Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 46|
16. November 2012 A 2271M
ittlerweile gibt es wohl kaum noch einen Pa- tienten, der in einer Arztpraxis nicht schon ein- mal mit einer Selbstzahlerleistung, einer sogenannten individuellen Gesundheitsleistung (IGeL), konfrontiert wurde. Von einem Einbruch in die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung wird in diesem Zusammen- hang oft gesprochen. „Die selbstverständliche Unmit- telbarkeit des Gebens“, so formulierte es der Freiburger Medizinethiker Prof. Dr. med. Giovanni Maio in einem Beitrag für das Deutsche Ärzteblatt (Heft 16/2012),„gerät zur Hilfe nach Berechnung, zur Hilfe nach Kal- kül“. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Öffentlichkeit nimmt zu; die niedergelassene Ärzte- schaft insgesamt sieht sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, den Patienten gegen Bezahlung auch Leis- tungen anzubieten, deren Nutzen nicht belegt oder bei denen gar davon auszugehen ist, dass sie mehr schaden als nutzen.
Der langjährige Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, hat immer wieder eindringlich vor den Gefahren der IGeL-Leis- tungen gewarnt. „Ärzte sind keine Kaufleute, und sie verkaufen keine Ware“, war sein Mantra, wofür er nicht selten auch Kritik aus der Ärzteschaft einstecken muss- te. Auch BÄK und Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) haben erkannt, wie wichtig es ist, gegen einen Wildwuchs bei IGeL einzuschreiten, um einem drohen- den Vertrauensverlust entgegenzuwirken. Der von ih- nen Anfang November in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin vorge- legte Ratgeber „Selbst zahlen?“ zu individuellen Ge- sundheitsleistungen (www.igel-check.de) soll unter an- derem dafür sorgen, „dass Ärztinnen und Ärzte verant- wortungsbewusst mit diesen Selbstzahlerleistungen umgehen“, erläutert BÄK-Präsident Prof. Dr. med.
Frank Ulrich Montgomery.
Der Ratgeber richtet sich mit jeweils einer Checklis- te und dazu gehörenden Erläuterungen an Ärzte und Patienten. Er ist präzise gehalten und durchaus dazu ge- eignet, den Umgang mit Selbstzahlerleistungen in die
richtige Bahn zu lenken. So wird der ärztliche Leser dazu angehalten, sich über die Evidenz einer vorge- schlagenen Maßnahme zu informieren. „Gibt es Belege aus verlässlichen Studien, dass die IGeL zu einer Ver- besserung der gesundheitlichen Situation oder der Be- findlichkeit führen?“ Bei ernsthafter Berücksichtigung dieser Frage wäre einer Vielzahl von IGeL-Angeboten bereits die Grundlage entzogen. Auch werden die Ärzte aufgefordert, zur Information und Aufklärung der Patienten nur qualitätsgeprüftes Informationsmaterial unabhängiger Anbieter einzusetzen.
Daran hapert es derzeit noch, ergab eine vom Bun- desministerium für Verbraucherschutz in Auftrag gege- bene Untersuchung. Die bei Stichproben in Arztpraxen eingesammelten Broschüren boten demnach keine verlässlichen Informationen. Lob gab es in der Studie dagegen für den IGeL-Ratgeber von BÄK und KBV, insbesondere aber auch für die vom Medizinischen Dienst des GKV-Spitzenverbands bereitgestellten Internet seiten , auf denen einzelne Selbstzahlerangebote einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Hier sollte es der Ehrgeiz der ärztlichen Spitzenverbände sein, selbst ein entsprechendes Bewertungsverfahren auf die Beine zu stellen, um so die Deutungshoheit bei diesem originär ärztlichen Thema zurückzugewinnen.
INDIVIDUELLE GESUNDHEITSLEISTUNGEN
Deutungshoheit zurückgewinnen
Thomas Gerst
Thomas Gerst Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik