzt- bild in der Öffentlichkeit und auch das Selbstverständnis jedes einzelnen Arztes wie der Gesamtärzteschaft maßgeblich verändern.

Der Arztberuf hat sich seit lan- gem – weitgehend losgelöst von Zeit- strömungen, Weltanschauungen und politischen Gesellschaftssystemen – zu einer einheitlichen und im wesent- lichen unveränderten ärztlichen Be-

rufsethik bekannt. Trotz aller Mei- nungsverschiedenheiten und wissen- schaftlichen Auseinandersetzungen über einzelne ärztliche Untersu- chungs- und Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit, Unbedenklich- keit oder Wirtschaftlichkeit, trotz im- mer noch unaufgeklärter Zusammen- hänge menschlichen Lebens gab und gibt es in der Welt eine im wesentli- chen einheitliche Auffassung über das Ziel ärztlichen Handelns.

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Eine wechselnden gesellschaftli- chen und politischen Kräfteverhält- nissen ausgesetzte „opportunistische Ethik“ ist dem ärztlichen Berufsstand fremd. Daran ändert sich auch nichts, wenn einzelne Ärzte gegen die gebo- tenen Maximen ärztlichen Handelns verstoßen. Denn unter ethischen Ge- sichtspunkten sind die zu fordernden Maximen seit Bestehen des Arztberu- fes im Grundsatz unbestritten.

Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen ebenso wie die erstaunlichen Entwicklungen in der Medizin haben sich dennoch auf das Arztbild und das Selbstverständ- nis der Ärzte ausgewirkt. Die äuße- ren Rahmenbedingungen veränder- ten sich insbesondere seit der Kaiser- lichen Botschaft vom 17. November 1881 und der Gesetzgebung der Kran- kenversicherung der Arbeiter vom Juni 1883. Waren ursprünglich nur rund 10 Prozent der Bevölkerung in den gesetzlichen Krankenkassen ab- gesichert, erhöhte sich dieser Anteil schon bis 1913 auf ungefähr 30 Pro- zent im Deutschen Reich. Der Anteil stieg als Folge zweier Weltkriege und anschließender Inflation und Wäh- rungsreformen, aber auch aus politi- scher Motivation bis heute auf nahezu 95 Prozent der Bevölkerung. Heute bestimmt das für die Gesetzliche Krankenversicherung zunehmend engmaschiger gestaltete Regelwerk den ärztlichen Alltag in Praxis und Klinik; es wirkt sich sogar auf die pri- vatversicherten Patienten und die für Großes Interesse bei Ärzten und Presse an den „politischen Reden“ bei der Eröffnungsveranstaltung des Ärztetages in der Stadthalle Cottbus

Alle Fotos vom 102. Deutschen Ärztetag: Eberhard Hahne

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diese geltende amtliche Gebühren- ordnung aus. Nennenswerte Betä- tigungsmöglichkeiten finden sich außerhalb des Kreises der gesetzlich krankenversicherten Patienten für den Arzt in der Regel nicht. Der Arzt, insbesondere der niedergelassene Vertragsarzt, ist mehr und mehr von den Vorgaben der Gesetzlichen Kran- kenversicherung abhängig geworden.

Die gemeinsame Selbstverwaltung hält dies heute einigermaßen in Ba- lance. Gerade sie soll jetzt aber nahe- zu abgeschafft werden.

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Doch auch die eigentliche ärztli- che Tätigkeit hat sich verändert.

Früher erfolgte die ärztliche Behand- lung zumeist im häuslichen Bereich der Patienten, durch einen Tag und Nacht dafür zuständigen Hausarzt.

