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Geburtsgebrechen, Vererbung und Molekularmedizin

Im Dokument MONAT VON (Seite 112-118)

Anläßlich der letztjährigen Tagung der Ärzte der IV-Kommissionen der ganzen Schweiz (ZAK 1963, S. 297) hielt Prof. Dr. med. Andrea Prader aus Zürich ein Referat über Geburtsgebrechen, Vererbung und Mole-kularmedizin. Der Referent entwickelte im wesentlichen die gleichen Ge-danken, die er kurz vorher seiner Antrittsvorlesung an der Univer-sität Zürich zugrunde gelegt hatte. Da die Geburtsgebrechen in der IV eine bedeutende Rolle spielen, bringt die ZAK mit der freundlichen Ein-willigung von Prof. Prader einen Abdruck der in der «Neuen Zürcher Zeitung» veröffentlichten Antrittsvorlesung.

Einer der größten Fortschritte der Biologie unserer Zeit ist die Auf-klärung der biochemischen Grundlagen der Vererbung. Für diese bahn-brechende Leistung wurden Crick, Wilkins und Watson im Jahre 1962 mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet. Wieder hat sich hier bestätigt, daß alle Lebenserscheinungen auf biochemische Vor-gänge zurückzuführen sind. Obwohl die heutige Humangenetik, das heißt die menschliche Vererbungslehre, sich noch vorwiegend mit der Analyse von Stammbäumen und statistischen Untersuchungen über das Zahlen-verhältnis von Gesunden und Kranken befaßt, besteht kein Zweifel, daß auch sie sich immer mehr biochemisch-genetischen Problemen zuwendet.

«Es ist unvermeidlich», sagt Penrose, einer der führenden angelsächsi-schen Humangenetiker, «daß in naher Zukunft — ja in sehr naher Zu-kunft — die Humangenetik sich mehr und mehr auf Probleme der Bio-chemie reduzieren wird.» Die Formulierung eines bekannten jüngeren Humangenetikers (Clarke) lautet noch knapper: «Genetik ist Bioche-mie.»

Molekularbiologie

Die in den Chromosomen linear angeordneten, unsichtbar kleinen Erb-einheiten oder Gene enthalten, wie Semenza vor kurzem an dieser Stelle in seiner Antrittsvorlesung ausgeführt hat, die eigentliche Erbsubstanz, die Desoxyribonukleinsäure (der Einfachheit halber meist nur DNS ge-nannt). Dank der Fähigkeit des DNS-Moleküls, sich zu teilen und wieder zu verdoppeln, geht DNS bei jeder Zellteilung in gleichbleibender Menge auf die beiden regulären Tochterzellen und in halber Dosis auf die Ei-

und Samenzellen über. Bei der Vereinigung einer Samenzelle mit einer Eizelle ergibt sich somit wieder die normale DNS-Menge. DNS wird so von Zelle zu Zelle, von Individuum zu Individuum in konstanter Dosis weitergegeben als die potentiell unsterbliche chemische Erbsubstanz.

Die Reihenfolge der zu Hunderten im DNS-Molekül nebeneinander auf-gereihten vier verschiedenen Pyridin- und Purin-Basen ist für jedes Gen verschieden und stellt den Schlüssel oder den Code für den Aufbau der Gen-spezifischen Eiweißmoleküle in jeder Zelle dar. Je eine Dreier-gruppe dieser Basen, ein sogenanntes Triplett, bestimmt die Wahl einer Aminosäure, und die Reihenfolge der Tripletts im DNS-Molekül legt ihrerseits die Reihenfolge der Aminosäuren im Aufbau der Polypeptid-ketten der Eiweißmoleküle fest. Mit andern Worten, jedes Gen deter-miniert eine spezifische Polypeptidkette. Das Schlagwort lautet: ein Gen eine Polypeptidkette.

Beim Menschen enthält jeder Zellkern 23 Chromosomenpaare, die Tausende von Genen enthalten, welche ihrerseits Aufbau und Funktion aller Eiweißmoleküle kontrollieren. Zu diesen Eiweißmolekülen gehören unter anderem die zahlreichen Plasmaeiweiße, die für die Infektions-abwehr wichtigen Antikörper, der rote Blutfarbstoff Hämaglobin, ge-wisse Hormone und vor allem die unübersehbare Fülle von spezifischen Enzymen, welche für die katalytische Steuerung aller Stoffwechsel-reaktionen notwendig sind. Die genaue Struktur dieser Eiweißmoleküle ist allerdings erst in wenigen Fällen, wie zum Beispiel beim Hämoglobin und beim Insulin, bekannt.

