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Die Legislative und Exekutive in den unabhängig gewordenen Maghrebstaaten. Ein rechtshistorischer Vergleich. Diplomarbeit

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Academic year: 2022

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gewordenen Maghrebstaaten. Ein rechtshistorischer Vergleich

Diplomarbeit

Zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister der Rechtswissenschaften

an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von

Herwig ZACZEK

am Institut für Rechtsgeschichte

Begutachterin: Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr.phil. Anita Prettenthaler- Ziegerhofer

Graz, 2012

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Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benützt und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Graz, Juni 2012 Herwig Zaczek

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung... 1

2. Der Maghreb ...2

2.1 Eine begriffliche Annäherung...2

2.2 Eine geographische sowie kulturelle Abgrenzung...2

3. Von der Kolonisation zur Unabhängigkeit ... 3

3.1 Die Kolonisationspolitik Frankreichs... 3

3.2 Algerien...3

3.2.1 Die Okkupation durch Frankreich ... 4

3.2.2 Die Algerienpolitik ... 4

3.2.3 Die Strömungen zur algerischen Unabhängigkeit ... 5

3.2.4 Der algerische Bürgerkrieg ... 12

3.2.5 Die Kabylei ... 14

3.3 Marokko...15

3.3.1 Die marokkanische Monarchie ... 18

3.3.2 Die kulturelle Vielfalt im alltäglichen Leben ... 20

3.4 Tunesien... 21

3.4.1 Von den Osmanen zum Protektorat ... 21

3.4.2 Die Präsidentschaft Bourgiba ... 25

3.4.3 Die Zeit des Ben Ali ... 27

4. Die Legislativ- und Exekutivgewalt in den Verfassungen der unabhängig gewordenen Maghreb-Staaten ... 28

4.1 Demokratie...29

4.2 Parlamentarisches System ...29

4.3 Politische Parteien...30

4.4 Algerien...30

4.4.1 Die Funktion des Parlaments ... 30

4.4.2 Die Rolle des Staatsoberhaupts ... 36

4.4.3 Die formalen Kompetenzen des Regierungschefs ... 38

4.4.4 Überblick ... 40

4.5 Tunesien... 41

4.5.1 Die parlamentarische Entwicklung von 1959 – 2011 ... 41

4.5.2 Die Rolle des Staatsoberhauptes ... 45

4.5.3 Die formalen Kompetenzen des Regierungschefs ... 47

4.5.4 Überblick ... 49

4.5.5 Die Übergangsverfassung von Oktober 2011 ... 49

4.6 Marokko...51

4.6.1 Die Entwicklung des parlamentarischen Systems ab 1962 . . . . 51

4.6.2 Die Rolle des Staatsoberhauptes ... 56

4.6.3 Die Verfassungsreform 2011 ... 57

4.6.4 Die formalen Kompetenzen des Regierungschefs ... 61

4.6.5 Überblick ... 62

5. Vergleich der Legislativ- bzw. Exekutivgewalten der Maghreb-Staaten...63

5.1 Die Legislative...63

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5.2 Die Exekutivgewalt...64

6. Exkurs: Die Entwicklung der Parteienlandschaft und die Wahlrechtsreformen...65

6.1 Die Entwicklung der politischen Parteienlandschaft... 65

6.1.1 Algerien ... 65

6.1.2 Tunesien ... 71

6.1.3 Marokko ... 75

6.2 Das aktive Wahlrecht ... 78

6.2.1 Algerien ... 79

6.2.2 Tunesien ... 81

6.2.3 Marokko ... 82

6.3 Das passive Wahlrecht... 83

6.3.1 Algerien ... 83

6.3.2 Tunesien ... 86

6.3.3 Marokko ... 88

7. Zusammenfassung... 89

Abkürzungsverzeichnis... 92

Literatur... 93

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1. Einleitung

Durch seine geographische Nähe zu Europa bildet der im Norden Afrikas gelegene Maghreb- Raum das Tor zur arabisch-afrikanischen Welt. Geschichtlich war Afrika und insbesondere der Maghreb spätestens im Zuge der kolonialen Unterwerfung des 18. Jahrhunderts eng mit Europa verflochten. Die Maghrebstaaten Algerien, Tunesien und Marokko wurden hauptsäch- lich von Frankreich als Kolonien genutzt, Unterdrückung und wirtschaftlichen sowie ökologi- schen Ausbeutung hinterließen tiefe Spuren in der Entwicklung der drei Länder innerhalb der vergangenen zwei Jahrhunderte. Anhand eines deskriptiv-analytischen Vergleiches soll die Entwicklung der drei nordafrikanischen Staaten seit Erlangung ihrer Unabhängigkeit von Frankreich bis in die Gegenwart beleuchtet werden. Gegenstand der vergleichenden Betrach- tung ist die formale Entwicklung der staatlichen Institutionen im Hinblick auf deren Demo- kratisierungsprozess.

Ausgangspunkt der Betrachtung ist die These, dass die staatlichen Strukturen der Maghreb- länder, nach fast 60 Jahren Unabhängigkeit, und vor allem nach einem mehrere Jahrzehnte andauernden Reformprozess autoritärer Herrschaft, noch nicht am Niveau anerkannter, westli- cher Demokratien gemessen werden können.

Da lediglich die Verfassung Tunesiens aus dem Jahr 1962 und die Verfassung Marokkos aus dem Jahr 1972 in deutscher Sprache verfügbar waren, musste zur Analyse der Entwicklung der Legislativ- bzw. Exekutivgewalt des Maghreb-Raumes auf Sekundärliteratur zurückge- griffen werden.

Der Aufbau der Arbeit gliedert sich in 7 Überkapitel. Nach der Einleitung folgt in Kapitel 2 eine kurze begriffliche Definition des Maghreb-Raumes. Kapitel drei beschreibt den Weg der Maghreb-Staaten in deren Unabhängigkeit Mitte des 20. Jahrhunderts. In Kapitel vier kommt es zum Vergleich der formalen Entwicklung der Institutionen der Legislativ- bzw. Exekutivge- walt. Kapitel fünf liefert eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Eckpunkte der Legis- lativ- bzw. Exekutivgewalt der drei Maghreb-Länder. Kapitel 6 bietet einen Exkurs zu den wichtigsten Reformen des aktiven sowie passiven Wahlrechts seit Mitte des 20. Jahrhunderts sowie eine Darstellung der Entwicklung der Parteienlandschaft seit Erlangung der Unabhän- gigkeit. In Kapitel 7 kommt es zur zusammenfassenden Analyse der Entwicklungen des Maghrebs und zu einem Versuch, einen Ausblick in die Zukunft der staatlichen Entwicklung der beschreibenen Länder zu bieten.

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2. Der Maghreb

2.1 Eine begriffliche Annäherung

Die aus dem Arabischen stammende Bezeichnung Maghreb (Westen, Ort an dem die Sonne untergeht) benennt aus Sicht des islamischen Zentralraums die westlichen Länder, im Gegen- satz zur Bezeichnung Mashrek (Osten, Ort an dem die Sonne aufgeht).

2.2 Eine geographische sowie kulturelle Abgrenzung

Die heutigen Atlasländer, benannt nach dem sie verbindenden Atlasgebirge, Marokko, Tune- sien und Algerien bilden das Kerngebiet des Maghreb-Raumes. Im Zuge der Unabhängigkeit 1960 schloss sich die Islamische Republik Mauretanien der arabischen Liga an, Mauretanien gilt als Verbindung zum schwarzafrikanischen Raum. Marokko und Mauretanien okkupierten nach dem Abzug der spanischen Kolonialeinheiten zwischen 1975 und 1979 weite Gebiete der Westsahara, die vor allem aufgrund von Phosphatvorkommen von Interesse sind.

Marokko beansprucht das rohstoffreiche Gebiet als elementaren Teil seines Territoriums und konnte sich dadurch eine monopolartige Stellung auf dem Weltmarkt für Phosphat sichern, der völkerrechtliche Status der Westsahara ist jedoch bis heute umstritten.1 Im Jahr 1976 pro- klamierte sich die „Demokratische Arabische Republik Sahara“, welche von der Mehrzahl der Mitglieder der OAU (Organisation Afrikanischer Einheit) anerkannt wurde. Der seit 1999 regierende marokkanische König Mohammed VI. führte die Tradition seines Vaters Hassan II. fort, die Saharabewohner (Sahraouis) im Rahmen eines Referendums über ihre völker- rechtliche Zukunft entscheiden zu lassen. Bislang sind jedoch die Abstimmungsmodalitäten wie die Abstimmungsberechtigung sowie ein Termin für das Referendum ungeklärt, sodass es bis dato noch nicht dazu gekommen ist. Wer wahlberechtigt sein soll, ist nicht zuletzt auch deshalb schwierig abschließend zu klären, weil es aus dem „Mutterland“ Marokko erhebliche Zuwanderungsströme von Marokkanern in das Gebiet der Westsahara gab und gibt, sodass die Sahraouis im „eigenen“ Land zur Minorität geworden sind.

Im Unterschied zu den drei Kernländern Marokko, Tunesien und Algerien ist die Zuordnung Libyens zum Maghreb nicht geklärt. Tripolitanien, der bedeutendste weil bevölkerungs- reichste Landesteil ist auf ökonomischer und kultureller Ebene eng mit Tunesien und Algerien verbunden, demgegenüber tendiert das östliche Cyrenaika/Barqa mehr in Richtung Ägypten.2 In der „Union du Maghreb Arabe, UMA“, der „arabischen Maghreb Union“, die seit 1989

1 Karim, Schliephake (2001), 16.

2 Karim Schliephake, Arabische Maghrebstaaten, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 272,München 2001, 16

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besteht, arbeitet Libyen jedenfalls teilweise mit. Bei der UMA handelt es sich um ein völker- rechtliches Abkommen zwischen Mauretanien, Marokko, Algerien und Tunesien, das auf wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit in Nordafrika abzielt.

Gemein ist allen Maghrebstaaten, dass ihr Territorium zu 90 Prozent aus Wüstenflächen besteht. Bis heute stellt die Idee einer Maghrebeinheit eine Vision für die kulturell miteinan- der verbundenen Staaten dar. Auch Ägypten strebt mittlerweile den Beitritt zur UMA an.3

3. Von der Kolonisation zur Unabhängigkeit

3.1 Die Kolonisationspolitik Frankreichs

Nach dem damaligen französischen Präsidenten Jules Ferry lassen sich die Ziele der Kolonial- macht Frankreich im 19. Jahrhundert mit drei Schlagworten skizzieren: „l´économique, huma - nitaire et politique“.4 Primär werden wirtschaftliche Gründe für die Kolonisation vorgebracht.

Der ökonomische Nutzen liegt zum einen in der Ausbeutung und Sicherung von Rohstoffen auf fremdem Gebiet. Diesen hegemonialen Anspruch verteidigten die Franzosen, indem man sich zunächst in Tunesien als Schutzmacht positionierte. Im Jahre 1912 schließlich wurde Marokko in ein französisches Protektorat umgewandelt. In Algerien und Tunesien setzte sich Französisch als Amtssprache durch, während Algerien in drei französische Départements auf- geteilt wurde. Um die Herrschaft über die Bevölkerung zu gewährleisten, war nach Ansicht der Kolonialpolitiker aber auch der „humanitäre“ Aspekt von größter Bedeutung: Die aus Sicht der Kolonialherren „unterentwickelten“ Einheimischen sollten zivilisiert werden, vor allem um Revolten im Zuge des Kolonisierungsprozesses zu vermeiden.5

3.2 Algerien

Die Demokratische Volksrepublik Algerien befand sich mit 132 Jahren am längsten unter französischer Kolonialherrschaft und wurde am 3. August 1962 unabhängig. Mit einer Fläche von 2,3 Millionen Quadratkilometern ist Algerien das größte arabische Land und das zweit- größte auf dem afrikanischen Kontinent.6 Die Bevölkerung besteht überwiegend aus Berbern, wobei eine klare kulturelle Abgrenzung aufgrund einer starken Arabisierung des Landes nicht mehr möglich sein dürfte. Rein berberische Bevölkerungsgruppen (Kabylen, Chaouia, Tua-

3 Schliephake, Arabische Maghrebstaaten, 35.

4 Guy Pervillé, De l´Empire francais á la décolonisation, Paris 1991, 47f

5 Monika Slunsky, Das Problem der Identität des Kolonisierten in „La grande Maison“ von Mohammed Dib, Wien 2010, 5

6 Franz Nuscheler/Klaus Ziemer, Politische Organisation und Repräsentation in Afrika, in: Dolf Sternberger/Bernhard Vogel/Dieter Nohlen/Klaus Landfried Hrsg., Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, Bd. II: Afrika, Zweiter Halbband, Berlin/New York 1978, 355.

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reg) sind allenfalls noch in den kaum zugänglichen Gebirgsregionen und in der Sahara anzu- finden.7 Als Amtssprache fungiert Arabisch. Französisch ist vor allem für den Handel und das Bildungssystem von größter Bedeutung. Im Süden Algeriens dominieren nach wie vor Ber- bersprachen.8

3.2.1 Die Okkupation durch Frankreich

Die Geschichte der Kolonisierung Algeriens im Jahre 1830 ist eine atypische in der Kolonial- geschichte.9 Zu dieser Zeit war der Drang der Europäer nach Kolonien noch relativ wenig ausgeprägt. Erst nach und nach entdeckte man in Frankreich, dass das besetzte Land sowohl zur Nahrungsmittel- als auch zur Weinproduktion gut geeignet war. Siedler nutzten die Gele- genheit, günstig Land zu erwerben und ein bürgerliches Leben zu führen, was ihnen durch das französische Privatrecht in Frankreich verwehrt war. So kam es im Jahre 1830 zur Besetzung Algeriens durch die von exzessivem Nationalstolz erfüllte Armee. Bereits kurze Zeit nach der Besetzung regte sich jedoch Widerstand gegen die Franzosen und deren Besitzanmaßung.

Frankreich stellte zur Überwachung des besetzten Gebiets eigens die Fremdenlegion auf, Algerien blieb zunächst unter Militärverwaltung.10

3.2.2 Die Algerienpolitik

Die algerische Bevölkerung unternahm 1870/71 erneut einen Versuch zum Aufstand gegen die Vereinnahmung durch Frankreich. Die französische Politik stand in dieser Epoche auf dem Standpunkt, es sei notwendig, den Fortschritt und die kulturellen Errungenschaften auch außerhalb Europas zu etablieren und legitimierte so ihre Herrschaft auch in Algerien. Moti- viert waren die laizistischen Parteien der Dritten Republik auch vom Kulturkampf den sie innerhalb Frankreichs führten. Als Konsequenz des Sieges des Fortschritts über die Tradition wollte man jeglichen religiösen Einfluss aus dem öffentlichen Leben und der Gesetzgebung verbannen.11 Da Algerien ähnliche klimatische Voraussetzungen wie das mediterrane Frank- reich bot, kamen viele Einwanderer aus dem französischen Süden, wo zu dieser Zeit eine Schädlings-Plage herrschte und die Weinbauern dort um ihre Existenz brachte. Daneben kam es auch zur Emigration von Gruppen aus Elsaß-Lothringen, für die es inakzeptabel war, unter preußischer Herrschaft zu leben. Schließlich ließen sich auch Spanier und Süditaliener in

7 Franz Nuscheler/Klaus Ziemer, Politische Organisation und Repräsentation in Afrika, 356.

8 Sonja Klinker, Maghrebiner in Frankreich, Türken in Deutschland: Eine vergleichende Untersuchung zu Identität und Integration muslimischer Einwanderergruppen in europäische Mehrheitsgesellschaften, Frankfurt 2010, 83

9 Jürgen Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, Regionenportäts und Länderstudien, Wiesbaden 2011, 214.

10 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 215 11 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 216

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Algerien nieder. All diese Einwanderer erhielten die französische Staatsbürgerschaft, 1870 auch die jüdischen Algerier, die seit Jahrhunderten neben ihren muslimischen Nachbarn leb- ten.12 Zwar fand seitens der muslimischen Algerier eine starke kulturelle wie sprachliche Annäherung an die Franzosen statt, die Kolonialverwaltung jedoch verweigert diesen die Zuerkennung der französischen Staatsbürgerschaft. 1902 erklärte Frankreich den Norden Algeriens zu französischem Staatsgebiet. Es kam zur Koexistenz zweier Personengruppen mit unterschiedlichem Rechtsstatus: Einerseits Franzosen, die mit allen Bürgerrechten ausgestattet waren, andererseits Einheimische, denen diese Rechte weiterhin verwehrt blieben. Die Dépar- tements Algier, Constantin und Oran verfügten über ein im Vergleich zu den übrigen europäi- schen Départements unüblich hohes Maß an Autonomie. Besonders deutlich wurde dies durch die gemeinsame Verwaltung dieser drei Übersee-Départements durch einen Generalgouver- neur. Diese Gegebenheiten führten zu einer realpolitischen Selbstverwaltung durch die Sied- ler. Das Verhältnis zwischen Algeriern und Franzosen kann ähnlich dem System der späteren südafrikanischen Apartheid begriffen werden, beide Gruppen lebten in unterschiedlichen Gesellschafts- bzw. Rechtssphären. Mitte des 20. Jahrhunderts befanden sich schließlich mehr als die Hälfte der landwirtschaftlich gut nutzbaren und fruchtbaren Gebiete in den Händen von europäischen „Colons“. Zwar war es nun auch für die indigenen Gruppen theoretisch möglich, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen und in den öffentlichen Dienst ein- zutreten, jedoch bildete die Voraussetzung hierfür die Unterwerfung unter französisches Fami- lienrecht. Dies bedeutete für den gläubigen Muslim die Aufgabe seiner Identität und stellte somit eine unüberwindbare Barriere dar.13 Die französische Verwaltung griff, wenn man Ein- heimische aufnahm, bevorzugt auf Berber aus der an Algier angrenzenden Kabylei zurück, da diese der französischen Sprache mächtig waren. Die so entstandene Spaltung der Einheimi- schen verhalf den Franzosen jedoch nicht zur erhofften Schwächung etwaigen Widerstandes durch die Unterworfenen, das Gegenteil war der Fall. Die Kabylei gerierte sich später zu einer Art Hochburg des Freiheitskampfes.14

3.2.3 Die Strömungen zur algerischen Unabhängigkeit

Die einheimischen Bevölkerungsgruppen strebten aufgrund ihrer Anpassung an die französi- sche Kultur und Sprache unter Beibehaltung ihrer religiösen Identität eine Gleichstellung in rechtlicher und faktischer Hinsicht an. Diese Hoffnungen stellten sich aber alsbald als trüge-

12 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 216 13 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 216f 14 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 217

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risch heraus. Schon im Ersten Weltkrieg kämpften viele Algerier freiwillig auf Seiten der Franzosen, im Zweiten Weltkrieg schließlich stellten algerische Soldaten 90 Prozent der fran- zösischen Landstreitkräfte, die maßgeblich an der Vertreibung der Achsenmächte aus Nord- afrika beteiligt waren. Dieser Einsatz wurde aus Sicht der Algerier nicht entsprechend gewür- digt.15

Motiviert von der weiter andauernden Diskriminierung durch Frankreich formierten sich Strö- mungen zum Widerstand gegen die Kolonialmacht. Eine dieser Gruppierungen um Ferhat Abbas, einem gelernten Apotheker der der arabischen Sprache kaum mächtig war, sah in Frankreich seine politische Heimat und beschränkte sich darauf, Selbstverwaltung innerhalb des französischen Rechts zu erlangen. Doch trotz des republikanischen Prinzips wurde den Einheimischen weiterhin die französischen Bürgerrechte versagt, was dazu führte, dass sich viele Enttäuschte dem arabischen Nationalismus zuwandten.16 Die Anhänger der Bewegung um Messali al-Hadj verfolgten 1936 mit der Gründung ihrer Plattform ein anderes Ziel: Sie postulierten im Lichte der negativen persönlichen Erfahrungen ihres Anführers im kommunis- tischen Lager Frankreichs ein völlig unabhängiges Algerien. Anders als Ferhat Abbas scheute Messali al-Hadj die Konfrontation mit der Kolonialmacht nicht.17 Konsequenterweise ordne- ten die französischen Behörden im Frühjahr 1945 seine Deportation nach Frankreich an.18 In einem solcherart erhitzten Umfeld kam es im Jahr 1945 in der Kleinstadt Sétif im Zuge einer Feierlichkeit zu Kriegsende zu schweren Zusammenstößen zwischen den Einheimischen und den Siedlern. Die Demonstrationen wurden von der Kolonialverwaltung mit enormer Gegen- gewalt niedergeschlagen, bei der sogar die Luftwaffe gegen Dörfer der Einheimischen zum Einsatz gelangte, es gab hunderte Todesopfer.19 Schließlich wurden den Einheimischen im Jahr 1947 in zivil- und strafrechtlicher Hinsicht die französischen Bürgerrechte verliehen, durch die Einteilung des Wahlkörpers in zwei Gruppen blieb es den Algeriern jedoch weiter- hin verwehrt, auf die Bestellung der Nationalversammlung Einfluss zu nehmen. In der ersten Wählergruppe waren hauptsächlich Algerienfranzosen eingetragen, obwohl diese zu dieser Zeit nur mehr 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, lediglich 13 Prozent der Alge- rier selbst waren in der ersten Wählerklasse zugelassen. In der zweiten Wählerklasse wählten hauptsächlich die Araber und Berber, jedoch verhinderte Wahlbetrug beinahe zur Gänze, dass

15 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 217

16 Philip C. Naylor, Abbas, Ferhat, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North åfrica, 2. Aufl., Detroit 2004, 2ff 17 Philip C. Naylor, Hadj, Messali-al, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North åfrica, 2. Aufl., Detroit 2004, 968f 18 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 218

19 Franz Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, München 1992, 228ff

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Repräsentanten der nationalistischen Parteien den Einzug in die Nationalversammlung gelang.

20 Damit drängte Frankreich auch die Algerier, die sich an die französische Kultur und Spra- che angepasst hatten, in Richtung der muslimischen Opposition und der dadurch erstarkten Muslimbrüderschaft, deren Organisationsstruktur in religiösen Schulen und Moscheen bestand. Ihr erklärtes politisches Ziel bestand in der Unabhängigkeit von Frankreich und in einer strikten Ablehnung jeglicher Form von Kolonialismus und westlicher Lebensweise. Der Zustrom der Muslime zu den Muslimbrüdern wurde durch den Umstand, dass muslimischen Kindern der Zugang zu französischen Elementarschulen verwehrt wurde, verstärkt. Die Kolo- nialmacht stärkte auf diese Weise selbst ihre politischen Gegner.21

Die Voraussetzungen, unter denen Algerien in Richtung Unabhängigkeit gehen sollte , waren denkbar kompliziert, unter den Anhängern der politischen Opposition Frankreichs herrschte lediglich Einigkeit über das Ziel, die Kolonialmacht zu vertreiben, die Organisationsform säkular oder religiös war unklar. Die Sammelbewegung der FLN (Front de Libération Natio- nale) trug ab 1951 den gewaltsamen Widerstand gegen die Franzosen bis in die von Algerien- franzosen bewohnten Viertel der Städte. Sprengstoffattentate gegen französische Einrichtun- gen und Wohngegenden wurden von den kolonialen Sicherheitsbehörden zum Teil mit erheb- licher Gewalt beantwortet. Der bewaffnete Kampf für die Unabhängigkeit hatte begonnen und Frankreich geriet hinsichtlich seiner Algerienpolitik international ins Kreuzfeuer der Kritik 22 Durch den Unabhängigkeitskampf kamen mehrere französische Regierungen zu Fall, 1958 wurde das Ende der IV. Republik besiegelt. Charles de Gaulle, der erste Präsident der V.

Republik realisierte schnell, dass ein Festhalten an Algerien ernsthaft eine stabile Zukunft für Frankreich gefährden würde, wollte aber sicherstellen, dass Frankreich bei der Aufgabe von Algerien die Bedingungen für eine Unabhängigkeit solcherart diktierte, dass Frankreich ohne Gesichtsverlust davon kam.23 Alle Seiten führten den Kampf mit erbitterter Härte fort, Frank- reich erlangte bis 1960 wieder die Oberhand, doch war das Image der Franzosen bereits auch bei ihren Alliierten stark angekratzt, ein weiterer Verbleib in Algerien war politisch nicht mehr haltbar. Für Frankreich gab es auch wirtschaftlich nicht mehr allzu viel zu holen, die Präsenz in Algerien verschlang Unsummen. 1962 schließlich erlangte Algerien die Unabhängigkeit.

Die Ereignisse im Zuge der Unabhängigkeit brachten einen Flüchtlingsstrom von Algerien- franzosen in Gang, für die ein Verbleib im freien Algerien faktisch unmöglich wurde.

20 Franz Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, 229

21 John Ruedy, Algeria, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North åfrica, 2. Aufl., Detroit 2004, 120ff 22 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 219

23 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 220

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Der Weg Algeriens in ein Einparteiregime:

Der Rückzug Frankreichs in Algerien hinterließ in vielerlei Hinsicht ein Vakuum der Eliten und der Wirtschaft. Freie Postionen in Politik und Verwaltung wurden deshalb vorwiegend mit Gelehrten aus dem Raum der Kabylei besetzt, da diese sich zur Zeit der Kolonisation an Frankreich anpassten und auf diese Art Bildung erlangten.24 Die Gruppierung des FLN war gespalten, der bestorganisierte Teil, die Oujda-Gruppe, trug maßgeblich zur Zukunft des unab- hängigen Algerien bei.25 Der FLN wurde zur Staatspartei und ernannte Ben Bella zum Staats- präsidenten. Man orientierte sich am Sozialismus und verfolgte eine Politik der Verstaatli- chung und der Einheitspartei. Führungspositionen in Staatsbetrieben und Administration wur- den mit Personen besetzt, die der Systemsprache Französisch mächtig waren. Es handelte sich hauptsächlich um vormalige Kämpfer, die sich im Rahmen des Unabhängigkeitskampfes ver- dient gemacht hatten. Viele Arbeitssuchende flüchteten nach Frankreich, wo die wiedererstar- kende Wirtschaft händeringend nach Arbeitern suchte. Die Elite profitierte vor allem vom Ölvorkommen im Land. Dergestalt blieb die soziale Kluft als Erbe der Kolonialzeit erhalten.

Der Staat wird bis in die heutige Zeit durch Oligarchen der FLN gesteuert. Für die breite Masse änderte sich im Zuge der Unabhängigkeit kaum etwas.26

Die Zeit der wiedererstarkenden arabischen Kultur:

Während der Jahrzehnte andauernden französischen Kolonialherrschaft entwickelte sich eine zweigeteilte algerische Bevölkerungsschicht. Einerseits die gehobene Mittelschicht und Eli- ten, die der französischen Sprache mächtig waren, ihre Kinder an französischsprachigen Schulen und Universitäten studieren ließen, hauptsächlich aus den urbanen Gegenden stam- mend. Auf der anderen Seite die eher ungebildete Unterschicht, meist fromme Muslime, die mehr aus dem ländlichen Raum stammte oder aufgrund der Landflucht sich in den Slums der Großstädte niederließ. Diese Bevölkerungsgruppe war der französischen Sprache kaum mäch- tig und nahm dementsprechend auch kaum am kulturellen und gesellschaftlichen frankopho- nen Leben teil. Sie war auch auf dem Arbeitsmarkt mehr oder weniger chancenlos. Nach dem Ende der Kolonialherrschaft wendete sich das Blatt erheblich zugunsten der traditionellen ara- bischen religiösen Wertvorstellungen. Die Ulama waren nicht mehr gewillt, Kompromisse zwischen Islam und westlicher Lebensweise einzugehen, dies vor allem aufgrund der Lehren der Muslimbrüderschaft, die Anklang in der Bevölkerung fanden.27 Die Ulama forcierte die

24 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 220

25 John Ruedy, Oujda-Group, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North åfrica, 2. Aufl., Detroit 2004, 120ff 26 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 222

27 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 223

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Islamisierung und forderte den ausschließlichen Gebrauch der arabischen Sprache in Admi- nistration und Bildung. Durch die Unterstützung des Armeechefs Boumedienne konnte sich Ben Bella um das Präsidentenamt durchsetzen. Ben Bella, der von einem erheblichen Perso- nenkult profitierte, machte sich immer mehr politische Ämter zu eigen, das Verhältnis zum ihm ins Amt verholfenen Armeechef begann zu bröckeln. Ben Bella entließ schließlich auch den Innenminister und riss dessen Amt an sich. Mit jedem zusätzlichen Amt positionierte er Vertraute und ihm wohlgesonnene im Staatsapparat. Die Macht Ben Bella's war schier gren- zenlos, es kam zum Militärputsch und der Armeeführer Boumedienne übernahm 1966 das Präsidentenamt.28

Von nun an herrschte über Algerien ein verstricktes Militärkonstrukt. Es handelte sich um Militärs aus frankophonen Bürgerschichten, die ihre militärische Ausbildung hauptsächlich an sowjetischen oder französischen Militärakademien erlangten. Solcherart entstand vielmehr eine Koalition aus verschiedenen Gruppen als eine einheitliche Führungsriege.29 Der FLN ver- lor im politischen Machtspektrum mit der Präsidentschaft Boumedienne's an Einfluss. Wirt- schaftlich nahm Boumedienne Anleihen an den sozialistischen Ländern Osteuropas. Man ver- suchte, Agrarbetriebe zu verstaatlichen und zu sozialistischen Ökonomien umzuwandeln. - Mit mäßigem Erfolg. Besser gelang dagegen das Vorhaben, sämtliche Ölförderbetriebe zu nationalisieren. Dies brachte dem Regime genügend Geldmittel ein, um seine Macht durch eine repressive Staatsstruktur zu stabilisieren. Kulturell ging man den rigorosen Weg einer Arabisierung und bediente somit das Klientel der Ulama und das islamische Milieu. Das abendländische Wochenende wich dem muslimischen, der Arabisch-Unterricht an den Schu- len wurde verstärkt. Damit zeigte man deutlich auf, dass die Zeit der westlich orientierten Bil- dungsschicht und deren assimilierte Kultur zu Ende ging. Die gebildete Schicht, die zu Kolo- nialzeiten noch im öffentlichen Schulwesen ihre Schulzeit absolvierte, war nach wie vor zwei- sprachig – Französisch und Arabisch. Da es im unabhängigen Algerien nun an Arabischleh- rern mangelte, wurden dafür Ägypter – die meisten von ihnen waren Muslimbrüder - herange- zogen, die in Wort, Bild und Lesart der Sprache vorrangig die Schriften des Propheten heran- zogen und interpretierten. Ähnlich wie in Ägypten, Jordanien und im Sudan entwickelten die Muslimbrüder umfängliche karitative Tätigkeiten und steigerten so ihre Präsenz und ihr Anse- hen im Alltagsleben. Besonders eindrucksvoll gelang ihnen dies nach einem starken Erdbe- ben, nachdem die Regierungshilfe vielerorts nicht vorhanden war oder zu spät kam.30 Diese

28 Lyes Laribi, L`Algérie des Généraux, Paris 2007, 31f

29 Isabelle Werenfels, Managing Instability in Algeria: Elites and Political Change since 1995, New York 2007, 32ff, 56 30 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 224

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inoffiziellen Stätten der Religionsausübung etablierten sich hauptsächlich in sozial schwachen Gebieten, radikale Prediger boten den vom hoffnungslosen Alltag frustrierten Algeriern eine radikal islamische Gegenvision.31

Das Regime entfremdete sich mehr und mehr von der Bildungsschicht und der Bevölkerung der Kabylei, wo hauptsächlich Berber lebten. Schließlich kam es bereits 1963, unter der Lei- tung des FLN Gründungsmitgliedes Hocise Ait Ahmed, zum Aufstand der Berber. Später gründete Hocise Ait Ahmed den bis heute als Kabylenpartei bekannten FFS (Front des Forces Socialistes).32 Der FFS richtete sich mit seinem ersten Widerstand gegen die Übergehung von kabylischen Unabhängigkeitskämpfern bei der Erstbesetzung von Posten des jungen algeri- schen Staatsapparats. Im Zuge des Wachstums der regimekritischen kabylischen Opposition unterstrich man von Seiten der Kabylenführer ihren säkularen Zugang zum Staat im Vergleich zum nunmehr übermäßigen religiösen Einfluss.33 Doch obwohl die Stoßrichtung des Regimes hin zur Arabisierung zunächst die Interessen der Ulama stark berücksichtigte, schwand die Unterstützung durch die Ulama dem Regime gegenüber bald wieder. Die starke Zusammenar- beit mit sowjetischen Ländern Osteuropas und der fortschreitende Sozialismus, der sich in Verstaatlichung und Beseitigung privaten Eigentums äußerte, rief unter den Muslimen großen Argwohn und Skepsis hervor, schließlich hat das Eigentum einen wichtigen Stellenwert im Islam. Auch auf dem Gebiet der Infrastruktur versagte die Führung. Das Gesundheitswesen konnte mit dem Bevölkerungswachstum nicht mithalten. Die Planwirtschaft führte zu den aus dem Sozialismus bekannten Effekten. Auch der Wiederaufbau der zum Teil im Zuge des Bür- gerkriegs stark verwüsteten Landstriche und Dörfer kam kaum voran.34

Nach Boumediennes Tod 1979 installierte das „pouvoir“ als seinen Nachfolger Chalid Benje- did und umging damit Boumediennes Kronprinzen Abd al-Asis. Dies besiegelte den Nieder- gang des Oujda-Clans sowohl in Armee als auch in der Staatsführung.35 Unter Benjedids Prä- sidentschaft verschärften sich die ohnehin bereits prekären Probleme des jungen Algeriens.

Frankreich und die Europäische Gemeinschaft reglementierten die Zuwanderung. Zum ande- ren bröckelte die Zustimmung zum Regime, die politische Führung verlor zunehmend an Legitimität. Den jungen Algeriern bedeutete die Gloriole des Unabhängigkeitskampfes nichts mehr. Schließlich brach Ende der 1980er Jahren die vom Ost – Westdenken geprägte Weltord-

31 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 224

32 Philip C. Naylor, Ait Ahmed, Hocine, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North Africa, 2. Aufl., Detroit 2004, 95 33 Isabelle Werenfels, Managing Instability in Algeria, 56ff

34 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 225 35 Lyes Laribi, L'Algérie des Généraux, 43

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nung zusammen, die sowjetischen Staaten befanden sich an ihrem historischen Ende, das Vor- bildsystem des algerischen Regimes war im Begriff, sich aufzulösen. Auf dem Weltmarkt sank der Ölpreis. Damit war Algerien auf gute Bewertungen des IWF angewiesen. Die politi- schen Empfehlungen des IWF (Internationaler Währungsfonds) lauteten gleich wie für die übrige Dritte Welt, nämlich auf Entstaatlichung und Schaffung von Wettbewerb, um eine lebensfähige Wirtschaft zu ermöglichen. Das Chaos war perfekt, als Islamisten die palästinen- sische Intifada zum Vorbild eines Machtwechsels im eigenen Land nahmen. Algerien befand sich auf politischer sowie wirtschaftlicher Ebene in einer handfesten Krise.36 Unter diesem erheblichen Druck nahm das Regime die Privatisierung der verstaatlichten Unternehmungen in Angriff. Typischerweise kamen Regimegrößen und deren Unterstützer zum Zug- sozusagen zum Ausgleich für verlorene Posten in der Staatswirtschaft. Eine kapitalkräftige Mittelschicht, die im Zuge der Privatisierung mitbieten hätte könne, gab es aufgrund der Verstaatlichungspo- litik ohnedies nicht.37 Die Schere zwischen Arm und Reich, dazu das provokante Posieren der Reichen und Privilegierten, sowie die weiter sinkende Lebensqualität trieben die Bevölkerung förmlich in die Arme von Islamisten, die auf ein gut verzweigtes soziales Netz an Billigle- bensmittelläden und Ambulatorien zurückgreifen konnten. Durch Zugeständnisse versuchte das Regime die islamische Opposition ruhig zu stellen, der arabische Sprachgebrauch weiter gestärkt, Orte und Straßen trugen fortan ausschließlich arabische Namen. Das Familienrecht wurde modifiziert und auf eine islamische Basis gestellt. Vor allem der Protest der davon betroffenen gebildeten Frauen wurde im Keim erstickt.38 Dennoch brachte die Politik der Ara- bisierung dem Regime nicht die erhoffte Zustimmung der breiten arabischen Bevölkerung.39 Die islamische Revolution im Iran trug dazu bei, dass die Befürworter eines radikalisierten Islam sich weiter im Aufwind befanden, die Zugeständnisse in Richtung Arabisierung wurde von ihnen als Schwäche der Führungsmächte betrachtet und die allgemeine Krise Algeriens trug das seine dazu bei. Die Islamisten boten der Vielzahl algerischer Arbeitsloser via Satelli- tenfernsehen Perspektiven. Dergestalt braute sich ein sozialer und kultureller Brandherd zusammen, der sich gegen die Bessergestellten richtete. In den Jahren 1985/86 stimmten groß angelegte Aufstände gegen die hohen Lebensmittelpreise auf die Gewalt und soziale Unruhe ein, die das Land in den kommenden Jahren beherrschen sollten. Die Regierung reagierte mit bekannter Gegengewalt. Aus Afghanistan heimgekehrte Guerillakämpfer zogen sich in die

36 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 226

37 Isabelle Werenfels, Obstacles to Privatisation of State-Owned Industries in Algeria, in: Journal of North African Studies, 7. Jg., New York 2002, 1ff 38 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 227

39 Jennifer Noyon, Islam, Politics, and Pluralism: Theory and Practice in Turkey, Jordan, Tunisia and Algeria, Washington D.C. 2003, 117

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Berge zurück und begannen von dort aus, die Macht des Regimes mit gezielten Gewaltakten zu unterwandern.40

3.2.4 Der algerische Bürgerkrieg

Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in den algerischen Partnerländern gab der FNL sein Machtmonopol auf, fortan wurden auch andere Parteien zugelassen. Die wichtigste und bedeutsamste unter ihnen war die FIS, die sich als reine Muslimenpartei darstellte. Die FIS ging aus der bereits 1920 auftretenden Antikolonialbewegung der Ulama hervor.41 Die Füh- rungsspitzen der stärksten Oppositionsbewegung kamen zum Teil aus dem intellektuellen muslimischen Bereich, zum Teil aber auch aus dem Bereich der Prediger der vormals illegalen Moscheegemeinden der Armenviertel Algiers. Die Regierung entschloss sich, die Opposition gewähren zu lassen. Man hoffte, der Machtapparat sei stark genug, um Umbrüche nach Wahlen zu überstehen.42 Dies stellte sich als Trugschluss heraus, bereits 1991 erzielte die neue Oppositionspartei der Muslime einen Erdrutschsieg bei den Kommunalwahlen. Bei den Parla- mentswahlen erlangte die FIS mit 47 Prozent der Stimmen 90 Prozent der Abgeordnetensitze, der FLN erreichte Platz zwei, auf dem dritten Platz folgte der FFS. Das gute Abschneiden des FIS war auf deren signifikanten Oppositionismus zurückzuführen. Der amtierende Präsident Benjedid Chadli erkannte das Ergebnis der Parlamentswahlen an und stellte eine vom FIS geführte Regierung in Aussicht. Doch ein weiteres Mal griff die Armee nach der Macht, und das obwohl kurz zuvor in der Verfassung die Neutralität der Armee festgeschrieben wurde.

Der aufgrund des Mehrheitswahlsystems nötige zweite Wahlgang wurde abgesagt und die Regierungsgeschäfte von einem Rat erledigt, hinter dem die Armee stand. Dies war der Aus- löser für einen lange andauernden Bürgerkrieg.43 In der FIS gab es jede Menge erfahrene Gue- rillakämpfer, die unverzüglich zu den Waffen griffen. In den Städten und in den Bergregionen der Kabylei um Algier tobte der Islamistenterror und die darauf antwortende Gewalt der Regierung. Ziel der Islamisten war alles und jeder, der den Staat repräsentierte: Lehrer, Pro- fessoren, Politiker, Armeeangehörige sowie Polizisten. Kriminelle nutzten das allgemeine Chaos für private Rache- und Raubfeldzüge. Auch Bürgerwehren wurden gegründet.44 Der Bürgerkrieg zerstörte nicht nur materielle Werte wie öffentliche Infrastruktur und Industrie, er hinterließ auch Misstrauen, Angst und Hass der verschiedenen Bevölkerungsgruppen unter-

40 Laribi, L'Algérie des Généraux, 52ff, 57ff

41 Martin Evans/John Phillips, Algeria: Anger of the Dispossessed, New Haven/London 2007, 102ff.

42 Noyon, Islam, Politics, and Pluralism, 118ff

43 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 228 44 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 229

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einander. Findige Geschäftsleute erwarben günstig durch den Krieg entwertete Immobilien und Industrieanlagen. Teile der Islamistenarmee GIA wurden durch die Regierungsseite unter- wandert und zu Terroranschlägen angestiftet, so ließ sich die unverhältnismäßig gewaltsame Repression des Regimes einfacher rechtfertigen.45 Am Beispiel des algerischen Bürgerkrieges lässt sich ein bis heute im subsaharischen Afrika vorhandenes Phänomen beobachten, der Krieg ist für die Streitparteien zum Alltag und für nicht wenige auch zur Lebensgrundlage geworden. 1992 ließ das Militärregime, um sich auch international zu rehabilitieren, Präsi- dentschaftswahlen durchführen, die ein Politiker für sich entscheiden konnte, der bereits in der frühen Nachkolonialzeit in der FLN tätig war, sich jedoch bald ins marokkanische Exil absetzte, da er das Einparteienregime des jungen Algerien von Beginn an ablehnte: Moham- med Boudiaf. Er schien als Garant für einen algerischen Neuanfang besser geeignet zu sein als sein Mitbewerber, Ahmet Bouteflika, der bereits in der Zeit des Präsidenten Boumedienne bedeutende Ämter im Regime bekleidete. Kandidaten der islamistischen Parteien wurden zur Wahl nicht zugelassen. Boudiaf erntete mit seinem Amtsantritt bereits große Vorschusslorbee- ren, er plante die vehemente Bekämpfung der Korruption und die Forcierung der Privatisie- rung. Zur Umsetzung seiner Ideen hatte er aber keine Gelegenheit, bereits im selben Jahr wurde er auf einer Veranstaltung in aller Öffentlichkeit ermordet.46

Boudiaf folgte Liamin Zéroual im Präsidentenamt nach, er wurde durch die Militärs installiert und ließ sich sein Amt auch durch Wahlen, die ihrem Namen kaum gerecht wurden, da die bestehenden Parteien aus Protest nicht teilnahmen, legitimieren. Als politische Plattform diente ihm das neu gegründete RND, Zérual fungierte letztlich lediglich als Strohmann der Militärs. Unter Bouteflika kam es 1999 zu einer Regierung aus Funktionären der RND und der gemäßigt islamischen MSP.47 Im Jahr 2007 fanden Parlamentswahlen statt, bei denen das RND fast in der politischen Unbedeutsamkeit endete. Während die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 ihrem Namen noch einigermaßen gerecht wurden, bemühte man bei den Prä- sidentenwahlen im Jahr 2009 eine Verfassungsänderung, um die dritte Amtsperiode des lang- jährigen Präsidenten Bouteflika zu ermöglichen. Die Wahl wurde begleitet von erheblicher Propaganda, die von den staatlich kontrollierten Medien ausging. Die säkularen Parteien sowie der Benhadj, der Führer der nach wie vor verbotenen FIS, riefen auf, die Wahlen zu boykottieren. Indessen bemühte sich die Regierung, scheinbare Gegenkandidaten zu finden, um zumindest nach außen hin den Anschein demokratischer Wahlen zu wecken. Jedoch

45 Werenfels, Managing Instability in Algeria, 48 46 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 230

47 Frédéric Volpi, Democracy in Algeria: Continuity and Change in the Organisation of Political Repressentation, in: Journal of North African Studies, 5. Jg., Nr. 2, 2000, 25ff

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wurde akribisch darauf geachtet, ernstzunehmender Konkurrenz das politische Leben schwer zu machen, man verlangte von diesen Kandidaten, nachzuweisen, sofern sie vor 1942 geboren waren, sich am Freiheitskampf beteiligt zu haben. Falls nach 1942 geboren, forderte man den Beweis, dass niemand aus dem Elternhaus von der französischen Kolonialherrschaft profi- tierte oder diese gar unterstützte.48 Die Machtverhältnisse blieben wie zur Zeit der Einpartei- enherrschaft der FLN unklar, dies vor allem aufgrund der faktisch nicht vorhandenen Macht und Kompetenzabgrenzung zwischen Armee und politischer Führung. Die Machtkämpfe innerhalb der Armee wurden seit Ende der 1970er Jahre wiederholt durch Militärputsche nach außen zur Schau gestellt, die Armee unterstrich ihre Stellung im Machtgefüge durch das wie- derholte Installieren von Präsidenten, die den Streitkräften genehm erschienen. Jedoch konnte sich der Präsident seit der Jahrtausendwende als Spitze des Machtgefüges etablieren.49 In Algerien verhält es sich heute ähnlich wie in Ägypten, bevor der Präsident im Zuge des arabi- schen Frühlings zu Sturz kam: das Militär stützt den Präsidenten und limitiert gleichzeitig dessen politischen Bewegungsradius. Dies muss auch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass Algerien seit Ende des Bürgerkriegs von den Vereinigten Staaten von Amerika als Part- ner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus akzeptiert und zum Teil auch benötigt wird. Die Militärs wollen heute als moderne Streitkraft wahrgenommen werden. Schließlich hat man moderne Kriegsführung in Zusammenarbeit und durch Unterstützung der USA gelernt.50

3.2.5 Die Kabylei

Die Kabylei ist die Heimat von etwa zwei Millionen berberischen Algeriern. Doch schon zur Zeit der Kolonialherrschaft strömten Kabyler, ursprünglich ein armes traditionelles Bergvolk , auf der Suche nach einem höheren Lebensstandard und Bildung in die Großstädte Algeriens.

Auch kulturell orientierten sich viele Kabyler immer schon stärker in Richtung Frankreich, an die zwei Millionen Kabylen leben noch heute in Frankreich, Frankreich gilt als Brücke nach Europa. Nicht wenige gebildete Kabylen erlangten durch Geschäftsbetätigung auch innerhalb Algeriens einen ansehnlichen Lebensstandard. Die politische Plattform der Kabylei war der 1963 gegründete und später im Zuge des Einparteiregimes verbotene sozialdemokratische FFS. Im Jahr 1989 spaltete sich die FFS unter Führung des Arztes Said Sai aus Protest gegen die zunehmende Arabisierung auf, wodurch die RCD entstand. Im algerischen Bürgerkrieg

48 Youcef Bouandel, Algeria's Presidential Election of April 2009, in: Mediterranean Politics, 14. Jg., 2009, 247ff

49 Ahmed Aghrout, Policy Reforms in Algeria: Genuine Change or Adjustments?, in: Yahia A. Zoubir und Haizam Amirah-Fernandéz Hrsg., North Africa: Politics, Region, and the Limits of Transformation, London/New York 2008, 34ff

50Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 231

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unterstützte die RCD die politische Führung im Kampf gegen die Islamisten verlangte aber politische Gegenleistungen. Einerseits die Abkehr vom islamisch geprägten Familienrecht und die damit einhergehende Ungleichbehandlung der Frauen, ein Forcieren der Privatisierung zur Förderung der Wirtschaft und das Anerkenntnis des Vorhandenseins einer dreigeteilten algeri- schen Kultur, französisch – berberisch und arabisch.51 Das RCD steht in engem Kontakt mit der kabylischen Diaspora in Frankreich. Keinerlei Sympathien hegt man heutzutage mit der FFS sowie jeglichen anderen Parteien in Algerien, die das herrschende Regime stützen. Nach- dem die politischen Forderungen der Kabylen durch das herrschende Regime weitgehend ignoriert wurden, kam es 1980 zu erheblichen Unruhen, dabei stand für die Kabylen nicht bloß die Anerkennung ihrer Sprache zur Amtssprache im Mittelpunkt, sondern vielmehr auch die Kritik an der Tendenz zur totalen Arabisierung und Verleugnung der multikulturell gepräg- ten Geschichte des Landes.52 Ursprünglich waren die meist bilingualen Kabylen auf dem Arbeitsmarkt im Vorteil. Die im Zuge der Arabisierung radikale Umstellung jeglicher Bil- dungsinstitutionen auf die arabische Sprache gereichte vor allem den Kabylen zum Nachteil, Kinder wurden nicht mehr zweisprachig erzogen und somit schwanden auch ihre Möglichkei- ten, durch Emigration nach Frankreich Arbeit zu finden. Während es im übrigen Algerien ver- hältnismäßig ruhig blieb, begehrte die Kabylei weiterhin gegen das Regime auf, auch wenn die staatliche Unterdrückung allgegenwärtig war. Einige islamische Parteien tendieren dazu, Englisch zumindest als Fremdsprache zu lehren, damit das ganze Land über ein einheitliches Kommunikationsmedium verfügt und die französische Sprache als Relikt der Kolonialherr- schaft nicht allgegenwärtig bleibt.53

3.3 Marokko

Auch in Marokko, dem zweitgrößten Land des Maghreb stellen Berber mit 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung eine Minderheit dar. Wie im Rest Nordafrikas stellt der Islam auch in Algerien die Gemeinsamkeit der verschiedenen Völker dar. Mit dem 16. Jahrhundert etablier- ten sich die Alawiten in der Herrscherfunktion, diese gehen ursprünglich auf den Kalifen Ali zurück. Die Alawiten lebten hauptsächlich von der Piraterie, doch schon früh wurden ihnen von den Europäern Handelskonzessionen abgezwungen was dazu führte, dass dem Sultan erhebliche Einkünfte verloren gingen und dieser mehr und mehr dazu überging, Steuern im eigenen Land einzuheben. Dies verlangte die Verzeichnung des Landbesitzes in Steuerkatas-

51 Azzedine G. Massour, Rassemblement pour la Culture et la Démocratie, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of the Modern Middle East & North Africa, Bd. 3, 2. Auflage, Detoit/New York/San Francisco 2004, 1905

52 Laribi, L'Algérie des Généraux, 49ff

53 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 233

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ter, doch die Zuweisung kollektiven Eigentums zu privaten Individuen widersprach der Jahr- hunderte alten Tradition der Berber. Diese begehrten gegen das Sultanat auf, dies führte zur ständigen Konfrontation des Sultans mit den Berbern. Modernere Militärtechnik im 19. Jahr- hundert ermöglichte eine Machtstabilisierung des Sultans. Doch dafür benötigte man erhebli- che Geldmittel, die man durch Auslandskredite aufbrachte, die kreditgebenden Länder erlang- ten im Gegenzug zur Sicherstellung weitere Handelskonzessionen.54 Ab 1880 gelang es den Franzosen, das Einverständnis des Sultans zum Landerwerb durch Franzosen zu erlangen.55 Da sich viele Stämme der Politik des Sultans widersetzten, kam es nie zu einer stabilen zen- tralen Führungsmacht des Sultanats. Vor allem Städte an den Handelsrouten sowie die Ulama fügten sich der Politik des Sultans nicht und begehrten immer wieder gegen den Sultan auf.56 Das Protektorat

Seit den 1880er Jahren eigneten sich die europäischen Großmächte immer mehr afrikanische Gebiete in Form von Kolonien an. Frankreich drängte das Sultanat in einen Protektoratsver- trag, was im Ende der Kolonisation gleich kam. Nachdem die Macht des Sultans im Inneren äußerst instabil war, erreichten Frankreich und Spanien letztlich auch ihr Ziel. Nachdem die Engländer sehr daran interessiert waren, im östlichen Mittelmeerraum freie Hand zu haben, nahm London wohlwollend zur Kenntnis, dass sich Frankreich im nordwestafrikanischen Marokko mehr und mehr etablierte. England und Frankreich einigten sich im Streit um Marokko und Ägypten. Frankreich einigte sich alsbald auch mit Spanien über die Aufteilung Marokkos in eine spanische sowie eine französische Zone. Eine Einigung mit Deutschland stellte sich zwar als weitaus komplizierter dar, letztlich stand Marokko jedoch ab 1914 unter spanischem und französischem Protektorat, wobei der flächenmäßig größte und wirtschaftlich wertvollste Teil den Franzosen zufiel. Fortan war es für den Sultan einfacher, gegen rebellie- rende Stämme vorzugehen, schließlich hatte er nun die französischen Kolonialtruppen hinter sich, was die Berberstämme jedoch nicht davon abhielt, sich weiterhin nicht dem Sultan zu unterwerfen. Die Machtkämpfe nahmen erst mit Beginn des zweiten Weltkrieges ein Ende, und auch wenn Frankreich ausschließlich aus eigenem Interesse eine einheitliche Staatsmacht etablierte, gereichte dies auch dem Sultan zum politischen Vorteil und Überleben. Das Land der nunmehr besiegten Berberstämme wurde enteignet und den getreuen Stammesführern zum Erwerb angeboten, dies bereicherte die Stämme ungemein und festigten die Loyalität

54 Mohammed Khallouk, Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas, Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden 2008, 99ff 55 Werner Ruf, Marokko, in: Dieter Nohlen und Franz Nuscheler Hrsg., Handbuch der Dritten Welt, Bd. 6, Hamburg 1983, 143f

56 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 236

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dem König gegenüber. Die Stammesführer dienten dem König als Befehlsmittler zur Erfül- lung der Anweisungen der Kolonialmacht. Die Stammesführer ihrerseits konnten dafür ihre Angehörigen mit Ämtern und Arbeitsplätzen in der Administration versorgen. Eine derartige Entwicklung konnte in Algerien nicht stattfinden, da das enteignete Land dort französischen Siedlern zufiel. Die Protektoratspolitik unterschied sich grundlegend vom Vorgehen der Fran- zosen in Algerien: Hubert Lyautey sollte die Berberaufstände als erster Generalresident nie- derschlagen. Lyautey sah es als seine Aufgabe an, die historisch gewachsenen Herrschaftss- trukturen zu belassen, er wollte in Marokko die Ordnung und finanzielle Gebarung aufrechter- halten. Gleichzeitig verfolgte er das Ziel, das Land vor einer Kolonialisierung zu schützen. Er strebte damit die Selbstverwaltung Marokkos unter seiner Aufsicht an. Die militärische