Heute erfordern Spezialisierung und Differenzierung der ärztlichen Tä- tigkeit sowie der Einsatz kompli- zierter und kostenintensiver Technik eine Konzentration in Arztpraxis und Krankenhaus. Die besonders in den vergangenen fünf Jahrzehnten sprunghaften Fortschritte haben bei der Behandlung einzelner Patienten Veränderungen bewirkt, aber auch den einzelnen Arzt durch die Vielzahl neuer Methoden oft vor ungeahnte Probleme gestellt und die Arbeit der Ärzte insgesamt strukturell erheblich beeinflußt, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Häufig ist ein intensives Zusammenwirken mehrerer Speziali- sten für einen Patienten gleichzeitig oder nacheinander erforderlich – ein Privileg, das früher nur regierende Fürsten hatten. Dieses Zusammen- wirken erfordert nicht nur Vertrauen des Patienten in die ihn behandelnden Ärzte, sondern auch Vertrauen der behandelnden Ärzte untereinander, als Voraussetzung für kollegiales Zu- sammenarbeiten und für die Zu- gehörigkeit zu einem gemeinsamen Berufsbild „Arzt“.

Durch die Mitwirkung kompe- tenter Ärzte und durch die Konzen- tration kostenintensiver Infrastruk- tur, die im häuslichen Bereich nicht mehr vorgehalten werden konnte, entwickelten sich aus den früheren

Siechenhäusern allmählich Kranken- häuser. Die Veränderungen in der Ge- sellschaft, insbesondere der Familien- und Wohnstrukturen, förderten eben- so eine weitere Verlagerung von Lei- stungen in das Krankenhaus. Zur Be- wältigung der Arbeit wurde dort immer mehr ärztliche Arbeitskraft benötigt. Der Spezialisierung wurde lediglich in begrenztem Umfang durch Unterteilung Rechnung ge- tragen. Dabei blieben freilich die ursprünglich dem Militär oder der allgemeinen Verwaltung entlehnten Grundstrukturen nahezu unverän- dert. Der leitende Arzt blieb zunächst tatsächlich noch der allein behandeln- de Arzt, dem nur einige wenige, all- mählich jedoch immer mehr jüngere Ärzte zur Hand gehen, um die Arbeit zu bewältigen, und gleichzeitig, um ih- re Kenntnisse zu vertiefen und Erfah- rungen zu sammeln. Zumeist ließen sie sich schon nach recht kurzer Zeit in eigener Praxis nieder.

Die Arbeitsbedingungen mit Auswirkungen auf die ärztliche Be- rufsbiographie änderten sich in den vergangenen vier Jahrzehnten jedoch nachhaltig. Meilensteine dafür waren:

c Das Bundesverfassungsge- richtsurteil von 1960 mit Aufhebung der als verfassungswidrig bezeichne- ten Verhältniszahl. Es eröffnete vielen langjährig am Krankenhaus unter teil- weise unerträglichen Arbeitsbedin- gungen mit Wochenarbeitszeiten von 80 bis 120 Stunden tätigen Fachärzten die Möglichkeit zur Niederlassung in eigener Praxis.

c Das Inkrafttreten des Bundes- angestellten-Tarifvertrages (BAT) am 1. April 1961: erstmals wurde die Ar- beitszeit begrenzt auf 60 Wochenstun- den zu einer Zeit, als für andere An- gestellte schon die 48-Stunden-Woche selbstverständlich war.

c Die Einführung von Einzellei- stungsvergütungen bei den niederge- lassenen Kassenärzten, mit der die Ausstattung der Praxen mit techni- schem Gerät bewußt gefördert wurde, um der in den Medien verbreiteten Parole „Opas Praxis ist tot“ entgegen- zutreten.

Allgemein herrschte die Ansicht, daß auch in der Medizin ebenso wie in der Weltraumfahrt alles möglich sei, wenn man es nur zweckmäßig organi- siere und finanziere. Sichtbarer Aus-

druck dafür waren riesige Kranken- hausneubauten, gleichsam die Kathe- dralen der Neuzeit.

Trotz der damit eingeleiteten Veränderungen wird das Berufsbild weiterhin durch den freiberuflich täti- gen Arzt geprägt, auch wenn inzwi- schen die Zahl angestellter oder be- amteter Ärzte wesentlich größer ist.

