A 2490 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 50|
17. Dezember 2010KOMMENTAR
Harald Kamps, Facharzt für Allgemeinmedizin, Berlin
D
er Schlüterhof im Historischen Museum in Berlin ist im Herbst 2010 festlich geschmückt. Wissenschaft- ler aus aller Welt feiern den World Health Summit. Es wird auch ein Preis verlie- hen: der Pfizer Award für Innovation in der biomedizinischen Forschung. Titel der diesjährigen Ausschreibung war:„Neue Anwendungen der personalisier- ten Medizin bei chronischen Erkrankun- gen.“ Ich frage mich einen Augenblick, wie viele Hausärzte oder Psychiater sich um den Preis beworben haben. Verlie-
hen wird er an Dr. Manuel Esteller aus Barcelona für „seine Forschung im Be- reich der Epigenetik bei Krebserkrankun- gen und der personalisierten Therapie“.
Ich verstehe die Bedeutung seiner Arbeit – Patienten mit Krebserkrankun- gen werden jetzt nicht mehr alle über einen Kamm geschoren, sondern die Behandlung wird nach der Analyse der individuellen Genomaktivität angepasst.
Manche müssen eine aggressivere Behandlung ertragen, vielen wird dies erspart bei gleichem Nutzen – ein wirk- licher Fortschritt, aber ist dies bereits personalisierte Medizin?
„Die Sprache verkleidet den Gedan- ken“, hat uns Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus zugeru- fen und vor der Annahme gewarnt, von der „äußeren Form des Kleides“ gleich auf die „Form des Körpers“ schließen zu können. Vielleicht lohnt es sich, den Begriff der „personalisierten Medizin“
sprachkritisch zu hinterfragen?
Auch die TAILORx-Studie besetzt diesen Begriff: „Testing Personalized Treatment for Breast Cancer“ – so wird das Forschungsprojekt beschrieben.
Genauer hingesehen bedeutet die Ab- kürzung aber: „Trial Assigning Indivi- duaLized Options for Treatment (Rx)“.
Der Titel verweist auf die Metapher des
„maßgeschneiderten Kleides“, ist dann aber bescheidener: Es geht um das In- dividuelle, nicht um das Persönliche.
Wie wichtig ist denn der Unter- schied? Die norwegische Moralphiloso- phin Nina Karin Monsen hat diesem Unterschied ein ganzes Buch gewidmet („Der liebende Mensch“) und sich da- mit als Philosophin des „Personalis- mus“ vorgestellt. Der Kern dieser Denkrichtung ist, dass die Person sich frei und verantwortlich entscheiden kann. Personen leben ihr Leben im
Dialog mit anderen Menschen. Monsen unterscheidet Massenmenschen, Indi- viduen und Personen. Personen haben eigene moralische Vorstellungen und Wünsche. Personen schreiben ihre eigene Lebensgeschichte. Personen treffen persönliche Entscheidungen, manchmal unverständliche, manchmal im Widerstand zur herrschenden Mei- nung. Der Person geht es um Werte, die ein sinnvolles Dasein begründen können. Dem Individuum fehlt diese ethische Dimension, der Massen- mensch verlässt sich auf die Entschei- dungen der Mehrheit.
Die Komplexität des persönlichen Le- bens lässt sich mit den Methoden der biomedizinischen Forschung und der Epigenetik nicht erforschen, aber zu ei- ner individualisierten Medizin tragen sie schon bei. Tausende von Frauen warten auf die Ergebnisse der TAILORx-Studie, die sie und ihre Ärzte hinter die geneti- schen Kulissen des Brustkrebs blicken lassen und vielen eine unnötige Chemo- therapie ersparen werden. Eine perso- nalisierte Medizin würde versuchen, Hil- festellung zu geben bei ganz anderen Fragen: Was bedeutet diese Erkrankung für mein Leben, das meiner Kinder, für meine Ehe? Wie kann ich trotz Diagnose ein gesundes Leben führen?
Viele Menschen vermissen in un- serem Gesundheitswesen eine perso- nalisierte Medizin. Sie wünschen eine Medizin, die Menschen nicht nur nach Diagnosen sortiert. Diagnosen sind medizinische Begriffe, die Eigenschaf- ten von Individuen beschreiben. Sie helfen einer Medizin, die zu Diagno- sen passende Therapien bereithält.
Diagnosen sind da nicht hilfreich, wo sie die persönlichen Eigenschaften eines Menschen verstecken und un- sichtbar machen für den Blick und
das Ohr des Arztes. Burn-out-Syn- drom oder Fibromyalgie sind solche Diagnosen, die eine diagnostische Ge- nauigkeit vortäuschen, aber die per- sönliche Lebensgeschichte des lei- denden Menschen verbergen. Die Hausärztin und der Hausarzt sind Ex- perten für eine personalisierte Medi- zin. Hausarztmedizin ist in erster Linie personenorientierte Medizin – als aka- demische Disziplin führt sie aber ein Schattendasein. Für sie gibt es keine hochdotierten Preise. Während die in- dividualisierte Medizin ihren Blick in die molekularen und genetischen Strukturen des einzelnen Menschen richtet, hört die personalisierte Allge- meinmedizin auf die Sprache des Pa- tienten, interessiert sich für die per- sönlichen Gründe ihrer Patienten, so oder so zu entscheiden, ist neugierig auf das persönliche Netzwerk des Pa- tienten. Personalisierte medizinische Forschung braucht akademische Hil- festellung von Literaturwissenschaft- lern, Sprachforschern, Theologen und Philosophen. „Sprache verkleidet den Gedanken.“ Individualisierte Medizin und personalisierte Medizin sind un- terschiedliche Kleider.
E-Mail: info@praxis-kamps.de
MASSGESCHNEIDERTE MEDIZIN