„Befriedung“ des Landes sollte dennoch zielstrebig vonstatten gehen57 Konflikte mit den wei- terhin selbstbewussten Berberstämmen waren an der Tagesordnung. Angeführt von Abd el- Krim rebellierten 1921 die Stämme des Rif. Abd el-Krim stellte, ganz nach europäischem Vorbild, eine Streitmacht zusammen und vertrieb mit diesen in den Jahren darauf mittelfristig die spanischen Truppen. Aufgrund seiner Erfolge schlossen sich ihm immer mehr Stämme der Region an, zeitweilig entstand dadurch sogar ein Rif-Staat. Man schwächte sogar die Truppen auf französischem Gebiet in Marokko, doch war der politische Zusammenhalt der Rif- Stämme zu lose, als dass sich die Gruppierungen um el-Krim als einheitliches Machtgefüge zu etablieren vermochten.58 El-Krim kämpfte jedoch mit großer Verbissenheit gegen das Pro- tektorat, sodass es Spanien und Frankreich nur gemeinsam, unter Einsatz von Luftwaffe und Giftgas, gelang, die Rebellion niederzuschlagen, zum Teil dauerte dies bis 1934.59

In 40 Jahren Protektorat erlangte Marokko einen erheblichen Wirtschaftsaufschwung, franzö- sische Investoren wurden durch günstiges Land angelockt, Infrastruktureinrichtungen wurden geschaffen. Dies diente zwar hauptsächlich dem effizienteren Abtransport der Wirtschaftsgü- ter und Rohstoffe in Richtung Frankreich, ermöglichte aber auch das Entstehen eines wohlha- benden Mittelstandes in den Hafenstädten Marokkos. Doch auch diese Modernisierung auf vielen Ebenen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Marokko unter kolonialer Herrschaft befand. Die Nachfolger Lyauteys eine Zeit des forscheren Vorgehens in Marokko ein, französische Interessen wurden rücksichtsloser verfolgt. Dies äußerte sich vor allem darin, dass es französischen Siedlern sehr einfach gemacht wurde, Land zu erwerben.60 Und

57 Franz Ansprenger, Die Auflösung der Kolonialreiche, dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 13, München 1966, 90f 58 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 237

59 C. R. Pennell, Khattabi, Muhammad Ibn Abd al-Karim, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North Africa, 2. Auflage, Detroit 2004, 1394ff.

60 Ansprenger, Die Auflösung der Kolonialreiche, 92

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so kam es zu Entwicklungen, die geradezu typisch für Länder, die sich unter Protektoratsherr- schaft befanden, waren. Es bildeten sich kulturell heterogene oppositionelle Gruppierungen.

Die kulturelle Vielfalt kam der Kolonialmacht gelegen, die verschiedenen politischen Aus- richtungen verhinderten, da dieser Umstand eine breite gemeinsame Opposition verhinderte.

Doch es war weniger der französische Lebensstil, den die breite Masse ablehnte, sondern viel- mehr die Zwangsverwaltung und deren kulturellen und ökonomischen Benachteiligungen für die Einheimischen.

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde das Land zum strategischen Ausgangspunkt zur Planung der Vertreibung der Achsenmächte aus dem nördlichen Afrika.61 Das Protektorat wurde nach und nach zur Kolonie. Um diesen Entwicklungen entgegenzutreten, formierte sich 1944 die Einheitspartei Istiqlal. Sie vereinte Intelektuelle Linke wie Rechte mit der Forde- rung, das Protektorat zu beenden. Der Sultan, Mohammed V, der die Geschehnisse in den Kolonialgebieten sensibel beobachtete, stellte sich ab 1952 aktiv auf die Seite der anti-kolo- nialen Opposition. Zunächst begegnete die Kolonialführung diesen Entwicklungen mit aller Härte: Den Sultan wurde samt Familie ins Zwangsexil geschickt. Doch war die anti-koloniale Bewegung bereits zu stark, als dass man sie von Seiten der Kolonialmacht hätte einfach igno- rieren können. Der Sultan galt als Leitfigur der Freiheitsbewegung, die Ereignisse überschlu- gen sich und der Freiheitskampf hatte begonnen. In Frankreich gelangte man unweigerlich zum Schluss, dass man Marokko aus dem Protektorat entlassen müsse, um nicht in ein weite- res algerisches Debakel zu laufen. Man holte den Sultan aus dem Exil zurück, um mit ihm die Bedingungen für das Ende des Protektorats auszuhandeln. Im Jahr 1956 erlangte Marokko seine Unabhängigkeit, der Sultan Mohammed der V. nahm den Königstitel an.62

3.3.1 Die marokkanische Monarchie

Als die französischen Verwaltungsbeamten und Kolonialtruppen aus dem Land 1956 abzogen, wurden ihre Plätze in der Landesverwaltung durch Marokkaner gefüllt, die sich an die Spra- che und Kultur der Franzosen angepasst hatten und dadurch der Bildungsschicht angehörten.

Der König wusste stets die Balance zwischen den Bevölkerungsschichten zu halten, die unter- schiedlicher nicht sein konnten. Die Monarchie in Marokko schafft bis heute den Zusammen- halt eines Landes, das nicht zuletzt durch große Stadt-Land-Unterschiede geprägt ist. Europäi- sche Modernität prallt auf ländlichen Traditionalismus, und doch konnte sich Marokko als

61 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 238 62 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 239

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einheitlicher Staat bis heute erhalten, dem König kommt dabei bis heute die wichtigste politi- sche und kulturelle Führungsrolle zu.

Mit dem Abzug der Franzosen gingen auch die Machtstrukturen verloren. Fortan musste sich der König seine Macht und Legitimation verdienen, indem er den Stämmen materielle Vor- teile zukommen ließ. Von den in den Städten organisierten Parteien und Gewerkschaftsver- bänden wurde der König respektiert und toleriert, doch gab es durchaus auch anti-monarchi- sche Strömungen, ein Teil der politischen Landschaft sah die Monarchie als nicht mehr zeitge- mäßes überkommenes Relikt an. Politisch am bedeutsamsten war die Antikolonialpartei Isti- qlal, deren Ziel, die Unabhängigkeit Marokkos mit 1956 eingetreten war. Fortan näherte sie sich stark dem Palast an, was vom linken Rand der Partei keineswegs begrüßt worden war, man verlangte mehr wirtschaftliche Aktivität des Staates und – dem Zeitgeist entsprechend – eine klare Distanz zur amerikanischen Außenpolitik. Es kam zur Spaltung und Gründung der Partei UNFP, die von Hassan II. kompromisslos aufgelöst wurde. Mit ausschlaggebend für die strikte Negierung jeglicher politischer Opposition war die Nachbarschaft zu Algerien, das sich nach der Unabhängigkeit dem Sozialismus der Zeit anschloss. Der Palast ließ ganz im Stil der Sowjetunion das gesamte Land bespitzeln um oppositionelle Bewegungen im Keim zu ersti- cken. Die Machtstrukturen ähnelten zu dieser Zeit sehr stark den algerischen Verhältnissen.

Der Monarch hielt sich mit großer Mühe und Hilfe des Militärapparats an der Macht. Wie in Algerien zu dieser Zeit kam es aus Machtstreben wiederholt zu Putschversuchen aus den eige- nen Reihen. Der spektakulärste Putschversuch war jener des Innenministers Mohammed Ouf- kir im Jahre 1972.63

1975 machte König Hassan II. einen wichtigen strategischen Zug. Um weitere Staatsstreiche zu verhindern, ließ er das Gebiet der Westsahara, das seit Abzug der spanischen Truppen in das marokkanische Staatsgebiet eingegliedert ist, vom Militär besetzen. Auf diese Weise sollte ein Gefühl des nationalen zusammenhangs erreicht werden. Das Gebiet der Westsahara ist seit jeher durch Kleinkriege umkämpft, die Wüstenbewohner fordern Autonomie, das Problem ist bis zum heutigen Tage nicht abschließend gelöst. Als sich zu Beginn der 1990er Jahre die gesamte Weltpolitik im Umbruch befand, drängten die westlichen Partnerländer Marokkos auf demokratische Strukturreformen. 1996 stimmte der König einer Verfassung zu, die zu einer sanften Parlamentarisierung führte. Realpolitisch bleibt der König bis heute das zentrale poli- tische Element. Dabei ist der König in Marokko anderen orientalischen Führern deshalb unge- mein im Vorteil, weil er seine Legitimation auf die behauptete Abstammung aus der Familie