Dennoch empfinden sich alle Ärzte von ihrem Selbstverständnis her als Freiberufler, und auch in der Bun- desärzteordnung heißt es im Para- graph 1: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“

Der Gesetzgeber wollte mit die- ser Feststellung sicher nicht den Ärzten einen Gefallen tun, er hat vielmehr vitalen Patienteninteressen Rechnung getragen und auch auf die- se Weise der in Artikel 1 des Grund- gesetzes verankerten Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde ent- sprochen. Die Freiheit des Arztes ist unbedingt notwendig, um frei von fachfremden äußeren Einflüssen, al- lein nach ärztlichem Gewissen über die erforderliche Behandlung in je- dem individuellen Einzelfall ent- scheiden zu können. Sie ist Freiheit für etwas, nämlich Freiheit für den Patienten.

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Die durch die Spezialisierung veränderten Arbeitsmöglichkeiten bewirkten Verschiebungen der Antei- le der im Krankenhaus und in freier Praxis tätigen Ärzte. Die Zahl der Krankenhausärzte stieg seit 1960 von 22 702 um das Fünffache auf 107 468 im Jahre 1994. Die Zahl der in eigener Praxis freiberuflich tätigen Ärzte nahm seit 1960, als von der Politik ein großer Ärztemangel beklagt wurde, von 46 795 um rund das Zweifache auf 90 406 im Jahre 1994 zu (sämtliche Zahlen Bundesländer West). Bei den leitenden Ärzten im Krankenhaus fand sich ebenfalls nur eine Verdop- pelung der Zahl von 5 400 im Jahre 1960 auf heute 10 500. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Krankenhausärz- te verschob sich dadurch von ur- sprünglich 18 Prozent auf heute nur

noch 9 Prozent. !

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Wenn jedoch weiterhin nahezu 90 Prozent der im Krankenhaus täti- gen Ärzte nach jeweils etwa vier bis zehn Jahren nach Abschluß ihrer Wei- terbildung, also nach etwa einem Drit- tel ihrer Lebensarbeitszeit, wegen be- fristeter Verträge das Krankenhaus verlassen müssen, um die folgenden zwei Drittel ihrer Lebensarbeitszeit überwiegend in eigener Praxis zu wir- ken, müssen die Arztzahlen in der Praxis stark ansteigen. Denn die Zahl der Krankenhausärzte beträgt nicht mehr wie 1960 lediglich ein gutes Viertel der Ärzteschaft, sondern übersteigt die Zahl der niedergelasse- nen Ärzte inzwischen deutlich.

Für den Gesetzgeber war dies wiederum nur Anlaß, an Symptomen zu kurieren und ab 1993 Zulassungs- sperren bei Überversorgung sowie ab 1999 die Zulassung zur vertragsärztli- chen Versorgung nur nach Verhältnis- zahlen zu ermöglichen. Ein Großteil der Ärztinnen und Ärzte ist damit künftig nach Abschluß ihrer Weiter- bildungszeit ab etwa dem 35. Lebens- jahr ohne berufliche Perspektive. Die daraus resultierende Frustration und Desillusionierung ist durch ein in- ternationales Kooperationsprojekt des Berliner Forschungsverbundes Public Health in Zusammenarbeit mit der Berliner Ärztekammer und dem Institut für Gesundheitsförde- rung in Österreich erkennbar gewor- den. Sie ist unter dem Titel „Ende ei- nes Traumberufs“ eindrucksvoll be- schrieben.

Perspektivlosigkeit der berufli- chen Zukunft kann ebenso wie zuneh- mende Reglementierung der Berufs- ausübung auch in der immer noch so- genannten freien Praxis nicht ohne Auswirkung auf das ärztliche Selbst- verständnis bleiben. Schon heute emp- finden sich nicht wenige niedergelas- sene Vertragsärzte zunehmend als An- gestellte der Krankenkassen. Weitere Reglementierungen werden weder an den Ärzten im Krankenhaus noch an den Niedergelassenen spurlos vorbei- gehen. Insoweit hat Karl Marx recht:

das Sein bestimmt das Bewußtsein.