Die Aufklärung der Struktur der Erbsubstanz und der Struktur der biologisch wichtigen Eiweißmoleküle stellt eine überragende Leistung von Biochemikern, Biophysikern und Genetikern dar. Sie eröffnet die Aussicht auf gezielte Eingriffe in die biochemischen Grundlagen des Lebens und kann als Beginn einer neuen Epoche der Biologie, der Epoche der Molekularbiologie angesehen werden. Wir stehen am Anfang einer unerhörten Ausweitung unserer biologischen Kenntnisse — vergleichbar mit der gewaltigen Entwicklung der Atomwissenschaften in den weni-gen Jahrzehnten seit der Aufstellung der Quantentheorie. Ohne Zweifel wird sich die Medizin in den nächsten Jahrzehnten unter dem Einfluß der sich überstürzenden Fortschritte der Molekularbiologie tiefgreifend ändern.

Erbkrankheit en und Molekularkrankheiten

Fast jedes körperliche Merkmal, fast jeder Stoffwechselvorgang, alles was wir Konstitution nennen, ist Gen-bedingt. Mit andern Worten: die 113

meisten körperlichen Merkmale und Vorgänge lassen sich auf die Wir-kung spezifischer Eiweißmoleküle und diese wiederum auf die WirWir-kung bestimmter Gene zurückführen, wobei allerdings beim Menschen diese Zusammenhänge vorläufig erst in einzelnen Beispielen klar überblickt werden können. Unserer körperlich-geistigen Individualität liegt eine biochemische Individualität, das heißt eine individuelle Kombination verschiedener Eiweißmoleküle, und dieser letztlich eine genetische In-dividualität, das heißt eine individuelle Kombination verschiedener Gene oder DNS-Moleküle, zugrunde.

Die genetische Variabilität des Menschen ist unendlich groß und um-faßt nicht nur die gesunden, sondern auch die krankhaften Anlagen.

Die Zahl der bisher bekannten Erbkrankheiten ist groß, steigt dauernd an und ist theoretisch fast unbegrenzt. Allein am X-Chromoson kennt man heute schon über 50 Gen-Defekte. Neben den eigentlichen Erb-krankheiten, deren Ursache in einem Zusammenspiel von genetischer Bereitschaft und Umwelteinwirkung zu suchen ist. Sogar bei Infektions-krankheiten und Unfällen spielt die Konstitution, das heißt die erb-bedingte Bereitschaft, erberb-bedingte Resistenz und erberb-bedingte Heilungs-tendenz eine Rolle. Gesundheit und Krankheit sind in allen ihren Aspek-ten sowohl von den Genen wie auch von der Umwelt geprägt.

Erbkrankheiten, die sicher oder mit Wahrscheinlichkeit auf ein feh-lerhaftes Eiweißmolekül, zum Beispiel auf ein fehfeh-lerhaftes Hämoglobin oder auf ein fehlerhaftes Enzym, zurückgeführt werden können, nennen wir Molekularkrankheiten. Die genialen Pioniere der Molekularmedizin sind Garrod und Pauling. Garrod nannte schon 1902 seine Untersuchun-gen über die seltene Stoffwechselstörung der Alkaptonurie «a study in chemical individuality». Wenige Jahre später faßte er eine Gruppe ver-erbter Stoffwechselstörungen unter der berühmt gewordenen Bezeich-nung «inborn errors of metabolism» zusammen und postulierte als Ur-sache dieser Krankheiten Defekte auf einzelnen Stoffwechselstufen. 1949 zeigte Pauling, daß ein fehlerhaftes Hämoglobinmolekül die Ursache der Sichelzellanämie, einer häufigen Blutkrankheit bei Negern, ist, und sprach dabei zum erstenmal von einer Molekularkrankheit. Heute ken-nen wir Dutzende von Molekularkrankheiten, und jährlich werden neue bekannt. Zweifellos sind aber alle Erbkrankheiten Molekularkrankhei-ten, auch wenn wir bei den meisten den ursächlichen Molekulardefekt noch nicht kennen.

