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4. Die Legislativ- und Exekutivgewalt in den Verfassungen der unabhängig

4.3 Politische Parteien

4.6.1 Die Entwicklung des parlamentarischen Systems ab 1962

Das formale politische System Marokkos nach der Unabhängigkeit weist sehr starke Ähnlich-keiten mit den Gegebenheiten seiner Nachbarländer auf. Die Verfassungen seit 1962 statteten die Repräsentantenkammer nur mit einigen wenigen gesetzgeberischen Kompetenzen aus.

Gleich dem System in den Verfassungen Tunesiens und Algeriens gab es einige wenige politi-sche Bereiche, deren Regelung über eine überschaubare Auflistung an die Legislative übertra-gen wurde. Die Gewaltenteilung im Staat war nur sehr schwach und formal ausgeprägt. Die Kompetenzzuweisung an das Parlament wurde in den Verfassungen seit 1962 kaum nennens-wert erweitert, so bleiben etwa Bereiche wie die Ausgestaltung des Zivilrechts, des Zollrechts, die Einteilung von Wahlkreisen und internationale Verträge und Abkommen von der Gesetz-gebungskompetenz der Repräsentantenkammer ausgeschlossen. Der reguläre Gang der Gesetzwerdung in allen Verfassungen seit 1962 sieht vor, dass Gesetzesprojekte der Regie-rung, sogenannte projects de lois, den Gesetzesvorschlägen des Parlaments, den sogenannten propositions de lois, vorgehen. Auf Verlangen der Regierung hat das Parlament den Gesetzes-vorschlägen in Teilen oder im Gesamten zuzustimmen, wobei Änderungen und Ergänzungen von Seiten des Parlaments nicht zwingend zu berücksichtigen sind. Die Regierung kann sich darüber hinaus vom Parlament ermächtigen lassen, in Bezug auf bestimmte Gesetzesmaterien über gesetzesgleiche Verordnungen am Parlament vorbei zu regieren. Ähnlich wie in den nachkolonialen Verfassungen Algeriens und Tunesiens sehen die Verfassungen Marokkos seit 1962 vor, dass die Regierung zwischen den parlamentarischen Sitzungsperioden in Form von décret-lois, also ebenfalls im Wege von Verordnungen, regieren kann. Zu Beginn der nächsten Sitzungsperiode waren die in der Zwischenzeit ergangenen Verordnungen dann den Abgeord-neten zur Zustimmung vorzulegen. Gesetze, die im Sinne der Kompetenzverteilung vom Par-lament verabschiedet wurden, bedurften zu ihrer Rechtsgültigkeit der königlichen Verkün-dung in Form eines Dekrets, dem Dahir. Diese Regelung eröffnete dem König die Möglich-keit, vom Parlament erlassene Gesetze zeitlich zu verzögern. Diese Form der Blockade von Gesetzen des Parlaments wurde mit der Verfassungsänderung von 1992 eingeschränkt, indem

Art 23 bestimmt, dass der König innerhalb 30-tägiger Frist derartige Gesetze zu verkünden hat. Unberührt bleibt jedoch jedenfalls das Recht des Königs, über Gesetze der Repräsentan-tenkammer das Volk abstimmen zu lassen. Ebenso konnte der König, ihm nicht genehme Gesetzesentwürfe des Parlaments, der ab 1996 eingerichteten zweiten Parlamentskammer zu einer weiteren Abstimmung vorlegen lassen.128

Im Gegensatz zu den Verfassungsreformen der Nachbarländer Marokkos, wurden die Kon-trollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung im Zuge zahlreicher Verfassungsänderun-gen seit 1962 zumindest formal gestärkt. Alle VerfassunVerfassungsänderun-gen seit 1962 sahen bereits im Ver-gleichs zu Algerien und Tunesien sehr früh die Möglichkeit von Misstrauensanträgen gegen die Regierung vor. Und auch wenn diese Anträge an sehr hohe formelle Hürden geknüpft waren, in Tunesien entstand ein solches Recht der Deputiertenkammer erst mit der Verfas-sungsreform 1976. In Algerien wurde ein solches Recht der Volksversammlung erst 1988 ver-fassungsrechtlich festgeschrieben. Für einen erfolgreichen Misstrauensantrag ist bis heute die absolute Mehrheit der Stimmen aller Parlamentarier notwendig. Im Laufe der Zeit veränderte sich die Anzahl der zur Einbringung nötigen Unterstützerstimmen. Waren es 1962 nur zehn Prozent der Abgeordneten, mussten ab der Reform 1970 ein Viertel der Abgeordneten der Einbringung eines Misstrauensvotums zustimmen. Den Forderungen der Opposition, das Quorum von einem Viertel wieder auf ein Zehntel der Abgeordnetenstimmen zu senken, war bislang kein Erfolg beschieden. Demgegenüber wurden die Kontrollkompetenzen des Parla-ments gegenüber der Exekutive seit Ende der 1980er Jahre mehrfach leicht erweitert. Die mit der Verfassungsreform von September 1992 neu gestalteten Art 59 und 74 sahen eine Art for-melle Einsetzung der Regierung durch das Parlament vor. Zu Beginn einer neuen Legislatur-periode hatte die Regierung das Regierungsprogramm dem Parlament vorzulegen. Das Parla-ment hatte der Regierung dann über eine Abstimmung zum Regierungsprogramm das Ver-trauen auszusprechen oder eben zu verweigern. Verweigerte das Parlament die Zustimmung zum Regierungsprogramm, zog dies den Rücktritt der Regierung nach sich. Auch mit der Ein-führung einer zweiten Parlamentskammer – einem Oberhaus im Jahr 1996 – blieb dieses Recht auf die Vertrauensabstimmung dem Unterhaus vorbehalten. Die Verfassungen von 1962, 1970 und 1972 räumten den Abgeordneten des Parlaments zwar bereits mündliche und schriftliche Anfragerechte an die Regierungsmitglieder ein, die Bereitschaft, diese Anfragen auch zu behandeln, war jedoch überschaubar. Um dieser Praxis zu begegnen, wurde im

Rah-128 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 134

men der Verfassungsänderung aus 1992 der Art 55 ergänzt. Dieser legt nun fest, dass parla-mentarische Anfragen innerhalb von zwanzig Tagen zu beantworten sind. Ebenfalls 1992 ein-geführt wurde das parlamentarische Kontrollrecht der Untersuchungsausschüsse. Doch nach-dem Art 40 festlegt, dass ein solcher Ausschuss nur auf Betreiben der Mehrheit der Parlament-sabgeordneten oder auf Antrag des Königs eingesetzt werden kann, eignet sich dieses Kon-trollrecht nicht sonderlich zur Kontrolle der Regierung durch das Parlament.129

Die Oppositionspartei Kutla erreichte im September 1996 im Rahmen einer Verfassungsneue-rung die Direktwahl des Repräsentantenhauses. Dadurch wurde das Parlament durch Volks-wahlen legitimiert. Diese Neuerung ging jedoch mit einem politischen Kompromiss der Opposition einher. Dem Repräsentantenhaus wurde ab September 1996 eine indirekt gewählte Kammer, ein Oberhaus mit weitreichenden Kompetenzen zur Seite gestellt. Diese Neuerung wurde von Seiten der Regierung und des Königs naturgemäß als Stärkung der parlamentari-schen Institutionen verkauft. De facto führte diese zweite Parlamentskammer jedoch auf Gesetzesebene zu einer Reduktion der Kompetenzen und Initiativrechte des Repräsentanten-hauses. Über dieses Faktum kann auch der Art 81 nicht hinwegtäuschen, der vorsieht, dass von jeweils einem Viertel der Abgeordneten einer der beiden Parlamentskammern der Verfas-sungsrat angerufen werden kann. Dieser hatte dann die Verfassungsmäßigkeit von erlassenen oder zu erlassenden Gesetzen zu prüfen. Auch die Möglichkeit, den Haute Cour, den Obersten Gerichtshof anzurufen, um Regierungsmitglieder wegen Vergehen im Zusammenhang mit ihrer Amtstätigkeit anzuklagen, steht seit 1996 zwar beiden Kammern offen, wenngleich es sich jedoch hierbei um Detailregelungen handelt, die stets an hohe Quorenerfordernisse geknüpft sind. Demgemäß tragen sie nicht besonders zur Erleichterung der parlamentarischen Kontrolle bei. Der im Rahmen der Verfassungsreform 1992 erneuerte Art 35 sollte dem Parla-ment zu mehr Kontinuität verhelfen. Art 35 sah vor, dass fortan die Ausrufung des Notstandes nicht mehr automatisch die Auflösung des Repräsentantenhauses bedeutete. Doch im Gegen-satz zu den Verfassungen von Tunesien und Algerien legt der Art 35 der marokkanischen Ver-fassung kein Auflösungsverbot im Notstandsfall fest. Auch wenn einige Kommentatoren zu einem solchen Ergebnis kommen mögen, de facto kann der König in Marokko nach wie vor, im Notstand und auch außerhalb eines solchen, jederzeit die Auflösung des Repräsentanten-hauses verfügen.130