Leistungs- und Einsatzbereitschaft werden gelähmt, Wartelisten für Pati- enten sind die Folge. Dies belegen ein- drucksvoll die Entwicklungen in ande- ren staatlichen, zumeist unterfinan- zierten Gesundheitssystemen.

Die Ärzteschaft hat dies frühzei- tig erkannt und rechtzeitig Reformen gefordert. Die sachgerechten Vor- schläge wurden jedoch Opfer von Ideologien und Partikularinteressen zur Wahrung von Augenblicksvortei- len, aber auch der in Deutschland be- sonders komplizierten Kompetenzre- gelungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Die Verantwortli- chen in Bund und Ländern zeigten sich bislang nicht nur völlig fakten- resistent, unterschiedliche politische Mehrheiten in Bundestag und Bun- desrat sowie parteipolitisch geprägte Ideologien führten darüber hinaus zu einer Blockade aller Reformvorstel- lungen. Viele der heute beklagten Pro- bleme wären bei rechtzeitiger Anpas- sung der Versorgungsstrukturen nicht entstanden oder hätten mindestens nicht dieses Ausmaß angenommen.

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Die Fehlentwicklungen wurden zum Teil sogar politisch gefördert.

Wenn der stellvertretende Vorsitzen- de der SPD-Bundestagsfraktion, Ru- dolf Dreßler, heute moniert, daß sich die Zahl der niedergelassenen Ärzte seit 1960 verdreifacht habe, ist dies zunächst einmal falsch, denn die Zahl hat sich seitdem von 54 000 auf heute 112 000 erhöht, also nur verdoppelt, weil man die Steigerung durch den Beitritt der neuen Bundesländer nicht in diesen Vergleich einbeziehen darf.

Zum anderen ist Rudolf Dreßler dar- an zu erinnern, daß bis Ende der 70er Jahre von der Politik ein großer Ärz- temangel beklagt wurde, der zu einer politisch gewollten Steigerung der Medizinstudentenzahlen beitrug. Die damals schon von der Ärzteschaft vorhergesehene viel zu starke Steige- rung der Arztzahlen wurde mit dem Bemerken abgetan: „Solange in Deutschland noch ein Patient eine halbe Stunde auf einen Arzt wartet, gibt es zuwenig Ärzte.“

Dennoch gehört es weiterhin zu den wichtigsten Aufgaben der ärztli- chen Selbstverwaltung bei den poli- tisch Verantwortlichen, auf sachge- rechte Reformen im Gesundheits- wesen zu drängen. Sie werden nicht durch parteipolitisch motivierte Pi-

rouetten zu erreichen sein, sondern erfordern tatsächlich eine Kehrtwen- de in der Gesundheitspolitik. Ande- renfalls werden sowohl Patienten wie Ärzte von Politik und Krankenkassen entmündigt.

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Eine emotionsfreie Beurteilung erfordern auch Forschung und neue Entwicklungen in der Medizin, die weitere Fortschritte, aber auch viele neue bislang ungelöste ethische und rechtliche Probleme mit sich bringen.

Erinnert sei an die prädiktive geneti- sche Diagnostik oder die somatische Gentherapie. In den durch den Wis- senschaftlichen Beirat der Bundesärz- tekammer dafür erarbeiteten Richtli- nien wird betont, daß jede genetische Untersuchung freiwillig bleiben muß.

Anerkannt wird ausdrücklich das

„Recht auf Nichtwissen und die infor- mationelle Selbstbestimmung“ der Pa- tienten. Dies gilt aber auch für viele mit der Reproduktionsmedizin oder dem Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik zusammenhängen- de Fragen, wie zum Beispiel der Ge- fahr einer Menschenauswahl oder der mit einem Schwangerschaftsabbruch im fortgeschrittenen Stadium verbun- denen Probleme. Bei der traditionel- len mütterlich-medizinischen Indikati- on war die Tötung des Kindes nicht das Ziel,immer aber die unvermeidli- che Konsequenz. Bei der jetzt in die medizinische Indikation integrierten

„embryopathischen“ Indikation ist je- doch durchaus die Tötung des Kindes gemeint. Die in den vergangenen Jah- ren festzustellende Ausweitung der medizinischen Indikation im Abtrei- bungsrecht ist ein Paradebeispiel dafür, daß politische Formelkompro- misse oft mehr Schaden anrichten, als Politiker wahrhaben wollen.

Die Entwicklungen in der Mole- kularbiologie lassen erwarten, daß sich in wenigen Jahren das Verständnis über die Entstehung und Behandlung mancher Krankheiten grundlegend wandeln wird und damit auch eine ge- zieltere Prävention als heute ermög- licht wird. Weitere Forschung ist des- halb unverzichtbar. Dazu gehört auch unter strengen Kriterien die Forschung

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an Nicht-Einwilligungsfähigen, um de- ren Krankheiten wirksam behandeln oder verhindern zu können.

Bei der Forschung sind die be- währten „Grundsätze des Genfer Gelöbnisses des Weltärztebundes“

vom September 1948 ebenso zu be- achten wie die Deklaration von Hel- sinki zur biomedizinischen Forschung am Menschen. Diese sollte zwar neue- ren Entwicklungen angepaßt, jedoch nicht grundlegend verändert werden.

Zu begrüßen sind auch die Bestrebungen in der sogenannten

„Bioethikkonvention des Europara- tes“, Mindestnormen zu vereinbaren, die in den einzelnen Staaten nicht un- terschritten werden dürfen.

Oberstes Gebot muß die Erhal- tung und Wiederherstellung der Ge- sundheit und die Linderung von Lei- den bleiben. In Diagnostik und The- rapie ebenso wie in der Forschung bleibt der Arzt ethischen Grundsät- zen verpflichtet. Dieser Verpflichtung kann und darf der Arzt sich nicht da- durch entziehen, daß er sich hinter technischem Gerät verschanzt oder sich auf andere, auf Juristen oder Ge- setzgeber, beruft. Regelungen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung bewirken nicht, daß der Arzt aus der Pflicht zur Beurteilung des geregelten Tatbestandes nach ethischen Grund- sätzen entlassen ist.

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Die Politik ist mit vielen Regelun- gen überfordert; sie sollte sich statt dessen den nur von ihr zu regelnden Fragenkomplexen mit Festlegung ge- nügend flexibler Rahmenvorschriften zuwenden, sich dabei von Fachleuten sachkundig beraten lassen und sich nicht gegenüber Vorschlägen und For- derungen verschließen. Manche Politi- ker müssen auch erkennen, daß Ethik und Recht nicht nach tagespolitischer Opportunität zurechtgebogen oder dieser gar geopfert werden dürfen.

Der Gesetzgeber sollte deshalb nicht dort tätig werden, wo die Ärzte- schaft die ethischen Anforderungen an ärztliches Handeln im eigenen Na- men berufsrechtlich verbindlich fest- legen kann. Ethisches Verhalten läßt sich nicht durch gesetzliche Normen

festschreiben oder gar erzwingen. Die Ärzteschaft steht daher allen Versu- chen, die Voraussetzung für ärztliches Handeln zivilrechtlich oder gar straf- rechtlich „durchzunormieren“, ableh- nend gegenüber. Wenn dem Gesetz- geber tatsächlich an der Wahrung der Leistungsfähigkeit des Gesundheits- wesens gelegen ist, die ohne Engage- ment der Ärzteschaft nicht möglich ist, muß er sich allzu detaillierter Re- glementierungen und Strangulierun- gen der ärztlichen Selbstverwaltun- gen wie des einzelnen Arztes enthal- ten. Sie lähmen Eigeninitiative und Eigenverantwortung.