Es ist lehrreich und in die Zukunft weisend, wenn man sich kurz die verschiedenen Stufen unseres Wissens über eine Erbkrankheit vor Augen hält. Auf einer ersten Stufe wird das Leiden in seiner klinischen

Symptomatologie und vielleicht auch in seinem pathologisch-anatomi-schen Substrat rein empirisch und deskriptiv als besondere Krankheits-einheit erfaßt. Auf einer zweiten Stufe wird aus Geschwistererkrankun-gen und StammbaumuntersuchunGeschwistererkrankun-gen die Tatsache und die Art der Ver-erbung erkannt. Auf einer dritten Stufe gelingt es, die gestörten Funk-tionen und Stoffwechselvorgänge genauer zu analysieren und daraus die Entstehung der einzelnen Symptome zu begreifen. Auf einer vierten Stufe steht die Lokalisierung des primären Stoffwechseldefektes, auf einer weiteren die Analyse des fehlerhaften Moleküls und auf einer letzten, heute noch nicht erreichbaren Stufe die Aufklärung der fehler-haften Basensequenz im verantwortlichen DNS-Molekül.

Diagnose, Behandlung und Prophylaxe hängen davon ab, auf welcher dieser Erkenntnisstufen unser Wissen steht. Die deskriptive Erfassung und Abgrenzung einer Krankheit ist die entscheidende Voraussetzung für die ärztliche Diagnose und damit auch für die Behandlung. Die Kenntnis des Erbganges ist notwendig für die genetische Beratung und für die eugenische Prophylaxe. Das Verständnis der ursächlichen Stoff-wechselstörung ist die Grundlage für eine rationale, wirksame Behand-lung, obwohl auch ohne diese Kenntnis oft eine Behandlung und Linde-rung der einzelnen Symptome möglich ist. Die AufkläLinde-rung des DNS-Defektes endlich wird erlauben, die uns jetzt noch phantastisch anmu-tende, gezielte Korrektur der Erbsubstanz ins Auge zu fassen.

Große Gebiete der heutigen Medizin sind noch nicht über die erste Stufe, das heißt, noch nicht über die hippokratische deskriptive Krank-heitskenntnis, hinausgelangt. Hieher gehören auch zahlreiche Erbkrank-heiten, und unter diesen vor allem die vererbten Mißbildungen. Ein mo-derner angelsächsischer Kliniker hat kürzlich diese erste Erkenntnis-stufe mit Humor charakterisiert als «the ability to recognize an elephant through having seen one before». Der leichte Spott im Ton ist nicht zu überhören. Er richtet sich gegen die vermeintlich zu anspruchslose und unwissenschaftliche Erkenntnismethode des Klinikers und kennzeichnet die Haltung mancher nur wissenschaftlich orientierter Mediziner, die sich nicht für die Erfassung des Krankheitsbildes, sondern nur für des-sen chemische Hintergründe interessieren. Selbstverständlich braucht die medizinische Forsehung reine Wissenschafter, reine Laborspezialisten und Grundlagenforscher, die nicht gleichzeitig gute Ärzte sein können.

Es wird aber immer die erste und wichtigste Aufgabe des um das Wohl seiner Kranken bekümmerten Arztes bleiben, den Angaben des Patienten einfühlend nachzugehen, ihn kunstgerecht zu untersuchen, aus Wissen und Erfahrung schöpfend die Krankheit zu erkennen und den gesamten 115

körperlich-seelischen Zustand richtig zu beurteilen. Der Arzt vermag nicht nur den Elefanten von der Maus zu unterscheiden, sondern auch verschiedene Elefantenarten auseinanderzuhalten. Er wird die Behand-lung nach wissenschaftlichen Einsichten leiten, aber auch dort möglichst zweckmäßig handeln, wo die Lage unklar ist. Es wäre schlimm, wenn diese rein klinische Seite der ärztlichen Ausbildung zugunsten einer Überbetonung des biochemisch-genetisch gerichteten biologischen Den-kens vernachlässigt würde. Und doch muß jeder Arzt biologisch denken können, um die wichtigsten Probleme der heutigen medizinischen For-schung zu verstehen. Nur so wird es ihm möglich sein, seinen Wissens-durst zu befriedigen, der immer rascheren Entwicklung der Medizin zu folgen und seinen Patienten direkt oder indirekt das heutige medizinische Wissen voll zugute kommen zu lassen.

Wandel der Kinderheilkunde

Für die Kinderheilkunde sind biochemisch-genetische Überlegungen be-sonders naheliegend und aktuell. Der Kinderarzt hat mehr als die mei-sten andern Ärzte mit schwerwiegenden Folgen von Gen- und Chromo-somenstörungen zu tun. Er wird häufiger als andere Ärzte von tief beunruhigten Eltern eines mißgebildeten oder kranken Kindes um ge-netischen Rat gefragt. Immer wieder muß er ahnungslose gesunde Eltern darüber orientierern, daß ihr Kind an einer Erbkrankheit leidet und daß weitere Kinder ebenfalls gefährdet sind.