63 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 240

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des Propheten stützt. Zum ersten Mal wurde die Regierung 1998 von Parlamentsabgeordneten gebildet. Die Besetzung der für den Monarchen heiklen Ministerien, wie dem Innen-, Jusitz-, Außen- und Religionsministerium, behielt sich Hassan II. selbst vor.64 Die Zusammensetzung der Regierung aus den unterschiedlichen politischen Strömungen spiegelt die Präferenzen des Königs wieder. Der König lässt von Zeit zu Zeit die Regierung umbesetzen, sofern der Palast es für nötig erachtet, um seine Interessen gewahrt zu sehen. Dabei wird im Grunde keine Par- tei in der Besetzung benachteiligt, solange sie sich an die vom König ausgegebenen politi- schen Spielregeln hält. Auch eine moderat-islamische Partei wie die PJD gehört heute zum politischen Spektrum des Landes. Eine radikalere politische Gruppierung für Gerechtigkeit rund um Abd al-Salam Yassin, die auch offiziell gegen die Monarchie auftritt, hat bislang nicht um die Zulassung als offizielle politische Partei angesucht.65

3.3.2 Die kulturelle Vielfalt im alltäglichen Leben

Im Unterschied zum benachbarten Algerien spielt der kulturelle und sprachliche Unterschiede zwischen Muslimen und Berbern in Marokko keine dominierende Rolle. Da die Berber in Marokko ohnehin nicht einen derartigen Bildungsstand wie die Kabylen in Algerien vorzu- weisen hatten, und zudem im abgelegenen Bergland beheimatet waren, kamen sie nicht ein- mal in die „Verlegenheit“ hochrangige Ämter in Anspruch zu nehmen.66 Die Sprachpolitik des Regimes ist relativ tolerant, wenngleich auch hier Hocharabisch wie in Algerien die Sprache des Schul- und Universitätssystems darstellt. Dies ist auch als symbolischer Akt des Monar- chen an die muslimische Bevölkerungsschicht zu werten, schließlich leitet der König seine Legitimation von der Abstammung aus der Familie des Propheten ab. Die Perspektivlosigkeit vieler Marokkaner der jüngeren Generation eröffnet den islamistischen Parteien und Vereinen sowie den Muslimbrüder auch in Marokko gute Möglichkeiten zur Rekrutierung von Mitglie- dern. Sie bieten Perspektiven, die mit einer fundamentalen Islamisierung einhergehen. Im Zuge des Palästinenserkonflikts musste das Land wohl oder übel der Islamisierung im öffent- lichen Leben Raum geben. Seit Ende der 1990er Jahre versucht man auch, ein dem westlichen nachempfundenes Familienrecht zu etablieren. Im Jahr 2004 kam es zu einer umfassenden Familienrechtsreform, die von heftigen Protesten begleitet wurde. Insgesamt sind die realpoli- tischen Auswirkungen dieser Gesetzesänderungen bislang überschaubar.67 Der Übergang vom

64 Gregory White, The „End of the Era of Leniency“ in Morocco, in: Yahia A: Zoubir und Haizam Amirah-Fernandéz Hrsg., North Africa: Politics, Region, and the Limits of Transformation, London/New York 2008, 90ff

65 White, The „End of the Era of Leniency“ in Morocco, 94

66 Michael J. Willis, The Politics of Berber (Amazigh) Idenity, in: Yahia A. Zubir und Haizam Amirah-Fernandez Hrsg., North Africa: Politics, Region and the Limits of Transformation, London 2008, 233f

67 White, The „End of Leniency“ in Morocco, 99

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Protektorat in die Unabhängigkeit gestaltete sich weitaus unproblematischer als in Algerien.

Das Königreich Marokko zeigt, dass orientalische Monarchien in der heutigen Zeit durchaus bestandsfähig sein können. Dazu bedarf es einer sorgfältigen Politik des Königs, einer Politik der Balance zwischen den Bevölkerungsgruppen, den traditionellen und modernen Sektoren, ohne diese gegeneinander aufzubringen. Es bedarf jedenfalls auch stetiger parlamentarischer Reformen und einer sorgsamen Beobachtung der Entwicklung und Reaktion auf die Gesell- schaft.68

3.4 Tunesien

3.4.1 Von den Osmanen zum Protektorat

Tunesien, dass an der geographischen und kulturellen Grenze zwischen dem Orient und Europa liegt, wurde im 7. Jahrhundert von den Muslimen erobert, bis dahin war es christli- ches afrikanisches Land. Durch die Rückeroberungszüge der Christen standen zumindest die Küstengebiete Tunesiens im 16. Jahrhundert wieder unter christlicher Herrschaft. Die geogra- phische Lage an der Meerenge und die Nähe zu Italien begünstigten schon zur Antike Schiffs- verkehr und Handel, was zu einer kulturellen Verschmelzung orientalischer und europäischer Kultur in Tunesien führte. Dieser Effekt wurde durch den Umstand, dass die großen arabi- schen Machtzentren weit entfernt waren, noch verstärkt. Trotz der Nähe zu Europa und obwohl die Mehrzahl der Tunesier von den Berbern abstammt, passten sie sich stärker an die arabisch-islamische Kultur an als etwa in den beiden anderen Maghrebstaaten, Marokko und Algerien. Dies ist auch den geographischen Landschaftsverhältnissen Tunesiens geschuldet, im Gegensatz zu den Gebirgen in Algerien und Marokko gibt es in Tunesien keine Rückzugs- gebiete, die den Berbern Schutz vor dem enormen arabischen Einfluss boten. In Tunesien kommuniziert die Landesbevölkerung hauptsächlich auf Arabisch. Die Osmanen ließen ihren Stammhaltern in Tunesien weitgehend freie Hand in der Beherrschung des Gebietes, auch in Tunesien war die Piraterie für die Regenten ein einträgliches Geschäft, der Hafen in Tunis war zu diesen Zwecken geradezu prädestiniert. Der Bey von Tunis begann im 19. Jahrhundert das Land nach westlichem Vorbild strukturell zu modernisieren.69

Bereits 1861 trat eine Elementarverfassung in Kraft, der jedoch noch keine wirkliche realpoli- tische Bedeutung zukam. Die Geschichte Tunesiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts ähnelt der jener der übrigen nordafrikanischen islamischen Staaten sehr stark. Der Bey

68 George Joffe, Morocco's Reform Process: Wider Implications, in: Mediteranean Politics, 14. Jg., 2009, 151ff 69 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 243f

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und die Machthaber des Landes lebten ganz im europäischen Stil, genossen teure Konsumgü- ter und pflegten einen aufwändigen Lebensstil. Hinzu kam aufwändiges Militärgerät. Dies alles wurde durch Schulden im europäischen Ausland finanziert und führte bereits 1869 zu einem derart hohen Schuldenstand, dass Tunesien gezwungen war, die Hoheit über seine Finanzen an Italien, Großbritannien und Frankreich abzutreten. 1881 schließlich zwang Frankreich den tunesischen Bey, aufgrund der desaströsen Finanzlage Tunesiens, zur Übertra- gung der Hoheitsrechte im Bereich Finanzen, Verteidigung und Außenpolitik. Die Errichtung des französischen Protektorats 1883 war danach nur mehr Formsache. Zum tatsächlichen Herrscher über Tunesien wurde der französische Generalresident, und auch wenn tunesische Verwaltungsstrukturen bestehen blieben, wurden diese doch so stark von Kolonialbehörden überlagert, dass dem Bey lediglich die Rolle einer Marionette der französischen Politik ver- blieb. Die Geschäftstüchtigkeit der Tunesier kam den Interessen der Franzosen dabei sehr ent- gegen. Frankreich nutzte das Protektorat effizient zu seinem wirtschaftlichen Vorteil. Man gründete Banken und Wirtschaftsbetriebe, das Agrarland wurde ausgeweitet und hauptsäch- lich von französischen und italienischen Siedlern zum Anbau von Oliven und Weizen genutzt, um dann nach Europa zu exportieren. Auch die Rohstoffvorkommen, wie Phosphat und Eisenerz, wurden wirtschaftlich genutzt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten etwa 90.000 Siedler aus Italien und Frankreich in Tunesien, die französische Sprache wurde flä- chendeckend als Handels und Wirtschaftssprache angenommen. Die tunesische Bevölkerung, deren kulturelle Identität durch sowohl arabische als auch europäische Einflüsse entstanden ist, passte sich ohne größere Widerstände an die nunmehr europäischen Umstände an. Es ent- stand eine gut gebildete arabische Bürgerschicht in den urbanen Gebieten, und nicht unüblich für diese Zeit begann sich die Arbeiterschaft in Gewerkschaften zu organisieren. Doch die weltoffene Bevölkerung Tunesiens empfand die Protektoratsherrschaft als Diskriminierung und die gläubige muslimische Bevölkerung suchte sich mehr und mehr nicht nur gegen die Zwangsverwaltung zur Wehr zu setzen, sondern störte sich auch an der zu starken Verwestli- chung und Verwässerung der arabischen traditionellen Lebensweise.70

Im Jahre 1911 kam es erstmals zu schweren Massenprotesten, nachdem durch tunesische Behörden ein muslimischer Friedhof zu Agrarland für Siedler transformiert worden war, im Zuge dieser Proteste wurde von den eingreifenden französischen Sicherheitstruppen ein tune- sisches Kind getötet. Durch diesen Vorfall mobilisierten sich zwei unterschiedliche Gruppie- rungen in der Bevölkerung, einmal die assimilierten Tunesier, die gegen die koloniale Bevor-

70 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 245

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