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Die zystische Pankreasfibrose oder Mucoviscidosis wurde erstmals 1936 von Fanconi und Uehlinger als besondere Krankheit erkannt. Sie ist der

Im Dokument MONAT VON (Seite 157-161)

häufigste menschliche Letalfaktor, den wir heute kennen, das heißt die häufigste Erbkrankheit mit tödlichem Ausgang vor Erreichung des Er-wachsenenalters. Sie manifestiert sich schon im frühen Kindesalter als chronische Darm- und Bronchialerkrankung und führt mit wenigen Aus-nahmen im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte zum Tode infolge von Lun-gen- und Herzkomplikationen. Der ursächliche Molekulardefekt wurde trotz intensivster Forschung noch nicht gefunden.

Ungefähr jedes tausendste Neugeborene leidet an einer

Pankreas-fibrose. Jährlich werden in der Schweiz gegen hundert Kinder mit dieser

Krankheit geboren, und jährlich stirbt eine fast gleich hohe Zahl von

älteren Kindern daran. Beide Eltern sind jeweilen gesunde überträger,

sogenannte Heterozygote, das heißt, sie tragen das Pankreasfibrose-Gen

in einfacher Dosis ohne manifeste Krankheitserscheinung. Die Patienten

selbst sind sogenannte Homozygote, das heißt, sie haben das

Pankreas-fibrose-Gen von beiden Eltern empfangen und tragen es in doppelter

Dosis. Das ist die klassische Situation des rezessiven Erbganges, wie

er bei zahlreichen Erbkrankheiten, unter anderem auch bei der

Fruktose-intoleranz, vorliegt. Sind beide Ehepartner Heterozygote, so trifft die

Krankheit durchschnittlich jedes vierte Kind. Ist dagegen nur der eine

Ehepartner Heterozygot und der andere frei von dem betreffenden

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Krankheits-Gen, so weist keines der Kinder die Krankheit auf. Das Ri-siko einer ehelichen Verbindung von Heterozygoten ist allerdings recht groß, weil unter den nahen Verwandten eines Patienten jedes zweite bis vierte und in der Gesamtbevölkerung ungefähr jedes sechzehnte Indivi-duum heterozygoter Träger des Pankreasfibrose-Gens ist, ohne es zu wissen. Bei der selteneren Fruktoseintoleranz ist das Risiko sehr viel kleiner.

Solche Überlegungen lassen vermuten, daß die meisten von uns, ohne es zu wissen, heterozygote Träger mehrerer Gene von rezessiven Erbkrankheiten sind. Außerdem erklären sie die alte Erfahrung, daß bei Verwandtenehen das Risiko erbkranker Kinder besonders groß ist.

Der Wunsch liegt nahe, Mittel und Wege zu finden, defekte Gene bei den Gesunden aufzuspüren, damit dann vor ehelichen Verbindungen zwischen heterozygoten Trägern des gleichen Gen-Defekts gewarnt werden kann.

Wenn man Heiraten zwischen Trägern des Pankreasfibrose-Gens ver-hindern könnte, würde die Krankheit nicht mehr auftreten, und un-endlich viel Unglück und Leid wäre vermieden. Leider ist die sichere Erkennung des Pankreasfibrose-Gens bei Heterozygoten trotz anfängli-chen Hoffnungen methodisch noch nicht möglich. Es ist aber eines der Hauptziele der heutigen medizinischen Forschung, biochemische Prüf-methoden für die sichere Erfassung heterozygoter Träger defekter Gene zu entwickeln; und tatsächlich ist dieses Ziel für gewisse Erbkrank-heiten auch schon erreicht worden. In der Zukunft sollte es möglich sein, die genetische Eheberatung in ausgedehntem Maß auf solchen Unter-suchungen aufzubauen und damit eine wirkungsvolle eugenische Prophy-laxe durchzuführen.

Eine weitere Frage, die durch die Pankreasfibrose aufgeworfen wird, ist die, warum ein Erbleiden, dessen Opfer das defekte Gen nicht weiter-vererben, weil sie vorzeitig sterben, so häufig bleiben kann (man spricht von balanciertem Polymorphismus) und nicht schon lange verschwunden ist. Offenbar wird der durch den frühen Tod der Patienten bedingte Gen-Verlust in der Population irgendwie wettgemacht, sei es durch Neu-mutationen, das heißt durch wiederholte Neuentstehung des gleichen Gen-Defektes, sei es durch eine überdurchschnittliche Kinderzahl der Heterozygoten. Die erste Alternative setzt eine höhere Mutationsrate voraus, als nach allgemeiner Erfahrung angenommen werden kann, und dürfte deshalb wegfallen. Die zweite Alternative setzt eine biologische Überlegenheit der Heterozygoten voraus, wie man sie vor allem beim Sichelzell-Gen kennt. Die schon erwähnte Sichelzellanämie ist bei Negern eine sehr häufige und ebenso tödlich verlaufende Erbkrankheit wie die

Pankreasfibrose bei uns. Interessanterweise zeigen die Heterozygoten eine auffallende Malariaresistenz und können sich deshalb in ihrer natür-lichen Umgebung besser fortpflanzen als Individuen ohne diesen Gen-Defekt. Es ist zu vermuten, daß die heterozygoten Träger des Pankreas-fibrose-Gens einen ähnlichen spezifischen biologischen Vorteil besitzen oder unter den Lebensbedingungen früherer Zeiten besessen haben, weil sonst die Häufigkeit der Pankreasfibrose nicht erklärbar wäre. Die Natur dieses Vorteils ist vorläufig nicht bekannt. Denkbar wäre eine besondere Resistenz gegen Seuchen wie Pest und Pocken.