Bis vor etwa zwanzig Jahren hat sich die Kinderheilkunde vorwiegend mit Ernährungsstörungen und Infektionskrankheiten befaßt. In den Ent-wicklungsländern spielen Unter- und Fehlernährung, Infektionen und parasitäre Erkrankungen auch heute noch eine gewaltige Rolle. In den modernen Ländern hat sich dagegen die Kinderheilkunde gewandelt und ausgeweitet wie kaum ein anderes klinisches Fachgebiet. Ernährungs-störungen und Infektionen sind zwar nicht verschwunden, sind aber zah-lenmäßig stark zurückgegangen und lassen sich meistens wirksam be-handeln oder verlaufen leicht. Ihre Darstellung beansprucht nicht mehr den größten Teil eines pädiatrischen Lehrbuches, sondern ist auf wenige Kapitel zusammengeschrumpft. Bezeichnend ist die Tatsache, daß wir im Kinderspital Zürich noch vor fünfzehn Jahren eine immer gefüllte große Scharlachabteilung führten und heute froh sein müssen, wenn wir den Studenten gelegentlich noch einen Patienten mit Scharlach zeigen können. Am besten ermißt man die gewaltigen Fortschritte und die vollständig veränderte Lage am Rückgang der Säuglingssterblichkeit, das heißt der Zahl der Todesfälle auf 1000 Kinder unter einem Jahr.

Sie betrug von fünfzig Jahren noch 100, vor dreißig Jahren noch 50 und steht heute bei 21.

Die Probleme, die uns heute beschäftigen, sind einerseits das weite Gebiet der inneren Medizin mit Ausnahme der altersbedingten Leiden und anderseits das vielfältige Gebiet der Geburtsgebrechen. Zu den Ge-burtsgebrechen zählen wir unter anderen alle Mißbildungen, Unreife und Untergewicht bei der Geburt, Rhesus- und andere Blutgruppen-störungen, zahlreiche Schwachsinnsformen, die zerebralen Lähmungen, zahlreiche Krampfleiden sowie die Störungen des Stoffwechsels und der endokrinen Drüsen. Die Ursachen dieser Geburtsgebrechen sind heredi-täre Gen-Defekte, Chromosomenstörungen, Krankheiten des Embryos oder des Fötus und Schädigungen durch den Geburtsvorgang.

Mehr als ein Drittel der 4500 Patienten, die jährlich im Kinderspital Zürich aufgenommen werden, leiden an einem solchen Geburtsgebrechen.

Diese Zahl ist eindrücklich, aber nicht erstaunlich, wenn wir uns ver-gegenwärtigen, daß etwa zwei Prozent aller Neugeborenen eine leicht feststellbare Mißbildung aufweisen und vermutlich ebensoviele an einer versteckten Mißbildung oder einer Stoffwechselstörung leiden und daß Schwachsinn und Krampfleiden zu den häufigsten Störungen gehören, die wir sehen. Die heutige Säuglingssterblichkeit von 21 Promille ist nicht mehr die Folge von Ernährungsstörungen und Infektionen, son-dern fast ausschließlich die Folge von schweren Geburtsgebrechen. Die meisten Kinder mit Geburtsgebrechen wurden früher nie hospitalisiert und oft überhaupt keinem Arzt gezeigt. Man verstand ihre Leiden nicht, konnte ohnehin nichts für sie tun, und überdies fielen manche früh einer Infektion zum Opfer. Die Möglichkeit, Mißbildungen operativ zu kor-rigieren, Folgen der Rhesus- und anderer Blutgruppenstörungen durch Austauschtransfusionen zu verhindern, manche Geburtsgebrechen mit Medikamenten oder Hormonen erfolgreich zu behandeln, die zerebralen Lähmungen mit einer Übungsbehandlung entscheidend zu bessern und nicht zuletzt die großartigen materiellen Leistungen der Eidgenössischen Invalidenversicherung, die seit 1960 die Kosten für alle Geburtsgebrechen übernimmt, führen heute die mit Geburtsschäden behafteten Kinder zum Arzt und oft zur gründlichen Durchuntersuchung ins Spital.

(Fortsetzung folgt)

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