129 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 135 130 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 135f

In Marokko zeigt sich, dass, obwohl die Legislative recht schwach ausgeprägt bleibt, die poli-tische Opposition durchaus im Stande ist, ihre seit dem Ende der 1980er Jahre größer gewor-denen Handlungsspielräume trotz des autoritären Systems zu nutzen, um ihre politischen Interessen zu verfolgen. Die Oppositionsparteien Pl, USFP und PPS konnten die Anzahl ihrer Abgeordnetensitze im Repräsentantenhaus seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre stetig stei-gern. Nach den Parlamentswahlen von 1993 kamen die oppositionellen Parteien auf 36 Pro-zent der Delegiertensitze. Nach den Wahlen 1977 waren es lediglich 25 ProPro-zent. Diese Stärke wissen die Oppositionsparteien seit dem Ende der 1980er Jahre einzusetzen, um mit Hilfe der spärlichen Kontrollmittel des Parlaments, den politischen Diskurs mit der Regierung voranzu-treiben. Spuren hinterließ der Einfluss der Opposition vor allem im Hinblick auf die Wirt-schafts- und Sozialpolitik der Regierung. Man bediente sich unter anderem der parlamentari-schen Anfragen und Fragestunden. 1990 wirkten Oppositionsparteien im vom König einge-richteten Untersuchungsausschuss mit, dessen Gegenstand die Untersuchung der im selben Jahr stattfindenden Aufstände war. Am 12. Mai 1990 sah sich die Oppositon, zum ersten Mal seit 1964, aufgrund der sozialen Unruhen, die sich nicht zuletzt in der autoritären Staatsfüh-rung gründeten, veranlasst, gegen die RegieStaatsfüh-rung einen Misstrauensantrag einzubringen. Die-ses Vorhaben scheiterte jedoch mit 82 zu 200 Gegenstimmen.131

In Marokko kam es im Zuge einer Verfassungsreform 1996 zur Einrichtung einer zweiten Par-lamentskammer, die, wie in Tunesien, als „Rätekammer“ bezeichnet wird. König Hassan II.

bediente sich zur Rechtfertigung der Einführung der Rätekammer den selben Argumenten, die auch von den Staatsführungen Algeriens und Tunesiens herangezogen wurden. Zum einen sollte der Parlamentarismus als Ganzes eine demokratische Aufwertung erfahren. Zudem war die Etablierung der Rätekammer dazu angedacht, eine bessere Repräsentation regionaler Bevölkerungsschichten zu erreichen.132

De facto hatte die Einrichtung eines Oberhauses in Marokko jedoch vorwiegend machtpoliti-sche Gründe. Sie sollte vor allem einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Kompetenzen des Abgeordnetenhauses (1. Kammer), im Rahmen der Reformen im Laufe der 1990er Jahre, erheblich ausgeweitet wurden. Das marokkanische Oberhaus war, wie in der algerischen Ver-fassung 1996, dazu konzipiert, eine Gegeninstanz zum aufgewerteten Abgeordnetenhaus dar-zustellen. Die Kompetenzen im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren fallen im Vergleich

131 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 136f 132 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 168

zum algerischen Oberhaus weitreichender aus. So ist die marokkanische Rätekammer formal bemächtigt, durch einzelne ihrer Abgeordneten initiativ Gesetzesvorschläge einzubringen.

Darüber hinaus kann auch eine Verfassungsänderung durch die Rätekammer angestoßen wer-den. Gemäß der marokkanischen Konzeption des Gesetzgebungsverfahrens hat die Regierung die Wahl, durch welche Kammer sie Gesetzesprojekte zuerst schleust. Die Kammer, die zuerst über ein Gesetzesprojekt zu beraten hat, bestimmt den Wortlaut der Gesetzestexte, die sodann der jeweils anderen Kammer zur Abstimmung vorzulegen sind. Den Ausschlag bei divergie-renden Abstimmungsergebnissen gibt aber das Unterhaus. Dazu bedarf es jedoch der absolu-ten Mehrheit der Stimmen des Unterhauses.133

Ungeachtet dessen ist die Stellung der Rätekammer im Gesetzgebungsverfahren als durchaus bedeutsam einzustufen. Das Oberhaus nimmt durch die vorbereitende Ausformulierung der Gesetzestexte großen Einfluss auf das letztendlich dem Unterhaus vorzulegende Gesetzeser-gebnis. Die marokkanische Rätekammer ist demnach durchaus dazu geeignet, eine Vielzahl an Interessensgruppierungen, vor allem aus dem ländlichen Bereich und der beruflichen Ver-einigungen, zu repräsentieren. Es kommt zu einer deutlichen Stärkung der Input-Seite der Legislativgewalt.134