Angeborene Chromosomenstörungen

Unser drittes Beispiel betrifft die angeborenen Chromosomenstörungen.

Individuen mit solchen Störungen haben in ihren Zellkernen nicht die normalen 23 Chromosomenpaare, sondern ein oder mehrere Chromoso-men oder ChromosoChromoso-menbruchstücke zuviel oder zuwenig. Das dabei um Hunderte oder Tausende von Genen gestörte Gen-Gleichgewicht manifestiert sich als multiple Mißbildung, als Fehlentwicklung der Ge-schlechtsdrüsen oder als Schwachsinn.

Die angeborenen Chromosomenstörtalgen sind in der Regel nicht vererbt und kommen deshalb im Gegensatz zu den hereditären Gen-Defekten unter Geschwistern meistens nur einmal vor. Da ihre Träger häufig nicht fortpflanzungsfähig sind oder frühzeitig sterben, werden sie meistens auch nicht weitervererbt. Sie entstehen in der Regel aus einer fehlerhaften Chromosomenverteilung bei der Bildung der Samen-und Eizellen in den Geschlechtsdrüsen, wobei höheres Alter neben an-dern, noch unbekannten Faktoren eine begünstigende Rolle spielt. Ge-langen solche Zellen zur Befruchtung, so wird das daraus entstehende Individuum in allen seinen Zellen einen abnormen Chromosomenbestand aufweisen.

Die entsprechenden Krankheitsbilder sind zum Teil schon recht lange bekannt. Ihre Ursache, der abnorme Chromosomenbestand, wurde dagegen erst im Laufe der letzten vier Jahre entdeckt, nachdem Metho-den entwickelt worMetho-den waren, welche Zahl, Größe und Form der mensch-lichen Chromosomen im Mikroskop erkennen lassen. Ungefähr jedes 170. Neugeborene hat eine grobe, relativ leicht nachweisbare, Chromo-somenstörung. Am bekanntesten ist der Mongolismus, eine besondere Form des Schwachsinns, die ungefähr jedes 500. Neugeborene trifft und der eine Trisomie 21, das heißt ein dreifaches statt nur ein zweifaches Vorkommen des Chromosoms Nr. 21, zugrunde liegt. Noch häufiger ist das Klinefelter-Syndrom, eine besondere Form der Hodenfehlentwick- 159

lung, bei der statt der zwei Geschlechtschromosomen X und Y drei Ge-schlechtschromosomen, nämlich zwei X und ein Y, zu finden sind. Zu den selteneren Chromosomenanomalien gehören das Turner-Syndrom, eine durch Kleinwuchs und Fehlentwicklung der Eierstöcke charakte-risierte Monosomie der Geschlechtschromosomen, sowie die durch mul-tiple Mißbildungen auffallenden Trisomien 13 und 18.

Da die Chromosomenstörungen bei gewissen Laboratoriumstieren intensiv erforscht worden sind, lange bevor die menschlichen Chromo-somen untersucht werden konnten, hat sich das heutige Wissen über die angeborenen menschlichen Chromosomenstörungen in Zusammen-arbeit von Biologen mit Chromosomenerfahrungen und Medizinern ent-wickelt.

Zu den aktuellen Problemen der Chromosomenforschung beim Men-schen gehören folgende Fragen: Welches sind die Ursachen der häufigen Verteilungsstörungen der Chromosomen bei der Bildung der Samen- und Eizellen? Warum sehen wir Störungen des X-Chromosoms und des Chro-mosoms Nr. 21 häufig, andere Chromosomenstörungen nur selten und noch andere überhaupt nie? Eine neue Arbeitsrichtung versucht, aus den körperlichen Merkmalen bei verschiedenen Chromosomenstörungen herauszufinden, in welchem Chromosom und in welcher Gen-Nachbar-schaft die einzelnen Gene lokalisiert sind. Tatsächlich gibt es bereits Hinweise darauf, daß beim Mongolismus ein bestimmtes Enzym, näm-lich die alkalische Leukozyten-Phosphatase vermehrt ist, daß also dieses Phosphatase-Gen vermutlich im Chromosom Nr. 21 lokalisiert ist. Eine weitere Neuigkeit ist die Tatsache, daß eineiige Zwillinge entgegen der populären Annahme verschieden sein können, wenn anläßlich ihrer Ent-stehung aus einer befruchteten Eizelle eine fehlerhafte Chromosomen-verteilung unterläuft. Ja es ist sogar möglich, daß der eine eineiige Zwilling normal männlich ist und der andere weiblich, allerdings mit nur einem X-Chromosom, ist.

Teamarbeit

Wie die Beispiele der Fruktoseintoleranz, der Pankreasfibrose und der Chromosomenstörungen zeigen, ist die Erforschung der Geburtsgebre-chen und zahlreicher anderer Leiden nur noch möglich in enger Zusam-menarbeit zwischen Kliniker und Grundlagenforscher. Am Anfang steht das Aufmerken des Klinikers, das Erkennen des Besonderen, das vorher auch schon gesehen, aber noch nie als bemerkens- oder erforschenswert aufgefaßt worden ist. Dieses Erfassen des Besonderen und des Neuen ist die wichtigste und schönste Aufgabe des forschenden Arztes, eine

Aufgabe, die ihm kein Theoretiker abnehmen kann und die er nur

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