Die drei gegenständlichen Länder Algerien, Tunesien und Marokko weisen hinsichtlich ihrer institutionellen und demokratischen Entwicklung seit Erlangung der Unabhängigkeit bemer-kenswerte Ähnlichkeiten auf. In jedem der drei Länder kam es gegen Ende der 1980er Jahre zu einschneidenden verfassungsrechtlichen Neuerungen. Dabei weisen Motive und Instru-mente der Reformen im Hinblick auf Algerien und Tunesien eine größere Parallelität auf. Dies zeigt sich an den verschiedenen Stadien, die die staatlichen Institutionen der drei Länder durchliefen.
So war Algerien ab 1963 als Einparteienstaat eingerichtet, selbiges galt faktisch ab 1963 auch für Tunesien. Marokko hingegen war seit der Verfassung 1962 in formeller Hinsicht als Mehrparteienstaat konzipiert. Die Reformen innerhalb des autoritären Kontextes im Hinblick auf den Parlamentarismus zwischen 1960 und 1970 dienten in Algerien und Tunesien haupt-sächlich der Erzeugung eines demokratischen Anstrichs des Systems. Dies zeigt sich in der schwachen Ausgestaltung der parlamentarischen Kontrollrechte aber auch im später zwar zugelassenen, jedoch streng kontrollierten Pluralismus. In den Ländern Algerien und Tunesien kam es jeweils mit den Verfassungsreformen am Ende der 1980er Jahre zu einer erheblichen Aufwertung der Parlamente. Im Laufe der 1990er Jahre wurde das Amt des Premierministers eingeführt. Die Aufwertung der Regierungen respektive deren Regierungschefs ging jedoch
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mit der Installation von zwei Parlamentskammern (Oberhäusern) einher. Durch das Entsen-dungsrecht eines Drittels der Abgeordneten in die Oberhäuser übten die Staatspräsidenten wiederum ein erhebliches Kontrollrecht über die Regierung aus. Gleichzeitig verfügten die Staatspräsidenten weiterhin über wichtige Gesetzgebungskompetenzen. Auch über das Wahl-recht versuchte man von Seiten der Regime in Algerien und Tunesien, Kontrolle über das Wahlverhalten und die politischen Gegner zu behalten. Dies manifestiert sich vor allem in den hohen Formerfordernissen, die etwa von Kandidaten zur Ausübung ihres passiven Wahl-rechts erbracht werden mussten.
All diese Faktoren tragen in den Fällen Algeriens und Tunesien zu einem Gesamtbild bei, dass von hegemonialer Machterhaltung in einem autoritären Umfeld gezeichnet ist. Für Algerien gilt die Eingangsthese also nach wie vor, es handelt sich um ein autoritäres System, das weit davon entfernt ist, mit westlichen Demokratien gemessen werden zu können.
Für Tunesien traf dies jedenfalls bis Ende 2010 zu, wenn auch in einem gemäßigten Umfeld.
Wie sich Tunesien in Zukunft entwickeln wird, ist momentan schwer absehbar, eine neue Ver-fassung, erstellt durch den im Herbst gewählten Übergangsrat, ist noch ausständig.
Für Marokko muss die Eingangsthese zumindest relativiert werden. Die Reformen ab den spä-ten 1980er Jahren dienspä-ten zwar in erster Linie der Erhaltung der monarchischen Prinzips, jedoch war der autoritäre Kontext der monarchischen Herrschaft nie derart eklatant wie dies in den beiden anderen Maghreb-Staaten. Spätestens seit der Verfassungsreform 1992 verfügt das marokkanische Parlament über relativ effektive Kontrollbefugnisse gegenüber der Regie-rung. Seit 1996 gab es auch in Marokko eine zweite Parlamentskammer, die jedoch nicht der Kontrolle des Parlaments durch den Monarchen diente. Vielmehr handelte es sich um eine zweite Vertretungskammer des Volkes, in der verschiedene Berufsgruppen besser vertreten werden konnten. Beide Kammern wurden zudem seit 1996 direkt vom Volk gewählt.
Zu weitreichenden Verfassungsreformen kam es in Marokko schließlich im Jahr 2011.
Marokko bekennt sich seither ausdrücklich und ausführlich in seiner Verfassung zu universel-len Menschenrechten. Erstmals wird die Staatsform in der Verfassung seit 2011 als „parla-mentarisch“ bezeichnet. Ohne Zweifel liegen viele wichtige Gesetzgebungskompetenzen und Kontrollrechte beim Parlament. Der Verfassungsrat wurde in ein Verfassungsgericht umge-wandelt, ein weiteres wichtiges Erfordernis einer funktionierenden Demokratie. Dennoch bleiben dem König nach wie vor erhebliche Einflussmöglichkeiten, zum Beispiel im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren. Er ist diesbezüglich dem Parlament auch keinerlei
Rechen-schaft schuldig. Groß ist seine Einflussmöglichkeit auch im Bereich der Ernennung der Rich-ter und wichtiger StaatsbeamRich-ter.
Für Marokko kann jedenfalls festgehalten werden, dass das Land zwar noch nicht auf dem Niveau einer westlichen Demokratie angekommen ist, von allen nordafrikanischen Ländern ist Marokko jedoch der aussichtsreichste Aspirant, mittelfristig das Ziel der Demokratisierung zu erreichen. Dies zeigt sich auch am internationalen Anklang, den vor allem die Reformen der Verfassung 2011 mit sich brachten.
Abkürzungsverzeichnis
BIP Bruttoinlandsprodukt Bspw beispielsweise
FFS Front des Forces Socialistes FIS Front Islamique du Salut FLN Front de Libération Nationale GIA Groupement Islamique Armeée IWF Internationaler Währungs Fonds MSP Mouvement de la Société pour la Paix OAU Organisation Afrikanischer Einheit PJD Parti de la Justice et du Dévéloppement PSD Parti Socialiste Destourien
RCD Rassemblement pour la Culture et la Démocratie RND Rassemblement Démocratique Africain
UMA Arabische Maghreb Union
UNFP Union Nationale des Forces Populaires
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