Als äußerst bedeutsam können auch die parlamentarischen Kontrollbefugnisse der Rätekam-mer erachtet werden. So hat der Premierminister sein Regierungsprogramm zu Beginn einer Legislaturperiode stets beiden Parlamentskammern vorzulegen. Nur das Unterhaus hat das Recht, dem Premier das Vertrauen zu versagen und das Regierungsprogramm abzulehnen. Art 42 ermächtigt das Oberhaus neben dem Repräsentantenhaus, Untersuchungsausschüsse zur Kontrolle der Regierung einzusetzen. Darüber hinaus können Regierungsmitglieder auf Initia-tive der Rätekammer beim Obersten Gerichtshof wegen Verfehlungen im Amt angeklagt wer-den. Ein Drittel der Mitglieder der Rätekammer können einen Antrag auf ein Misstrauensvo-tum gegenüber der Regierung einbringen, dies ist wohl die herausragendste Kontrollkompe-tenz der marokkanischen Rätekamer im Vergleich zu den Oberhäusern Algeriens und Tunesi-ens. Im Unterschied zum vom Unterhaus initiierten Misstrauensvotums, bedarf es zum Erfolg eines Misstrauensvotums des Oberhauses, lediglich einer Zweidrittelmehrheit anstelle einer absoluten Mehrheit.135

133 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 169 134 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 170 135 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 170

4.6.2 Die Rolle des Staatsoberhauptes

Der marokkanische Monarch nimmt als Staatsoberhaupt im Vergleich der drei Maghrebstaa-ten eine Sonderstellung ein. Der König in Marokko steht faktisch außerhalb jeglicher forma-len verfassungsrechtlichen Institution. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das marokkanische Staatsoberhaupt nicht auch nach formalen Vorgaben mit anderen Verfassungsorganen wie dem Parlament oder der Regierung kommuniziert. Vor allem mit den Verfassungsreformen der 1990er Jahre kam es zu Verschiebungen der Aufgabenzuteilung zwischen den verfassungsmä-ßig eingerichteten Staatsorganen. Auffällig ist, dass sich die Kompetenzzuweisungen der Ver-fassungen ab 1962 bis in die 1990er Jahre nicht tiefgreifend verändert haben.136

Art 16 der Verfassungen ab 1962 ernennen den König zum offiziellen Staatsoberhaupt und zum Oberbefehlshaber des Militärs. Ab der Verfassung 1970 ist er auch offizieller außenpoli-tischer Vertreter des Landes. Wie in den übrigen Maghrebländern Tunesien und Algerien ernennt auch das marokkanische Staatsoberhaupt die höchsten Beamten des Landes sowie die Richter und Gouverneure. Ebenfalls wie in den Nachbarländern kann der König auf seine Initiative hin Volksabstimmungen abhalten lassen und dadurch Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Ihm steht das Recht zu, den Ausnahmezustand auszurufen. Dies hat ähnliche kompe-tenzrechtliche Folgen, wie dies die Verfassungen Algeriens und Tunesiens vorsehen. Dem-nach fallen im Ausnahmezustand sämtliche Legislativ- sowie Exekutivkompetenzen dem Monarchen zu. Der König übt den Regierungsvorsitz aus, er ernennt und entlässt die Regie-rung, bei Bedarf kann er auch das gesamte Parlament auflösen. Die Art 24 der Verfassungen ab 1962 legen fest, dass der König die „Leitlinien“ der Politik einer jeden Legislaturperiode zu bestimmen hat.137

Die marokkanischen Verfassungen haben dem Monarchen seit jeher großzügige Legislativ-kompetenzen zugedacht. So kann das marokkanische Staatsoberhaupt, wie seine algerischen und tunesischen Kollegen, jederzeit die zweite Lesung und Abstimmung über Gesetze, die durch das Parlament erlassen wurden, anordnen. Zusätzlich hat der König das Recht, Gesetze, die in einer zweiten Lesung des Parlaments beschlossen wurden, dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Dies gilt nicht für Gesetze, die im Rahmen einer zweiten Abstimmung eine Zustimmung aller Abgeordneten von zwei Drittel erreichten. Grundsätzlich bedarf es zur

136 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 178 137 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 179

Rechtsgültigkeit eines jeden parlamentarsichen Gesetzes der Verkündung durch königliches Dekret.138