Die Ärzteschaft wird ihre auf- grund klarer Analysen und logischen Denkens entwickelten, an einer zu- gleich humanen wie effizienten Ver- sorgung der Patienten orientierten Reformvorstellungen im Vertrauen auf die eigene Leistung und im Inter- esse der Patienten mit Nachdruck ver- treten. Alle diejenigen, denen an der Würde des Menschen liegt, sind auf- gefordert, sich gemeinsam dafür ein- zusetzen, daß der Mensch nicht Ob- jekt einer Verwaltung wird und schutzlos wechselnden, fremden Herrschaftseinflüssen preisgegeben wird. Das erfordert die ärztliche Ethik

besonders im Wohlfahrts- oder Ver- sorgungsstaat, das ist die aus morali- scher Verpflichtung entstehende poli- tische Aufgabe des Arztes.

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Es gab und gibt viele Reformver- suche. Ich will sie nicht alle bewerten.

Über einen Grundsatz bestand unter allen politisch Beteiligten Konsens:

Wer das bestehende System ändern, ja – wie jetzt – ablösen will, ist vorab be- weispflichtig für die beabsichtigte Verbesserung. Den Ausführungen des Ersten Vorsitzenden der Kassenärzt- lichen Bundesvereinigung, des Kolle- gen Schorre, in der Vertreterver- sammlung am 31. Mai kann ich nur beipflichten. Schorre sagte: „Wir ver- schließen uns einem politischen Dia- log nicht, aber wir werden uns an Ali- bi-Veranstaltungen nicht mehr betei- ligen. Der gesetzgeberische Eigensinn mit den aufgezeigten Konsequenzen für die Versorgung und die Angriffe auf unsere Selbstverwaltung, die für unsere Tätigkeit motivierende Frei- beruflichkeit und auf unser ärztliches Selbstverständnis werden wir nicht to- lerieren. Wer die Macht hat, bestimmt nicht allein, was die Wahrheit ist.“

Dies ist aber die erste Reform, welche ohne Not und mit voller Ab- sicht ein Experiment mit fatalem Aus- gang einleitet. Man kann das ideologi- sche Arroganz nennen. Andere wür- den sagen: Fahrlässiger Umgang mit den Bürgern. Niemand unter den poli- tisch Verantwortlichen soll sagen, daß er nicht gewarnt worden sei, wenn wir in einigen Jahren den Niedergang un- seres Gesundheitswesens mit seinen freiheitlichen und humanen Struktu- ren feststellen werden. Noch ist es Zeit:

Stoppen Sie dieses Experiment! Neh- men Sie die Kritik auf. Realitätsimmu- nität ist bei Politikern eine Krankheit.

Sie befinden sich unter Ärzten und Ex- perten: Wir können Sie davon heilen, wenn Sie auf unseren Rat hören.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Dr. h. c.

Karsten Vilmar

Ehrenpräsident der Bundesärztekam- mer und des Deutschen Ärztetages Schubertstraße 58

28209 Bremen

Dialogfähigkeit

Das auf diesen Seiten dokumen- tierte Referat von Professor Vilmar folgt dem Manuskript. Vilmar hatte seine Rede bei der Eröffnung gekürzt.

Professor Vilmar amtierte zu der Zeit noch als Präsident des Deutschen Ärztetages. Bei den Neuwahlen, drei Tage später, kandidierte er nicht mehr.

Auf eine Passage, die im Manu- skript enthalten war, wird in dieser Dokumentation allerdings verzichtet, im Einvernehmen mit Vilmar. Dieser hatte ursprünglich vorgehabt, die Dia- logfähigkeit von Bundesgesundheits- ministerin Andrea Fischer in Frage zu stellen. Angesichts der von Frau Fi- scher bei der Eröffnung des Ärzteta- ges erneut bekräftigten Gesprächsbe- reitschaft verzichtete Vilmar auf diese Ausführungen. Wie sich im nachhin- ein herausstellte, war allerdings zu- mindest Fischers Hinweis auf eine Einladung an die KBV irreführend (dazu auch Seite eins in DÄ 23: „An- treten zum Dialog!“). NJ

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